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Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels

Über das Scheitern eines autonomen Tutoriums

 

Who the fuck is Guy Debord? – Eine kleine Einführung in den Situationismus

 

Wenn ich ein autonomes Tutorium anbiete, hat das in der Regel drei Hauptgründe (außer den offensichtlichen materiellen): Zum einen möchte ich mich mit den behandelten Theorien selbst vertieft auseinandersetzen und das Tutorium dafür als Anstoß nutzen, zweitens möchte ich mich mit Leuten austauschen, die diese Theorie auch spannend finden, zum dritten habe ich dazu noch eine politische Motivation, die darin besteht, die behandelte Theorie bekannt zu machen. Bei dem autonomen Tutorium, das ich im Wintersemester am Fachbereich 10 anbot, überwiegte jener politische Aspekt bei Weitem: Die Theorie Guy Debords ist selbst bei gesellschaftskritisch interessierten Kommiliton_innen kaum bekannt, obwohl sie meines Erachtens eine der wichtigsten kritischen Theorien des 20. Jahrhunderts darstellt. Daran wollte ich etwas ändern.

Guy Debord entwickelte seine Theorie im Rahmen der Arbeit der Gruppe der Situationistischen Internationalen (SI). Dies war ein Zusammenschluss aus politisch radikal revolutionär ausgerichteten Künstlern und Theoretikern 1)Man darf bei der SI wirklich einmal guten Gewissens die männliche Form verwenden – Frauen spielten in ihr nur eine untergeordnete Nebenrolle., der Ende der 50er Jahre aus der Lettristischen Internationale (LI) hervorging. Die LI zielte, im Anschluss an die Avantgarden vor dem 2. Weltkrieg (Expressionisten, Dadaisten, Surrealisten …), auf eine völlige Zerstörung der bürgerlichen Kunst ab und fiel durch provokante Störaktionen im arrivierten Kulturbetrieb auf. So verkleidete sich einer von ihnen bei der Ostermesse 1950 in Notre Dame de Paris als Mönch und verkündete den „Tod Gottes“ – er wäre von der erzürnten Menge um ein Haar gelyncht worden.

Gegenüber den eher kunst- und kulturimmanenten, stark von Friedrich Nietzsche und anderen existenzialistischen Denkern beeinflussten Lettristen hoben sich die Situationisten seit ihrer Gründung Ende der 50er Jahre davon ab, dass sie sich stark auf Karl Marx und den von Georg Lukács in seinem Frühwerk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) entwickelten westlichen Marxismus bezogen, der wiederum an die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels anknüpft. Kernthese dieses Marxismus ist, dass Kunst und Kultur nur eine sehr beschränkte Autonomie zukommt, sie vielmehr in ihrer Entwicklung von den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Gesellschaft bestimmt werden. Im Kapitalismus ist die entscheidende ökonomische Struktur, der sich alles gesellschaftliche Handeln und Denken unterwirft, die Warenform. Sobald ein Ding als Ware auf den Markt kommt, ist es nicht mehr nur dieses einzelne nützliche Ding, sondern es bekommt zusätzlich eine quasi-übersinnliche Qualität, die von seinen nützlichen Eigenschaften vollkommen abgekoppelt ist: Es hat einen bestimmten Preis. Im Kapitalismus ist dies jedoch seine entscheidende, seine ihn gerade definierende Eigenschaft. Im Preis drückt sich die Gesellschaftlichkeit eines Dinges aus: Dass es von Menschen in bestimmter Zeit produziert wurde, um die Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen. Doch diese Gesellschaftlichkeit setzt sich im Kapitalismus als Zwangsgesetz gegen die Menschen durch, sie können über sie nicht bewusst verfügen. Einfach deswegen, weil die Produktionsmittel den Kapitalisten gehören, mithin in privaten Händen zersplittert sind. Die Proletarier, die sie bedienen, haben über den Produktionsprozess überhaupt keine Kontrolle, und damit über die Produktion ihrer eigenen Lebensbedingungen. Sie führen somit ein völlig entfremdetes Dasein. Sie werden von den Produkten ihrer eigenen Arbeit beherrscht. Dies fasst der westliche Marxismus kritisch mit den Begriffen „Verdinglichung“ und „Fetischismus“. Eine Veränderung dieser widrigen Lage kann nur über einen kollektiven Umsturz der kapitalistischen Produktionsweise in globalem Maßstab, also eine kommunistische Weltrevolution, erfolgen. Es ist klar, dass unter diesem Einfluss die SI das nietzschianische, kulturrevolutionäre und kunstimmanente Konzept der Lettristen hinter sich lassen musste. Sie verstanden sich dezidiert als revolutionäre Organisation des Proletariats mit dem Ziel der Herbeiführung (oder wenigstens: Beförderung) eben jener Weltrevolution.

Allerdings warf die SI ihre künstlerisch-existenzialistischen Wurzeln nie gänzlich ab, sondern entwickelte eine spezifische Synthese von existenzialistischer Kultur- und marxistischer Gesellschaftskritik. Unter existenzialistische Kulturkritik verstehe ich hier eine Kritik an der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die sich vor allem an kulturellen Phänomenen festmacht und von einem eher subjektiven Standpunkt aus diese Phänomene im Namen von Konzepten wie Authentizität, dem Leben, der Freiheit des Individuums oder des Spiels kritisiert. 2)Im engeren Sinne bezeichnet Existenzialismus eine kulturelle und philosophische Strömung in Frankreich der 30er bis 60er Jahre, der u.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir angehörten. Diese Strömung sehe ich als wichtigen Teil des Existenzialismus im weiteren Sinne. Praktisch entwickelt sie auf der Ebene individueller Praxis wie in ästhetischen Experimenten konkrete Gegenmodelle, in denen ein nicht-entfremdetes Dasein aufscheinen soll. Wichtige Denker dieses so heterogenen Strangs sind u.a. (neben dem wohl wichtigsten: Nietzsche) Søren Kierkegaard, Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Henri Bergson, Georges Bataille und Antonin Artaud. Auch die erwähnten Avantgarden des 20. Jahrhunderts waren stark von existenzphilosophischen Ideen beeinflusst.

Theodor W. Adorno verweist in seinem Aufsatz Erpresste Versöhnung darauf, dass es – trotz aller Abgrenzungsbemühungen – einen engen inneren Zusammenhang zwischen existenzialistischer Kulturkritik und dem westlichen Marxismus gibt, insofern beide dieselbe Ausgangsintuition teilen: Dass die Moderne ein Zeitalter der absoluten Verdinglichung und Entfremdung ist, deren Überwindung einen grundsätzlichen Wandel erheischt. Für den Marxismus muss dieser Wandel auf gesellschaftlicher und kollektiver Ebene, für die existenzialistische Kulturkritik auf individueller und kultureller Ebene erfolgen. Ein wenig schematisch betrachtet lässt sich sagen, dass der Marxismus die Dinge von der objektiven, die existenzialistische Kulturkritik die Dinge von der subjektiven Seite her anpackt, also dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive betrachten – woraus ersichtlich ist, dass eine Vermittlung beider Strömungen möglich sein sollte. Begriffe wie „Entfremdung“ oder „Verdinglichung“ spielen entsprechend in beiden Traditionen eine zentrale Rolle, jedoch mit unterschiedlicher Konnotation: Während sie im westlichen Marxismus einen objektiven ökonomischen Sachverhalt bezeichnen sollen (die Entfremdung der Arbeiter von den Produktionsmitteln und den Produkten selbst, die objektive Degradation der Menschen zu Dingen im Kapitalismus), beschreiben existentialistische Denker Entfremdung und Verdinglichung als subjektive Erfahrung (Entfremdung etwa als Sinnverlust; Verdinglichung als Erfahrung der Verdinglichung).

Die SI unternahm einen solchen Vermittlungsversuch von den späten 50ern bis zu ihrer Selbstauflösung in den frühen 70ern. Neben ästhetischen und individuellen Experimenten betrieben sie insbesondere politische Agitation und theoretische Arbeit. Zu erwähnen ist dabei etwa als einer ihrer größten Clous eine Broschüre mit dem Titel Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel diesen abzuhelfen, die sie mit Geldern der Studentengewerkschaft Straßburg 1966 veröffentlichte. Dieser noch heute sehr lesenswerte und einiges treffende Text ist eine umfassende Polemik gegen alles, was das studentische Leben ausmacht inklusive der Studentengewerkschaft selbst. Minutiös wird der Selbstbetrug der Studenten aufgezeigt, die sich in einem Lebensabschnitt der Freiheit und Selbstverwirklichung wähnen, während sie in Wahrheit am Zipfel von Familie und Uni bleiben und sich auf ihre künftige Rolle als Kader und Funktionäre vorbereiten. Kein Wunder, dass sich die SI mit diesem Text einige Feinde machte. Die unmittelbar verantwortlichen Straßburger Studenten wurden vom Direktor als psychisch krank bezeichnet und exmatrikuliert. Die Broschüre entfaltete jedoch – neben den anderen Texten der SI – einen erheblichen Einfluss auf Teile der Studentenbewegung, die im Generalstreik des Mai 68 kulminierte. Nach 68 verlor die SI jedoch an Schwung und löste sich 1972 auf – auch, um nicht zum Mythos zu erstarren.

Innerhalb der SI gab es stets den Widerspruch zwischen dem eher marxistisch und dem eher existenzialistischen Flügel. Guy Debords Hauptwerk Die Gesellschaft des Spektakels fasst die Theorie aus marxistischer Perspektive zusammen, Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen aus existenzialistischer. Beide erschienen 1967 und teilen dasselbe Ansinnen: Die gegenwärtige Gesellschaft wird als „Gesellschaft des Spektakels“ denunziert. Das „Spektakel“ stellt die höchste Form der kapitalistischen Verdinglichung dar: Die Warenform ergreift nun wirklich total alles Erleben der Menschen. An die Stelle des wirklich Erlebten tritt ein System von Bildern, das sich über das unmittelbar Erlebten als Pseudo-Erlebtes legt und es verdrängt. Dieses System ist eben das „Spektakel“. Die Theorie der SI weist dabei große Ähnlichkeiten der Kulturindustrie-Kritik Adornos und Horkheimers auf, nur betont sie radikaler, dass die Kulturindustrie kein Teil der Gesellschaft ist, sondern im modernen Kapitalismus die gesamte Gesellschaft kulturindustriell erfasst ist. Die Menschen sind keine wirklichen Individuen mehr, sondern all ihr Denken und Handeln orientiert sich bis in ihre Bedürfnisstruktur hinein an vom Spektakel vorgegebenen Stereotypen. Allerdings geht die SI von keiner wirklich totalen Erfassung der Menschen aus, sondern von einem Restbestand an authentischem Erleben und echten, radikalen Begierden, die eine wenigstens partielle innere Befreiung ermöglichen – und die Basis des Klassenkampfs bilden.

 

Besser scheitern. Zur Relevanz der SI heute

 

Mein Tutorium nun war erfolgreich in dem Sinne, dass ich es für mein Selbststudium nutzte und wir ein paar nette Diskussionen hatten. Trotzdem scheiterte ich eben in meiner politischen Motivation: Die erhofften Teilnehmer_innen blieben fast vollständig aus. Es soll hier nicht um den genauen Verlauf des Tutoriums gehen. Es mag sein, dass ich in mancher Hinsicht Fehler gemacht habe. Was mich interessiert ist aber eher die prinzipielle Frage: Woher rührt das Desinteresse an der SI, obwohl sich in Frankfurt doch so viele Studierende mit Fragen kritischer Theorie, insbesondere auch einer kritischen Theorie des Kultur- und Kunstbetriebs, zu der die SI einiges beizutragen hätte, beschäftigen?

Der Hauptgrund dürfte schlicht die Radikalität der SI sein. Die SI polemisierte gegen nahezu alles, was nicht mit ihnen identisch war. Kompromisse oder Zugeständnisse waren die Sache der SI nicht. Ohnehin abgelehnt werden von ihr alle Strömungen der radikalen Linken von den Kommunistischen Parteien über die Gewerkschaften bis hin zu anarchistischen Splittergruppen. Dann auch Theoretiker_innen und Künstler_innen, die der SI auf den ersten Blick nahe zu stehen scheinen wie die Existenzialisten, die Strukturalisten, die Post-Strukturalisten, Cornelius Castoriadis oder Jean-Luc Godard. Und das, obwohl es natürlich sehr starke Bezüge zwischen der SI und dem französischen Diskurs der 50er und 60er Jahre gibt.

Für die SI gibt es nur zwei Optionen: Entweder total und kompromisslos für die Revolution zu sein oder dagegen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht besonders angenehm, ihre Texte zu lesen: Im Grunde muss sich jede_r, der/die eine halbwegs ‚normale‘ bürgerliche Identität herausgebildet hat, von ihnen persönlich angegriffen fühlen, insofern die SI minutiös all die kleinen Lügen, Unaufrichtigkeiten und Halbheiten enttarnt, mit der die Herausbildung einer solchen Identität bezahlt werden muss. Die SI erinnert an all die Wünsche, die wir aufgeben mussten, um uns ein mittelmäßiges Pseudo-Leben zu sichern. Es ist klar, dass es gegen diesen Radikalismus einige gute Argumente gibt. Doch er lässt sich eben auch nicht so einfach vom Tisch wischen. Das beste Mittel, um sich vor ihm zu schützen, ist das bewährte bürgerliche der Ignoranz. Zumal das Hauptobjekt der Kritik der SI genau der Betrieb ist, in denen die meisten Studierenden mehr oder weniger stark verstrickt sind: Das Politikspektakel, das Kunstspektakel, das Kulturspektakel, das Wissenschaftsspektakel … Wer einfach seine Karriere in einer dieser Sphären voranbringen will, dem sei ausdrücklich abgeraten, sich mit der SI auch nur im Ansatz zu befassen. Es ist Zeitverschwendung und ist nur anstrengend, bringt angesichts der Bedeutungslosigkeit der SI selbst im kritischen akademischen Diskurs nur minimalste Distinktionsgewinne. ‚Man‘ muss Debord nicht kennen. 3)Interessanterweise scheint Debord allerdings langsam doch für den akademischen Betrieb als ‚Klassiker‘ attraktiv zu werden nach dem objektiven Veralten seiner Theorie (s.u.). So finden in diesem Jahr zwei Konferenzen unter expliziter Berufung auf sein Werk in Medford und Jena statt. Auch in Kanon der Kulturnation Frankreich wurde Guy Debord spätestens mit einer Ausstellung über sein Leben und Werk in der französischen Nationalbibliothek in Paris 2013 integriert.

Als Haupteinwand gegen die SI wird dabei oft vorgebracht, dass es nicht klar sei, was denn überhaupt dem Spektakel entgegenzusetzen sei. Es gäbe jenen Bereich des „unmittelbar Erlebten“ oder der „authentischen radikalen Begierden“, auf den Debord & Co. setzen schlicht nicht und man hätte gar keine Wahl, als sich in die Gesellschaft zu integrieren, der man nun einmal angehört. Die SI geht zumal nicht nur davon aus, dass es diesen Bereich gibt, sondern dass er sogar massenhaft erfahren wird, dass es das Proletariat als Klasse der Authentizität gibt, das fähig zur Weltrevolution wäre.

Man muss hier zunächst zwischen der philosophischen und der historischen Dimension der Frage trennen. Auf einer philosophischen Ebene widmet sich die SI dem Problem der Bestimmung des Authentischen/Unmittelbaren in der Tat nur sehr bedingt, sie entwickelt es negativ in Abgrenzung vom Unauthentischen, setzt es nicht positiv. Als ‚Authentisches‘ ist so oder so nicht zu verstehen, was man gemeinhin darunter versteht: Irgendwie ‚echt‘ sein, alternative Klamotten tragen, in Bioläden einkaufen, Drogen nehmen … Das wären alles Bilder vom Authentischen, Teil eines ‚Spektakels der Authentizität‘, das selbst integraler Bestandteil des Gesamtspektakels ist. Alle positiven Bestimmungen des Authentischen wären im Grunde schon unauthentisch, letztendlich lässt sich von ihm nicht viel mehr sagen, als dass es es gibt. Zumindest seine bloße Existenz lässt sich jedoch philosophisch begründen: Die Vermittlung setzt immer ein Unmittelbares voraus, das erst die Basis des Vermittlungsprozesses bildet. Selbst in einer Gesellschaft totaler Integration muss es aus logischen Gründen einen Rest nicht-erfasster Erfahrung geben, sonst würde sich diese Gesellschaft selbst aufheben. Als Minimalbestimmung ist das Authentische vielleicht nicht viel mehr – aber auch nicht weniger – als das, was Adorno in der Negativen Dialektik als das „Nicht-Identische“ bezeichnet. Von der SI her gedacht konstituiert sich authentische Erfahrung wesentlich im schlichten Kampf um authentische Erfahrung gegen die allgemeine Unauthentizität. Wer diesen Kampf (und sei es als inneren Widerstand gegen die Fremdsteuerung des eigenen Lebens) nicht führt, der erfährt sie auch nicht.

Das Problem wird von der SI zumal stets als historisches gefasst. Das Spektakel ist bei ihnen ja keine anthropologische Konstante, sondern ein ganz konkretes soziales, historisches Phänomen. In früheren Gesellschaften gab es bei ihnen noch keine allumfassende Unaufrichtigkeit, wie sie die moderne kapitalistische Gesellschaft kennzeichnet, sondern einen sehr großen Bereich des unmittelbar Erlebten, in dem die Individuen relativ unabhängig von gesellschaftlichen Stereotypen leben konnten. Zentral sind hier Konzepte wie Kreativität, Aktivität, Spontanität, Abenteuer und Spiel, die der Langeweile, Passivität, Starrheit und Beengtheit des Spektakels entgegengehalten werden (wobei sich diese Passivität auch als Pseudo-Aktivität äußert, wie sie die SI insbesondere am rastlosten Aktivismus politischer Karrieristen festmacht). Letztendlich geht es um die Verfügungsgewalt über die eigenen Lebensbedingungen, die den modernen proletarisierten Individuen völlig entrissen wurde. In früheren Zeiten gab es große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die sich der ideologischen Kontrolle durch die jeweilige Zentralgewalt entzogen – ökonomische Basis dafür bildete der große Anteil von Subsistenzwirtschaft. In der modernen Gesellschaft sind nun wirklich alle Individuen sozial vollkommen erfasst und es gibt kaum mehr Möglichkeiten der Eigenversorgung. Gleichzeitig ist es jedoch natürlich so, dass die moderne Gesellschaft dafür die Borniertheiten früherer Gesellschaften aufbricht und weitaus größere Potentiale authentischen Lebens für jeden Einzelnen wenigstens der Möglichkeit nach zur Verfügung stellt.

Hier wäre nun auf den Unterschied zwischen unserer heutigen Situation und der in den 50er und 60er Jahren zu verweisen. Vor dem Hintergrund dieser Jahre des gesellschaftlichen Aufbruchs wirken die Thesen der SI weitaus weniger absonderlich als aus heutiger Perspektive. Die kulturindustrielle Erfassung der Menschen steckte im Vergleich zu heute gerade erst in den Kinderschuhen, der damalige fordistische Kapitalismus garantierte im Vergleich zu heute (und im welthistorischen Maßstab wohl bislang einmalige) relativ große Freiräume selbst der Proletarisierten zur individuellen Selbstentfaltung. Man musste sich, um ökonomisch halbwegs über die Runden zu kommen, nicht tausende ‚soft skills‘ in Selbstmanagementkursen antrainieren, seine Bedürfnisstruktur verhaltenstherapeutisch durchdesignen und sich mit seinem Job vollkommen identifizieren bis zur Selbstaufgabe und Selbstaufopferung im ‚burn out‘. Dies hat vor allem zu tun mit der miserablen gegenwärtigen Lage der Proletarisierten im Klassenkampf, der völligen Niederlage auf fast allen Ebenen in den letzten Jahrzehnten was die ökonomische Situation betrifft.

Diese Seite des Veraltens der SI spricht nun nicht so sehr gegen sie, sondern gegen den gegenwärtigen Kapitalismus. Allerdings wirft die heutige Situation rückblickend die Frage auf, ob Guy Debord und Co. nicht schon damals die Situation in mancherlei Hinsicht zu optimistisch einschätzten was die Möglichkeit revolutionärer Veränderung anbelangt. Die zentrale Lücke der SI wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, wie die Integration in den gegenwärtigen Kapitalismus der Tendenz nach mehr und mehr funktioniert: Nicht, wie noch bei der SI, durch Bilderwelten, sondern durch die unmittelbar technologische Integration des Leibes der Individuen in kybernetische Kreisläufe. Durch Suggestion und Manipulation auf vollkommen unbewusster Ebene, Überwachung und algorithmische Auswertung des Konsumverhaltens, die wiederum zu optimierten Steuerungsprozessen verwendet wird, Verabreichung von psychoaktiven Medikamenten im großen Stil, Transplantation von vernetzten Maschinen direkt in den Körper. Diese nicht-sprachlichen und auch nicht-bildlichen Integrationsmechanismen, die insbesondere Foucault und Deleuze/Guattari im Anschluss an Nietzsche und Freud systematisch untersuchten, waren schon immer relevanter für das gesellschaftliche Leben als es der herrschenden Ideologie zuzugeben lieb war, doch kamen in früheren Perioden auch sprachlich und symbolisch vermittelter Integration ein großer Stellenwert zu. Sie wird heute mehr und mehr ersetzt durch unmittelbare Einbindung auf neuronaler Ebene. Von der SI werden sie, wie überhaupt die wirklichen Prozesse gesellschaftlicher Integration, kaum betrachtet. Die Theorie der SI bleibt in einem schlechten Sinne sehr philosophisch, insofern sie selbst bei Guy Debord auf einer rein phänomenologischen Beschreibungsebene verbleibt. Debord und Co. analysieren sehr gut, wie die Herrschaft moderner Gesellschaften vom Standpunkt einer radikalen Subjektivität her erscheint – über ihre Genesis, das objektive Moment, ihr Sein erfährt man wenig bis nichts. Das ‚ihre‘ ist hier bewusst zweideutig gehalten: Denn genealogisch betrachtet ist ja auch die radikale, revolutionäre Subjektivität selbst etwas, das aus einer bestimmten Sozialisation zu erklären wäre. Dies ist nicht psychologistisch zu verstehen, auch auf kultureller Ebene schreibt sich in die Texte der SI deutlich eine bestimmte Subjektivität ein, die der klassischer Bürgerlichkeit entspricht: Der freie Mann, der seine Autonomie und Souveränität um jeden Preis wahren will, der, um seine Identität zu bewahren, sich vor dem Einfall des Nicht-Identischen ins eigene Innere zwangsläufig immunisieren muss, wenn nötig, durch Gewalt. So sprechen die Situationisten oft davon, dass die Integration ins Spektakel mit einer Kastration und der Verlust an Potenz verbunden sei. Sie partizipieren so an einem heteronormativen Männlichkeitskonstrukt, das bis zum selbst als spektakulär zu bezeichnenden Bild von der ‚großen Revolution‘, in der das Subjekt sich aller Äußerlichkeit und Vermittlung entschlägt und zu einer inneren Reinheit zurückfindet, ihre Texte im Kern strukturiert. Dieses männliche Identitätskonstrukt legt heute eindeutig seine affirmative, zerstörerische und ideologische Seite an den Tag. Einerseits sind die Menschen heute mehr denn je abhängig von Kapitalkreisläufen, Maschinen, anderen Subjekten, Netzwerken etc., andererseits sollen sie unter dem Banner neoliberaler Ideologie so individuell, selbstmächtig, flexibel, kreativ, aktiv, spontan, ja: revolutionär, sein wie nie zuvor in der Geschichte. All das, auf dem die SI normativ aufbaute, ist mittlerweile selbst Teil des Spektakels geworden und war es bis zu einem gewissen Grad schon damals.

 

Zum Ende kommen.

 

Es gibt also gute Gründe dafür, die SI zu kritisieren und für veraltet zu halten. Trotzdem bleibt der Ansatz der SI zentral für das Verständnis der sozialen Bewegung der 60er Jahre. Auch von der Aktualität der Frage nach dem authentischen Leben jenseits des herrschenden Spektakels ist nichts gewichen. Sie muss eben nur anders und neu gestellt werden, als es die SI tat. Gerade, weil sie niemand mehr so recht stellen will. Die SI wäre also sowohl zu verteidigen gegen ihre falschen Freund_innen, die so tun, als hätte es in den letzten 50 Jahren keine Entwicklung gegeben und von der SI kaum mehr übernehmen als ihren radikalen Gestus wie gegen diejenigen, die sie aus genau den falschen Gründen kritisieren oder gar ignorieren.

Der Ort für eine solche produktive Aneignung der SI dürfte aber kaum die mehr und mehr selbst gleichgeschaltete und voll in die neoliberalen Verwertungsprozesse eingebettete Uni sein, sondern jenseits des Wissenschafts- und Politikspektakels in versprengten Zirkeln von ‚Verrückten‘. Das Scheitern des SI-Tutoriums zeigt deutlich, dass auch die ‚autonomen‘ Tutorien kein von gesamtgesellschaftlichen Tendenzen abgeschotteter ‚Freiraum‘ sind, in denen sich nach Belieben kritische Theorie betreiben ließe. Dies zu glauben ist eben Symptom jener typischen studentischen Selbsttäuschung, die die SI in ihrem Text von 1965 so gnadenlos bloßstellt. Dennoch scheint es mir den Versuch wert gewesen zu sein.

Erstveröffentlicht in der Sommerausgabe der AStA-Zeitung der Uni Frankfurt 2015.

Fußnoten

Fußnoten
1 Man darf bei der SI wirklich einmal guten Gewissens die männliche Form verwenden – Frauen spielten in ihr nur eine untergeordnete Nebenrolle.
2 Im engeren Sinne bezeichnet Existenzialismus eine kulturelle und philosophische Strömung in Frankreich der 30er bis 60er Jahre, der u.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir angehörten. Diese Strömung sehe ich als wichtigen Teil des Existenzialismus im weiteren Sinne.
3 Interessanterweise scheint Debord allerdings langsam doch für den akademischen Betrieb als ‚Klassiker‘ attraktiv zu werden nach dem objektiven Veralten seiner Theorie (s.u.). So finden in diesem Jahr zwei Konferenzen unter expliziter Berufung auf sein Werk in Medford und Jena statt. Auch in Kanon der Kulturnation Frankreich wurde Guy Debord spätestens mit einer Ausstellung über sein Leben und Werk in der französischen Nationalbibliothek in Paris 2013 integriert.

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