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Immer wieder aktuell: Deleuze und Guattari über Mikrofaschismus

Ohne Zweifel hat der Faschismus den Begriff des totalitären Staates erfunden, aber es gibt keinen Grund, den Faschismus durch einen Begriff zu definieren, den er selbst erfunden hat: es gibt totalitäre Staaten ohne Faschismus vom stalinistischen Typus oder vom Typus der Militärdiktatur. Der Begriff des totalitären Staats hat nur im makropolitischen Maßstab Geltung, also bei der harten Segmentarität und für eine spezielle Weise der Totalisierung und Zentralisierung. Der Faschismus aber ist untrennbar mit molekularen Unruherden verbunden, die sich rasch vermehren und von einem Punkt zum nächsten springen, die sich in Interaktion befinden, bevor sie alle gemeinsam im nationalsozialistischen Staat widerhallen. Ländlicher Faschismus und Faschismus der Stadt oder des Stadtteils, junger Faschismus oder Faschismus der alten Kämpfer, linker und rechter Faschismus, Faschismus in der Ehe, in der Familie, in der Schule oder im Büro: jeder Faschismus wird durch ein schwarzes Mikro-Loch definiert, das für sich selber steht und mit den anderen kommuniziert, bevor es in einem allgemeinen zentralen schwarzen Loch Widerhall findet. Faschismus gibt es dann, wenn in jedem Loch, in jeder Nische eine Kriegsmaschine installiert wird. Selbst wenn der nationalsozialistische Staat sich etabliert hat, ist er auf das Weiterbestehen dieser Mikro-Faschismen angewiesen, die ihm ein unvergleichliches Handlungsmittel gegenüber den „Massen“ geben. Daniel Guérin hat recht, wenn er sagt, Hitler sei eher als der deutsche Generalstab an die Macht gekommen, weil er von vorneherein über Mikro-Organisationen verfügte, die ihm „ein unvergleichliches und unersetzliches Mittel gaben, in alle Zellen der Gesellschaft einzudringen“, eine geschmeidige und molekulare Segmentarität, Strömungen, die in alle Arten von Zellen eindringen konnten. Wenn dagegen der Kapitalismus das Experiment des Faschismus schließlich als Katastrophe ansah, wenn er es vorzog, sich mit dem stalinistischen Totalitarismus zu verbünden, der seiner Meinung nach vernünftiger und leichter zu steuern war, dann lag das daran, daß dieser eine klassischere und weniger fließende Segmentarität und Zentralisierung hatte. Der Faschismus wird durch seine mikro-politische oder molekulare Macht gefährlich, denn er ist eine Massenbewegung: eher ein krebsbefallener Körper als ein totalitärer Organismus. Das amerikanische Kino hat diese molekularen Unruheherde oft gezeigt, den Faschismus der Bande, der Gang, der Sekte, der Familie, des Dorfes, des Stadtteils und des Autos, der niemanden verschont. Nur der Mikro-Faschismus gibt eine Antwort auf die allgemeine Frage: Warum begehrt das Begehren seine eigene Unterdrückung, wie kann es seine eigene Unterdrückung wünschen? Sicher, die Massen beugen sich der Macht nicht passiv; sie „wollen“ auch nicht in einer Art von masochistischen Hysterie unterdrückt werden; vor allem aber fallen sie nicht auf ein ideologisches Täuschungsmanöver herein. Aber das Begehren kann nie von komplexen Gefügen getrennt werden, die zwangsläufig über molekulare Ebenen, über Mikro-Gebilde laufen, die bereits das Verhalten, die Einstellung, die Wahrnehmung, die Antizipationen, die Semiotiken etc. prägen. Das Begehren ist nie eine undifferenzierte Triebenergie, sondern resultiert selber aus einer komplizierten Montage, aus einem engineering mit vielen Interaktionen: eine ganz geschmeidige Segmentarität, die mit molekularen Energien umgeht und das Begehren eventuell schon dazu determiniert, faschistisch zu sein. Die Organisationen der Linken sind nicht die letzten, die ihre Mikro-Faschismen absondern. Es ist allzu leicht, auf molarer Ebene ein Antifaschist zu sein, ohne den Faschisten zu sehen, der man selber ist, den man unterstützt und nährt und an dem man selbst mit persönlichen und kollektiven Molekülen liebevoll hängt. […] [D]er Faschismus ist gerade wegen seiner Mikro-Faschismen so gefährlich, und die feinen Segmentierungen sind ebenso schädlich wie die härtesten Segmente.

(Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992, S. 292 f.)

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