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Carl Sternheim – Ein vergessener „Zaungast des Fortschritts“

Am Ende des berühmten Aphorismus Sur l’Eau (Nr. 100) aus den den Minima Moralia von Theodor W. Adorno heißt es:

Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt er erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wie Maupassant und Sternheim haben dieser Intention zum Ausdruck verholfen, so schüchtern, wie es deren Zerbrechlichkeit einzig verstattet ist.

In der mir bekannten, ohnehin sehr spärlichen, Sekundärliteratur zu den Minima Moralia, von einigen vielleicht nicht zu Unrecht als Adornos philosophisches Hauptwerk angesehen, fehlt jeder Verweis auf Carl Sternheim, den Adorno hier zweifellos meint, dem von 1878 bis 1942 lebenden Essayisten und Schriftsteller von Romanen und Dramen. Es ist auch nicht so, dass man um Sternheim und sein Werk wissen müsste, um den Aphorismus zu verstehen. Dennoch frappiert es und macht es neugierig, dass Adorno hier einen heute völlig in Vergessenheit geratenen Autoren an so prominenter Stelle lobend hervorhebt, in einem Atemzug mit dem großen Guy de Maupassant nennt.

Von diesem Fragezeichen getrieben machte ich mich an die Recherchearbeit und führte mir einige Schriften von Sternheim zu Gemüte. Ein weiteres Mal hat sich der Geheimtipp, zur Erweiterung und Vertiefung des eigenen Bildungshorizonts einfach den Referenzen in den Werken der großen Philosophen, und insbesondere Adornos, nachzugehen, bestätigt. Der Benn-Entdecker und Kafka-Förderer Carl Sternheim ist zu Unrecht vergessen.

Sternheims Abstieg in die Bedeutungslosigkeit begann wohl mit Ausbruch des 1. Weltkriegs. Bereits vorher war er in zahlreichen satirischen Texten als vehementer, scharfer und sprachlich ungeheim beeindruckender Kritiker der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs in Erscheinung getreten. Man kann ihn durchaus als deutsches Pendant zum Österreicher Karl Kraus ansehen. Sein Hass auf Deutschland ging sogar so weit, dass er bereits 1912 nach Belgien emigrierte, wo er 1942 auch starb (trotz seiner jüdischen Abkunft und dem Umstand, das seine Werke im Nationalsozialismus natürlich verboten waren eines natürlichen Todes). Er blieb auch dahingehend konsequent, dass er, anders als so viele Intellektuelle und Künstler, nicht in die allgemeine Kriegsbegeisterung 1914 einstimmte, sondern von Anfang an als vehementer Kritiker von Krieg und Militarismus in Erscheinung trat. Dies mag auch der Hauptgrund sein, warum ihn Adorno an dieser Stelle erwäht. Jedenfalls brachte es ihm viel Ärger an, wie er in seinen Essays selbst immer wieder beklagt. Seine Stücke wurden teilweise ausdrücklich verboten, teilweise wollte ihn schlicht kein Verlag drucken und kein Theater spielen. Sternheim war im Reich zur ‚persona non grata‘ geworden, davon erholte er sich auch während der Weimarer Republik, die er von Anfang an verachtete, nicht.

Dabei muss betont werden, dass Sternheims Werke nicht so sehr politisch radikal sind. Er versteht sich eher in der expliziten Nachfolge Stirners und Nietzsches als dezidiert unpolitischen Vertreter des Geistes gegen die Zumutungen der Alltagswelt. Genau so scharf wie die Bürger und Reaktionäre kritisiert er die Proletarier und Kommunisten, denen er Verrat an ihren eigenen Idealen vorwirft. Er ist dezidiert Antimarxist, weil er in Marx nichts weiter als einen deterministischen Fortsetzer Hegels sieht. Zwar bewundert er radikale Kommunisten wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, doch das anscheinend eher aus einer ästhetischen Position heraus: Er bewundert ihren Mut, gegen alle ‚Rationalität‘ einer höheren geistigen Mission zu folgen. Im Umkehrschluss wirft er allen Bürgern von links bis rechts vor, im Namen des ‚Rationalismus‘ alles Individuelle und Authentische aus der Lebenswelt auszurotten. Alle Qualitäten würden zu Gunsten einer Vergötzung der Quantität nivelliert (Sternheim rekurriert hier bei aller Marx-Kritik doch deutlich auf Marx‘ Kritik des Geldes als universellem Gleichmacher), der Kultus der Quantität habe letztendlich zum Weltkrieg geführt.

Inhaltlich kann man Sternheim so als direkten Vordenker von Adorno, Horkheimer und Co. betrachten. Ich möchte an dieser Stelle auf seine großen kulturkritischen Essays, aus denen ich insbesondere Kampf der Metapher! (1917/18), in dem er sein Verständnis realistischer, antimetaphorischer Literatur erläutert, Die deutsche Revolution (1918), eine schneidende Kritik an den Halbheiten der Revolution von 1918, und Berlin oder Juste milieu (1920), eine scharfe Abrechnung mit dem Preußentum, die sich teilweise 1 zu 1 auf das heutige Deutschland beziehen lässt, verweisen. Sternheim grenzt sich dabei auf literarischem Gebiet von Naturalismus wie Idealismus gleichermaßen ab. Der Naturalismus (insbesondere der Gerhart Hauptmanns) sei nichts weiter als eine letzten Endes gefällige Spiegelung der Realität des deutschen Kleinbürgers. Umgekehrt kritisiert er aber auch eine idealistische Kunst, in der alle realen Widersprüche ausgeklammert bleiben. In Kampf der Metapher! betont er insbesondere die sprachkritische Funktion der Literatur:

Gottfried Benn ist der wahrhaft Aufständische. Aus den Atomen heraus, nicht an der Oberfläche revoltiert er; erschüttert Begriffe von innen her, daß Sprache wankt und alle Bürger platt auf Bauch und Nase liegen.

Deutsche Welt, die in Worten lebt, von denen jedes, falsch gebildet, an allem Heutigen in phantastischer Weise vorbeigreift, gilt es vom Keller aus neu aufzubauen. Das heißt: nicht mit des Zeitgenossen Sprache macht er sich über dessen Unarten und Allzumenschliches lustig, sondern gibt aus der Notwendigkeit der Stunde allem Wort neuen heutigen Sinn, daß der Mensch, Kaufmann, Journalist und Soldat, der es noch in alter Weise weiterspricht, auf einmal unerhört altmodisch und komisch ist, man ihn überholt und im Bratenrock von anno dazumal sieht. Daß er und seine Moral, Ideale, Urteile und hehrsten Ziele wie in Anführungsstrichen daherkommen. Sie überhaupt noch zu begreifen, nimmt man sie bilderbogenhaft historisch.

Sternheim selbst hat eine solche prominent Sprachkritik in der sicherlich von seinem expliziten Vorbild Gustave Flaubert (Wörterbuch der Gemeinplätze) inspirierten Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie versucht, von der allerdings leider nur die ersten ersten paar Seiten existieren, da er das Projekt, wie er selbst sagt, aus Mangel an Mitarbeitern abbrechen musste.

Weiter heißt es zu seiner Haltung:

Der politische Gegner und die Zensur haben Recht mit ihrem augenblicklichen Widerstand. Nur sollten sie ihn auf den unter der Metapher und im Faltenwurf verschminkten Gegner ausdehnen. Denn wie alle Kunst bricht auch die Dichtung für den Menschen „höhere Forderungen“ nie und unter keinen Umständen eine Lanze, erzieht, erhebt und verbessert nicht. An seiner Wirklichkeit hat sie nichts auszusetzen und wahrhaftige Welt ihm nicht zu verekeln.

Anstelle der uns angewiesenen Erde soll kein Paradies sie „dichten“. Sichtbar Vorhandenes soll nur am rechten Ende packen, krüde, daß nichts Wesentliches fehlt, und es zu Formen verdichten, die der Epoche Essentielles späteren Geschlechtern festhalten.

Keinem Lebendigen soll der Dichter das einzig lohnende Ziel, eigener, originaler, einmaliger Natur zu leben, damit verstellen, daß seit ewigen Zeiten klischierten Melodien er „höhere Menschheit“ vorharft, die diejenigen geringschätzen, die mit mir eine vorhandene wirklich kennen und mit Inbrunst lieben.

In der Vorrede zu seinem Lustspiel Die Hose schreibt er diese Auffassung pointierend:

Sieben Komödien schrieb ich von 1908 bis 1913. Die letzte, die des Vorkriegsjahres Namen trägt [1913 eben; PS], zeigte, wohin in aller Einfalt des Bürgers Handel gediehen war. Vom Dichter gab es nichts, nur noch von Wirklichkeit hinzuzusetzen.

Das Problem an einer solchen Literatur ist selbstverständlich, dass sie durch ihre gewollte Aktualität vor dem Veralten nicht gefeit ist. Wie ich bereits angedeutet habe, erscheinen mir aber selbst Sternheims tagespolitische Essays von geradezu beunruhigender Aktualität zu sein. Sternheim, der Begriffe wie „Halbbildung“ schon vor dem 1. Weltkrieg verwendet, sollte als einer der wenigen, die bereits sehr früh von Stirner und Nietzsche her inspirierte Kulturkritik mit einem kapitalismuskritischen Impuls verbanden, endlich als wichtiger Vordenker der „Frankfurter Schule“ anerkannt werden.

Als ein Kunstwerk Sternheims möchte ich noch beispielhaft auf das 1921 in Darmstadt uraufgeführte Theaterstück Der entfesselte Zeitgenosse verweisen. Das Stück war schon bei der Aufführung ein totaler Flop, es ist anscheinend seitdem nie mehr aufgeführt worden. Die Handlung des Stücks nimmt sich in der Tat ein wenig seltsam aus: Eine junge, anscheind im Krieg verwaiste Millionärin namens Klara lebt auf einem Schloss zusammen mit zwei Dienstboten und einem abstrusen Gefolge aus fünf Freiern, die um ihre Hand anhalten. Die fünf Freier bilden einen Querschnitt dessen, was Sternheim als „juste milieu“, heute würde man vielleicht sagen: „die Mitte“, bezeichnet. Vertreter des Establishments, verschiedener Berufe und politischer Lager, die nun freilich allesamt verarmt sind. Es wird schnell klar, dass sie alle nur eines im Sinn haben: Klaras Geld und ihr (repräsentatives) Äußeres. Dies ist nun auch Klara selbst klar und sie hat keine Lust, sich mit irgendeinem der fünf Männer zu verheiraten, ruft zur Lösung der Situation sogar einen Arzt zur Hilfe, da sie sich für krank hält. Zugleich tritt Klette auf, ein junger Mann, der ehemals Jura studiert hat, nun eine Tischlerlehre gemacht hat und Deutschland, wenn nicht gar Europa, so schnell wie möglich verlassen will. Er hat zufällig Klaras Tagebuch gefunden und bringt es ihr nun zurück. Als Dank darf er einige Nächte im Schloss verweilen. Die Freier wollen nun herausfinden, ob er in dem Tagebuch gelesen und so Informationen herausgefunden hat, die nützlich für sie sein könnten. Doch das hat er offensichtlich nicht.

Klara löst nun die Situation auf ziemlich perfide Weise: Bei einem gemeinsame Bootsausflug mit den Freiern und Klette stürzt sie sich bewusst von der Rehling ihrer Jacht in den See. Der einzige, der ihr nachspringt, ist Klette, obwohl der gar nicht richtig schwimmen kann. Glücklicherweise werden beide von einem Angestellten Klaras gerettet.

Das Stück endet damit, dass die Freier entrüstet das Schloss verlassen. Klara hat sich in den „Zaungast“ (so einer der Freier über ihn) Klette verliebt, doch der hält sie für nicht besser als die Freier, genauso kalt, oberflächlich und berechnend, und will schnellstmöglich das Weite suchen. Der Dienstbote überzeugt ihn allerdings davon, Klara eine Chance zu geben. Am Ende sind beide ein glückliches vereintes Liebespaar.

Das Schlechte an dem Stück ist offenkundig das geradezu ein wenig kitischige Happy End samt der Glorifizierung der „wahren Liebe“ und ebenso die Vorhersehbarkeit, mit der dieses eintritt. Es trägt zudem die Widmung „Deutschland jungen Mädchen zugeeignet“, wodurch die moralische, geradezu pädagogische Intention des Stücks mehr als offensichtlich ist.

Der Herausgeber von Sternheims Werken, Wilhelm Emrich, schreibt dazu:

Diese Widmung drückt deutlich die dichterische Absicht Carl Sternheims aus: die Heldin befreit sich nicht nur aus allen konventionellen romantischen Liebesvorstellungen, sondern auch aus der Umkehrung dieser Vorstellungen, die durch den Haß gegen die Kommerzialisierung der Liebe durch das Bürgertum entstanden ist: Nüchternheit, psychoanalytische Aufklärung usw. Sie gelingt durch den kompromißlos sich selbst bejahenden „Entfesselten Zeitgenossen“ [gemeint ist eben Klette; PS] zur vollen Realisierung ihrer Liebe. Diese positive Intention des Werkes mit der ekstatischen Schlußvision eines seiner selbst bewußt gewordenen Liebespaares ist von der zeitgenössischen Kritik bis heute nicht verstanden worden. Darin mag die Erklärung für die unbegreifliche Tatsache zu suchen sein, daß dieses bedeutende Werk trotz seiner scharfen Konfrontation von Bürgerkritik und positiver Liebe bis heute den ihm gebührenden Platz auf der Bühne nicht gefunden hat.

Sternheim selbst hat das Stück sehr geschätzt und es als den deutlichsten Ausdruck seiner positiven, Gott und die Welt bejahenden Haltung verstanden.

Dieses Kommentar zeigt bereits auf, dass die eigentliche Thematik des Stücks bis heute von aktueller Relevanz ist: Wie ist erfüllte Liebe jenseits von Romantik und „Realismus“ möglich?

Wenn man sich die konkrete Durchführung vor Augen hält, erscheint das Stück weniger kitischig, als man denken möchte. Klette wird keinesfalls als überlegener Held vorgestellt. Er verhält sich in gewisser Weise einfach nur ’normal‘: Er ist zu zwischenmenschlicher Spontanität fähig und hat ein gewisses ’natürliches‘ Moralverständnis. Verwundernswert ist ja nicht der Umstand, dass er das Tagebuch ungelesen zurückbringt (denn wen interessiert schon, wie er selbst sagt, die Lektüre des Tagebuchs von einer völlig fremden Person?), sondern die Verwunderung, ja geradezu: Verärgerung, der Freier darüber und ihr Verdacht, auch Klette handele in Wahrheit nur aus Berechnung. Auch, dass er bereit ist, zur Rettung eines anderen Menschen sein Leben zu opfern sollte ja eigentlich ein ganz gewöhnlicher ‚menschlicher‘ Impuls sein (und mehr sagt Klette auch selbst nicht).

Umgekehrt wird berechnendes Verhalten auch nicht als eindeutig schlecht dargestellt. Klaras Verhalten ist ja in der Tat berechnend und zwar in geradezu grotesker Art und Weise. Andererseits drückt es auch ihre echte Verzweiflung ob ihrer eingezwängten Lage aus.

Es geht hier also eben weder um Romantik noch um ‚Realismus‘ (erst recht: Naturalismus), sondern um jenes gefährliche ‚dazwischen‘, das Sternheim in dem Stück ausloten möchte. Es ist weder negativistisch noch optimistisch, sondern behandelt realistisch die Frage nach der Möglichkeit einer richtigen Liebe im Falschen. Aus meiner Sicht ist ihm das durchaus gelungen.

Dazu nocheinmal der Hausgeber:

Einsicht in die realisierbare Möglichkeit, die Gesellschaft menschenwürdiger zu formen, kann nur derjenige besitzen, der Bewußtsein und „Mut zu sich selbst“ hat, der selber nicht hörig wurde den nivellierenden Prinzipien der Gesellschaft, jenem sogenannten „Juste Milieu“, das überall herrscht, in den obersten, mittleren und untersten Schichten. Diese realisierbaren Möglichkeiten jedes einzelnen auf jeder gesellschaftlichen Stufe hat Sternheim in höchst differenzierter Weise durchexperimentiert[.]

Mit dieser Haltung des „Mut zu sich selbst“ ist nicht zuletzt auch eine frühe, die spätere Kritik der Antipsychiatriebewegung vorwegnehmende, Psychologie-Kritik verbunden. Nicht zuletzt karikiert wird nämlich der herbeigerufene Professor, der auf Klaras Besorgnisse nur mit gebildet klingenden Floskeln zu antworten weiß und alles spontan-emotionale Verhalten als pathologisch abtut, sie etwa am Ende unbedingt von ihrer entstandenen Liebe zu Klette therapieren will (was sie glücklicherweise dankend ablehnt).

In unserer Zeit der konsequenten Nüchternheit einerseits, der vollkommen leeren pseudoromantischen Phrasendrescherei andererseits, wirkt jemand wie Sternheim, der sich weder mit bürgerlicher Nüchternheit noch bürgerlicher Romantik abfinden wollte, geradezu verblüffend radikal und aktuell. Radikal vielleicht gerade, weil er sich nicht mit einem abgebrühten Pessimismus der Verzweiflung bescheidet – der praktisch dann doch nur wieder zu jedem Unheil fähig ist. Seine Wiederentdeckung steht an.

(Nachbemerkung: Dieser Artikel wurde erstveröffentlicht auf dem Blog Café Noir.)

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