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Die Stalinallee. Ein Bauwerk des realen Sozialismus

Ein beeindruckendes Zeugnis der vergangenen Wirklichkeit des realen Sozialismus ist die ehemalige Stalinallee in Berlin. Heute, in post-stalinscher Zeit, ist sie nach dem prä-stalinschen Karl Marx benannt und steht damit in der Spannung dieser beiden großen Namen. Auch das Nachdenken über Geschichte, Bedeutung und Ästhetik von Karl-Marx- und Stalinallee kommt um diese Spannung nicht herum.

Die Spannung von Marx und Stalin ließe sich als der Konflikt zwischen einer Utopie gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit einerseits und ihrer staatsterroristischen Pervertierung andererseits ausbuchstabieren. Die Oktoberrevolution brach soziale Verfestigungen auf, durch deren Risse die Marxsche Utopie kurz junge Triebe schlagen konnte. Sie führte zu geistig-kulturellen Öffnungen und legte Experimentierfelder frei, die durch den Revisionismus Stalins dann bald wieder verschlossen und verdeckt wurden. Soll diese Entwicklung in der Architektur verschlagwortet werden so wurde der frühsowjetische Konstruktivismus vom Sozialistischen Klassizismus verdrängt. So wie die Person Stalins, so könnte dann auch die nach ihm benannte und im Stil des Sozialistischen Klassizismus erbaute Allee für die gesellschaftliche und ästhetische Brutalität eines Sozialismus stehen, der sich die Seele des Humanismus aus der Brust gerissen hat.

Der Konstruktivismus kann als die Ästhetik des Marxschen Humanismus verstanden werden. Die klaren und deutlichen Strukturen des Konstruktivismus lassen sich als Analogien einer für das Menschenwohl organisierten und geplanten Wirtschaft lesen. Die konstruktivistischen Bauten wollen keine überwältigende Fassade und kein betörendes Blendwerk sein, sondern sind einer Gesellschaft verpflichtet, die sich selbst transparent ist und sich frei bestimmt. Im Konstruktivismus soll nicht der pompöse Luxus der Wenigen herrschen, sondern humane Funktion für die Vielen. All diese Errungenschaften werden vom Sozialistischen Klassizismus revidiert. Gegen sozialen und ästhetischen Avantgardismus werden um einer nationalen Tradition willen dunkle Schatten des Zarismus auf die Fassaden projiziert. Die Rückkehr von Prunk und Ornament steht für eine neue soziale Elite von Parteikadern. Der Makel dieser gesellschaftlichen Rückentwicklung zeigt sich ästhetisch in einer unbeholfenen Applikation von anachronistischen Schmuckelementen auf eine von ihnen eigentlich emanzipierte Funktionsfläche und damit für einen Mangel in der Kohärenz des Ganzen. Die politisch-sozialen Verwerfungen des Stalinismus werden so architektonisch-ästhetisch sichtbar.

Allerdings lässt sich die Ästhetik der Stalinallee auch anders deuten. Der Konstruktivismus beispielsweise ist in der Stalinalle nicht einfach getilgt, sondern eher werden klassizistische und konstruktivistische Strukturelemente in ihr ununterscheidbar. Die Fassaden feiern nicht einfach einen klumpig-reaktionären Protz sondern haben auch etwas mondän beschwingt Modernes. Die Stalinallee ist eine riesige Wohnanlage aber keine Wohnkaserne. In ihr wohnt man nicht in uniformer Kasernierung sondern in der Eintracht sozialer Selbstbestimmung. Sie demonstriert eine paradox scheinende Gleichzeitigkeit von entspannter Gelassenheit und gespannter Entschlossenheit für den Sozialismus. Die Gelassenheit zeigt sich etwa im weit geöffneten Straßenverlauf, den platzähnlichen Gehwegflächen und daran, dass die Gebäude mit ihrem extrovertierten Temperament auch über Seiten sensibler Diskretion verfügen. Die gelassene Zwanglosigkeit  der Allee steht dafür, dass sich die Menschen vom Imperativ des Marktes befreit wissen. Ökonomisch-politische Selbstbestimmung schließt jedoch auch Verfehlungen und Konflikte mit ein. Im Sozialismus herrschen keineswegs schon paradiesische Zustände und deshalb fehlen der Allee Elemente idyllischer Verspieltheit zugunsten von pragmatischer Entschiedenheit und Entschlossenheit die sich in den triumphalen Dimensionen der Gebäude zeigen. So steht die Stalinallee in der Spannung von Utopie und Wirklichkeit, zwischen den Extremen von eschatologischer Schwärmerei und ideenlos abgehärtetem Realismus. Zwischen diesen Widersprüchen kann die Stalinallee als Architekturwerdung des realen Sozialismus verstanden werden, der mit leerer Spekulation so wenig zu tun hat wie mit stumpfer Kalkulation.

Freilich gibt es symbolische Nachklänge des vorsozialistischen Luxus. Besonders fallen die klassizistischen Säulen auf, die ihrerseits auf die Tempel der Antike anspielen. Diese wiederum führen mit den Rudimenten floraler Formen, die sich an den Gebäuden entdecken lassen, auf den arkadischen Mythos, mit dem der Sozialismus als Utopie durchaus – wenn auch fern – verwandt ist. Anders als ein bürgerlicher Individualismus mit seinen historistischen Zierbauten ergeht sich die realsozialistische Alle jedoch nicht in ornamentalistischer Träumerei und pastoraler Einsamkeit. Vielmehr macht sie klar, dass Luxus nicht ohne Nüchternheit und Schlichtheit zu realisieren sein wird und das Glück des Einzelnen nicht unabhängig und jenseits von der Gesellschaft. Anstelle utopisch-schöngeistiger Phrase steht sie für reale humane Tat. Wie die Turmdächer am Frankfurter Tor der Allee, wird das Gold eines Zeitalters als Spitze auf einem durch gemeinsame Mühe errichteten Bau aus Stein und nicht auf den Zinnen eines solitär erdachten Luftschlosses angebracht.

Die auf Verwirklichung bedachten Beschränkungen des Utopischen sind keineswegs borniert, so wenig wie die utopischen Inspirationen illusionär sind. Als Bauwerk des realen Sozialismus steht die Stalinallee für einen Realitätssinn der sich gegen überspreizte Erlösungsphantasien richtet und zugleich für prinzipienfesten Aufbruchsgeist der sich gegen resignierten Pragmatismus wendet. Sie steht so für eine neue Ästhetik der Freiheit. In ihr ist das Schöne nicht länger Privileg, sondern vergesellschaftet und deshalb auch ohne die autoritäre Perfektion des Exklusiven. Diese Ästhetik ist in der realsozialistischen Allee mit all ihren Spannungen, Unvollkommenheiten, ihren Provisorien und Ambivalenzen nicht eine hermetisch geschlossene theoretische Konzeption sondern ästhetische Realität, die für Interpretation, Kritik und Entwicklung offen steht. Sie ist enthusiastisch durchdrungen von Ansprüchen gesellschaftlicher Mündigkeit und Partizipation aller Menschen. Wenn sich in der Allee daher ein emphatischer Sinn für das Große zeigt, so ist er vor diesem Hintergrund demokratisch und kosmopolitisch gemeint und nicht totalitär.

Vielmehr reflektieren die gewaltigen Dimensionen der Allee, dass sich die realsozialistischen Plan- und Distributionsapparate zu gesellschaftlichen Institutionen objektivieren und damit durchaus entfremdete Instanzen sind. Die Stalinallee ist das ästhetische Monument eines gesellschaftlichen Großprojekts mit all seinen Entfremdungserscheinungen. Entfremdung ist üblicherweise ein Menetekel für die Gefahr des Selbstverlustes. In den Verfremdungen, die mit der institutionellen Verwirklichung des Sozialismus einhergehen, verliert sich jedoch nicht das Selbst, sondern die beengende Ausschließlichkeit seiner Vereinzelung. Die ästhetische Atmosphäre der Stalinallee lässt erfahren, dass der freie Mensch nicht jenseits von gesellschaftlichen Einrichtungen steht. Vielmehr bewährt sich der freie Mensch als politischer Mensch, also dadurch, dass er mündig gesellschaftliche Einrichtungen mitgestaltet. Damit entfremdet er sich zwar an eine überindividuelle Objektivität, die jedoch von der absoluten Vorherrschaft der Marktmacht befreit wurde. Die Entfremdung des Selbst ist im Sozialismus daher mittelbar auch eine Reflexion des Selbst; sein Verlust sein Erhalt, weil sich die grundsätzliche Antithese von Individuum und Gesellschaft gelöst hat. Die Distanz der Entfremdung dient hier nicht der Herrschaft, sondern führt dazu, dass man befähigt wird, sich sinnvoll und autonom zu der Gesellschaft zu verhalten, in der man lebt. Freilich fordert diese Gesellschaft immer wieder zur mühevollen Auseinandersetzung auf und verhindert, dass die wachen Sinne der Weltoffenheit und des Interesses betäubt und das Selbst im traumlosen Schlaf der Privatexistenz ruhigstellt wird.

In der ästhetisch-metaphysischen Tiefe der Stalinallee kann man noch heute das ferne Ringen um eine befriedete Menschheit schallen hören. Deshalb ist sie bei aller Verfremdung aufregend und weckt und befähigt das humane Interesse der Interpretation auch über die Distanz ihrer gelegentlich abweisenden Selbstsicherheit hinweg. Anders wäre die Allee so kühl und langweilig wie die sterile Bedeutungslosigkeit vieler zeitgenössischer Großbauten, deren nichtssagende Opulenz ihre metaphysische Leere verdecken soll und deren Glasfassaden notdürftig kaschieren, dass in ihnen kein Fenster zu einer anderen Welt offen steht.

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