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Nietzsche verfilmen als Glättung – Über den Film „Thinking Nietzsche“

Philosophie zu verfilmen ist eine delikate Aufgabe, an der man im strengen Sinne eigentlich nur scheitern kann. Entweder der Film verkommt zur bloßen Illustration einer philosophischen Idee – und scheitert darum als Kunstwerk; oder er gelingt als Kunstwerk, wird dabei aber der philosophischen Idee nicht gerecht. Ein Film, dem beides mehr oder weniger gelang, ist der jüngst erschienene Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot von Philip Gröning, der in gewisser Weise eine Verfilmung von Sein und Zeit ist: Er bringt er die Radikalität, die in Heideggers philosophischer Konzeption der „Eigentlichkeit“ liegt, eindrücklich rüber, gerade auch in ihrer Problematizität. Zugleich funktioniert er als Streifen: Er ist auch sehenswert, wenn man ihn nicht als Verfilmung von Heideggers Hauptwerk ansieht, sondern einfach nur als Film.

Ein weiteres gelungenes Beispiel ist die Dokumentation Examined Life von 2008, in der einige der wichtigsten Philosophen der Gegenwart kurze Statements zu den Grundinhalten ihres Denkens abgeben an von ihnen gewählten Schauplätzen. Die Dokumentation gibt einen guten Überblick über den Stand des gegenwärtigen Denkens (oder: gab es zumindest vor zehn Jahren), langweilt nicht, die Beiträge sind klar und prägnant und die Idee mit den Schauplätzen als ‚Ereignisorten‘ des Denkens war originell und inspirierend. Und Szenen wie die, in der Slavoj Žižek uns auf einer Müllhalde begrüßt und sagt: „Wir sollten uns an diesen Anblick gewöhnen“1)Aus dem Gedächtnis zitiert., oder die turbulente Taxifahrt mit Cornel West durch Chicago, während der er in seiner unglaublich mitreißenden Art über Jazz, afroamerikanische Kultur, Marxismus, den Tod, klassische Musik und Heidegger spricht (damals ging das noch ohne irgendwie in den Geruch des ‚Reaktionären‘ zu kommen), – das ist einfach in sich großes Kino, da wird Philosophie im wörtlichen Sinne verkörpert, da bleibt etwas hängen, selbst, wenn man sich gar nicht für Philosophie interessiert und den Film ‚nur‘ zum ästhetischen Vergnügen konsumiert.

Wieviel Glättung verträgt Nietzsche? – Rasur als Verfahren.

Es ist also ein nicht wenig anspruchsvolles Ziel, das sich die junge Produktionsfirma Moving Thought gesetzt hat, wenn sie beansprucht, wie man auf ihrer Website nachlesen kann, Filme zu produzieren, die Philosophie und Film vereinigen. Zwei Filme sind es, die sie bislang veröffentlicht hat und zwar in diesem Jahr, sie handeln jeweils von Nietzsche und können als Referenz immerhin ausweisen, mehrfach preisgekrönt und bei Filmpreisen nominiert worden zu sein: der Kurzfilm Deternity und die Dokumentation Thinking Nietzsche. Um es vorwegzunehmen – jemand, der in Rhetorik geschult ist, wird bereits ahnen, was kommt: Ich halte beide Filme für vollkommen gescheitert und zwar nicht an dem immanenten Widerspruch der Gattung ‚philosophischer Film‘, sondern als Film und als Illustration philosophischer Gedanken. Und zwar, weil sie beide in einem schlechten Sinne zeitgemäß sind: Sie repräsentieren eine dominante Tendenz in der sich ‚avantgardistisch‘ dünkenden Gegenwartskunst, wie sie auf den Kunsthochschulen heute auf der ganzen Welt produziert wird, und die ich als ‚common sense-Postmodernismus‘ bezeichnen würde. Verrätselte, verspielte, anspielungsreiche Arbeiten, die handwerklich sehr sauber gearbeitet sind und ab und an ‚Winke‘ zu wirklich radikalen, spannenden Themen geben und mit wohldosierten formalen Brüche arbeiten, im Ganzen jedoch bloß nirgends anecken wollen, nichts auf den Punkt bringen und, in einem Wort, langweilig sind. Der verzweifelte Versuch, gleichzeitig brav und radikal zu sein, das Design von Apple, Google und Facebook als Leitbild zu wählen und trotzdem irgendetwas zu vermitteln, das interessant sein könnte. Es ist klar, dass eine solche ‚Kunst‘ (wenn man nicht gleich von Design sprechen möchte) am Gegenstand Nietzsche nur scheitern kann – denn Nietzsche, so viel ist sicher, hätte sie gehasst, man lese nur seine späten Polemiken gegen Wagner.

Der Kurzfilm Deternity beansprucht Noch ein Mal, den vielleicht tiefsten, emotionalsten und sprachlich besten poetischen Text Nietzsches – auf den sich etwa auch Adorno wiederholt bezieht, weil er in ihm eine ungeheure realistische Kraft am Walten sieht – zu verfilmen. Im Beschreibungstext heißt es dazu:

By using a combination of performance and projection techniques, the film depicts a protagonist being confronted with his own psychological dilemmas in a scene dominated by alternating light and shadows.

Auf der Suche nach einem Ausweg aus der postmodernen Beliebigkeit …

Diese auf die eingesetzten Darstellungsmittel und -techniken fokussierte Beschreibung bringt schon zum Ausdruck, was das Problem des Films ist: Er ist zu sehr eine Zurschaustellung des zweifellos bestehenden technischen Könnens seiner Macher. Inhaltlich bringt er bereits tausendfach Gesehenes: Ein junger Mann greift verzweifelt gegen eine Glasscheibe (der Klassiker der Pantomime lässt grüßen), enigmatische Lichter tauchen auf, am Ende wird Nietzsches Gedicht vorgetragen, im Hintergrund seltsame Geräuschkulissen. Die ungeheure Konkretheit von Nietzsches Text, sein radikaler Realismus, verflüchtigt sich in Anspielungen – soll es etwa ‚kritisch‘ gemeint sein, dass der Protagonist kurz die Projektionen von Werbeplakaten sieht? Spannender und radikaler wäre es zweifellos gewesen, die ‚psychological dilemmas‘ von einem jungen Mann vielleicht einmal wirklich darzustellen anstatt nur abstrahierend anzudeuten. Eine wirkliche ästhetische Kraft entfaltet der Film so nicht, es bleibt eher der Eindruck des Achselzuckens. Ohnehin, die Stimme des Vorlesers: Viel zu gefällig, viel zu geschult, um glaubhaft einen radikalen Text im Jahr 2018 zum Ausdruck bringen zu können. Es braucht sicherlich nicht – in Grönings erwähntem Film gibt es daran fast ein Übermaß, doch die eigentliche Provokation von Mein Bruder heißt … liegt ohnehin in seiner schieren Länge – Sex, Gewalt und Tabubrüche, um Nietzsches Texten gerecht zu werden, doch auch im Rahmen reiner Abstraktion sind Irritationen des Zuschauers leicht zu bewerkstelligen, die unter Umständen eine noch viel größere Schock-Wirkung entfalten. Und man muss noch nicht einmal schocken wollen, man kann Nietzsches Gedicht auch einfach für sich sprechen lassen und es ruhig vortragen, es wirkt für sich und bedarf keiner Illustration. Jedenfalls nicht einer solchen.

Eine Prise Konsumkritik – heutzutage ein must have.

Dasselbe gilt nun für die Dokumentation. Sie orientiert sich stark an Examined Life: Verschiedene Protagonisten – Künstler, Philosophen und Nietzsche-Forscher – kommen zu Wort und werden zu Menschliches, Allzumenschliches befragt und das an verschiedenen Schauplätzen (der Höhepunkt im doppelten Sinne: Sils-Maria). Dabei werden im Einzelnen natürlich gute Bilder produziert und hörenswerte Aussagen getroffen. Doch insgesamt bleibt der Film enttäuschend. Immer wieder ist von der Radikalität Nietzsches die Rede und davon, wie er seinen Leser berührt. Der im Beschreibungstext formulierte Anspruch:

„How authentically do you live?“ – Friedrich Nietzsche’s texts push us into rethinking our lives. Confronted with „a supermarket of ideas“, each time we read „ends with an orgasm of insight“. Will his texts go on to change our lives, identities, the world? This essayistic documentary film transcends the confines between academia, art and everyday life. „THINKING NIETZSCHE“ shows how Nietzsche transforms.

Doch der Film ist viel zu glatt geschnitten, viel zu sehr den Klischees postmodernistischer Bildsprache angepasst, um das auch nur ansatzweise ästhetisch zu vermitteln (vielleicht ‚gelingt‘ es andeutungsweise).

Wen juckt’s? – Elisabeth von Samsonow inszeniert Harmlosigkeiten in der Wiener Innenstadt, in Anspielung wohl auf die bekannte Anekdote um Nietzsches Zusammenbruch.

Es fängt beim gewählten Buch an: Menschliches, Allzumenschliches ist wohl dasjenige Buch Nietzsches, das dem common sense moderner Gesellschaften am meisten entgegenkommt. Natürlich ist es ‚radikal‘, insofern es die Loslösung von Gewohnten und Traditionen propagiert und dies zu seinem zentralen Thema macht – doch, wie Babette Babich in dem Film zu Recht fragt: Wer von uns ist denn bitteschön kein „freier Geist“ oder wähnt sich zumindest einer zu sein? Der frühe Nietzsche mit seiner überschwänglichen Kulturkritik, der satirische Prediger des Zarathustra, der pechschwarze Aufklärer von Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral, der ‚Wahnsinnige‘ der letzten Schriften, der ekstatische Dichter der Dionysos-Dithyramben, der moralinfreie Experimentator des Nachlasses: Das ist der Nietzsche, der aus heutiger Sicht wirklich radikal ist, von dem die wirklich drängenden, schmerzhaften Fragen aufgeworfen werden, da wird das Ideal des „freien Geistes“ gegen sich selbst gerichtet und selbst zum Gegenstand vernichtender Kritik. Auf der sprachlichen wie inhaltlichen Ebene deutet sich der spätere Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches zwar bereits an, doch bewegt sich noch völlig in der Tradition der ‚klassischen‘ Aphoristik der Aufklärungszeit. Wäre er schon nach der Publikation dieses Buches in die Umnachtung verfallen, würde man sich eher noch an seine kulturkritischen Frühschriften erinnern, ‚richtig los‘ geht es erst mit dem in vielerlei Hinsicht enigmatischen zweiten Band des Buches (und das wusste auch Nietzsche selbst).

In der Maske. – Wieviel Original-Nietzsche muss retuschiert werden, um als konsumierbar zu gelten?

Das soll nicht heißen, dass Menschliches, Allzumenschliches ein schlechtes Buch ist. Ich finde darin selbst immer wieder großartige Aphorismen – gerade auch, weil es solche sind, mit denen man sich als in der Tradition der Aufklärung stehender Intellektueller viel stärker identifizieren kann als mit dem romantischen Frühwerk, dem abgedrehten, an nicht wenigen Stellen ins vehement, geradezu: militant, antiaufklärerische übergleitende Spätwerk, dem skeptisch-ernüchterndem mittleren Werk, dem Sonderwerk Zarathustra und dem noch sonderbareren Nachlass. Doch hier spricht eben trotzdem nicht der Nietzsche, den man gemeinhin wirklich schätzt, der einen wirklich mitreißt und vor allem provoziert und der sich erst recht nicht so einfach in die glatte Kultur des Postmodernismus integrieren lässt. Selbst die Dialogpartner des Films führen andere Werke, wie eben den Zarathustra, an, wenn sie nach ihren intensivsten Nietzsche-Erfahrungen befragt werden.

Die Zugfahrt nach Sils-Maria, an dieser Stelle anscheinend bewusst ein wenig unscharf gefilmt, ist tatsächlich ein eindrückliches Erlebnis.

Ich selbst würde jedem, der noch nichts von Nietzsche gelesen hat, Menschliches, Allzumenschliches als Einstieg empfehlen – doch stets dazu sagen, dass es das seichteste Werk Nietzsches ist, dass die wirklich tiefen Abgründe in den anderen Werken auftauchen und in Menschliches, Allzumenschliches, jedenfalls im ersten Band, bestenfalls angedeutet werden. Die Frage ist, ob man ausgerechnet dieses Werk auswählen muss, um einen Film zu machen, der dezidiert eine Art ‚Einführung in Nietzsche‘ darstellen soll – zumal hier insbesondere die starke Bildlichkeit der späteren Werke Nietzsches, die sie für eine Verfilmung geradezu prädestinieren würden (mir ist allerdings noch keine gelungene bekannt), noch viel stärker präsent ist. Zu wählen ist Menschliches, Allzumenschliches freilich, wenn man nichts Falsches machen und die wirklich problematischen Aspekte von Nietzsches Philosophie (kein Wort in dem ganzen Film etwa von der ‚Schattenseite‘ seiner Rezeptionsgeschichte) eben ausblenden will.

Nicht verschweigen will ich – auch der Transparenz halber –, was in dem Film nur angedeutet wird: Dass er in engem Zusammenhang mit den Nietzsche-Lektüretagen des Berliner Nietzsche-Colloquiums steht, das 2015 in Sils-Maria stattfand und eben dem ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches gewidmet war. Ich nahm an dieser wunderbaren Veranstaltung auch teil und war mithin – wie alle Teilnehmer – wenigstens mittelbar in den Produktionsprozess des Films involviert.

Hannah Große Wiesmann, Co-Organisatorin der Nietzsche-Lektüretage, ist im Film nur Statistin.

Seine Macher Mersolis Schöne und Joel Szonn waren auch Teilnehmer der Lektüretage und diskutierten mit uns über das Buch; an einem Abend hatten wir die Gelegenheit, uns die bis dahin fertiggestellten Teile des Films anzusehen und mit ihnen darüber zu sprechen. Ich kann mich noch lebhaft an die intensive Diskussion zu dem im Film von Helmut Heit vorgestellten Aphorismus 286, der von der „Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt“ handelt, erinnern, der beispielhaft eine Art ‚nietzscheanische Kapitalismuskritik‘ beinhaltet und an der ich mich auch selbst rege beteiligt hatte. Und eine Kritik von mir floss sogar direkt in den Produktionsprozess ein: In der Fassung, die uns gezeigt wurde, war nämlich noch eine ältere Nietzsche-Ausgabe in Frakturschrift zu sehen, was ich problematisch fand, da sich Nietzsche selbst bewusst dafür entschieden hatte, seine Bücher in Antiqua-Schriften setzen zu lassen; das lässt sich durchaus auch als inhaltliches Statement gegen Deutschtümelei deuten. Die monierten Bilder verschwanden aus dem Film – doch, wie ich meine, aus falschen Gründen: Ich hätte es spannender gefunden, in dem Film selbst die Geschichte der graphischen Gestaltung von Nietzsches Werken zu thematisieren, die ja von Nietzsches allgemeiner Wirkungsgeschichte nicht abzutrennen ist; stattdessen wurde dieser ‚anstößige‘ Aspekt einfach in einem Akt der Selbstzensur getilgt, um ja keine Assoziationen mit Nietzsches Inbeschlagnahme durch die Nazis aufkommen zu lassen. Im Nachhinein bereue ich es fast, meine Kritik vorgebracht zu haben, weil ich so unfreiwillig einen Beitrag zur weiteren Glättung und damit Verlangweiligung des Films (den ich in der damaligen Fassung spannender fand als in der jetzt vorliegenden) geleistet habe.

Arno Böhler spricht im Setagaya-Park in Wien.

Wie erwähnt werden die Nietzsche-Lektüretage in dem Film zwar angedeutet und es kommen neben dem Organisatoren Helmut Heit auch noch ein paar einzelne andere Teilnehmer zu Wort oder zumindest ins Bild und allen Teilnehmern wird auch im Abspann gedankt, doch wer von ihnen nichts weiß, wird diese Andeutungen nicht verstehen. Sie gar nicht erst in dem Film zu thematisieren muss als bewusste Entscheidung der ja anwesenden Filmemacher gedeutet werden, die es zu verstehen gilt. Ihnen ging es sichtlich darum, einerseits eindrückliche Bilder der Landschaft Sils-Marias einzufangen (dies ist ihnen zweifellos gelungen, interessant wäre es freilich auch gewesen, im Kontrast dazu wenigstens kurz darauf einzugehen, dass es mittlerweile zu einem hochkommerzialisierten Stelldichein des Edeltourismus mutiert ist mitten im Disneyland Schweiz), andererseits eben nur ausgewählte Personen ins Bild kommen zu lassen, die eine gewisse Seriosität verbürgen: Neben dem etablierten Nietzsche-Forscher Heit (der zu den Hauptpersonen des Films zählt) die Co-Organisatorin Hannah Große Wiesmann, ebenfalls Nietzscheforscher, die man freilich nur sieht, wie sie sich lesend auf einem Ottomanen räkelt, die Pianistin Anna Wimmer (die ebenso wenig zu Wort kommt, dafür jedoch etwas vorspielen darf) und die aus dem Bayrischen Rundfunk bekannte Sprecherin Beate Himmelstoß, die immerhin auch kurz in nichtvorlesender Weise zu Wort kommt.

Babette Babich spricht vor einem schwarzen Hintergrund.

Gerade weil Heit jedoch davon erzählt, dass sich die Nietzsche-Lektüretage dem Anspruch nach von üblichen akademischen Konferenzen unterscheiden (auch Arno Böhler äußert entsprechend – mit Recht –, dass er es seltsam finde, wenn Nietzsche- dem Format nach nicht von Kant-Konferenzen differieren), wäre es doch spannend gewesen, wenigstens kurz zu zeigen, wer an diesen ominösen Lektüretagen so teilnimmt und wie hier die Nietzsche-Rezeption stattfindet. Meines Erachtens wäre ein wirklich spannender Film dabei entstanden, kollektiv oder in Kurzportraits einfach mal alle Teilnehmer dieser tatsächlich von üblichen akademischen Standards in positiver Weise abweichenden Lektüretage ins Bild zu bringen und ihre Zugänge zu Nietzsche vorzustellen. Es hätte sich dabei äußerst heterogenes Bild ergeben, eine vielfältige Ansammlung von Leuten, die man normalerweise eher nicht auf wissenschaftlichen Veranstaltungen vermuten würde und die sich aus jeweils ganz eigenen Gründen zum Außenseiter Nietzsche derart hingezogen fühlen, dass sie wegen ihm in die Schweizer Hochalpen pilgern: Von ehemaligen Bundeswehroffizieren im Rentenalter, Historikern, Pianistinnen, Theologinnen, Philosophen aller Couleur bis hin zu Schauspielern, Psychotherapeuten, Komponisten, bekannten Rundfunksprecherinnen und etablierten Nietzsche-Forschern mit mal mehr, mal weniger großen persönlichen Marotten kam es dort zu den unwahrscheinlichsten Begegnungen und ungewöhnlichsten Debatten. Das wäre doch eine Geschichte, wie man sie sich nicht ausdenken könnte! Doch stattdessen haben sich die Filmmacher eben zu einer arrivierten Personage entschieden: Neben Heit, damals Professor an der Tongji Universität in Shanghai und mittlerweile Direktor des Kollegs Friedrich Nietzsche in Weimar, sind die Hauptpersonen des Films die erwähnte Babette Babich, ebenfalls Professorin und Koryphäe der amerikanischen Nietzsche-Forschung, der Philosophiedozent Arno Böhler, René Tichy, Betreiber einer philosophischen Praxis in Wien, und die Philosophin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow. Das ist keine schlechte Auswahl, die zumal eine gewisse Breite der gegenwärtigen Zugänge zu Nietzsche abdeckt, und wie erwähnt haben alle diese Leute auch wirklich etwas Kluges zu Nietzsche zu sagen. Doch die Dokumentation bleibt eben hinter den inhaltlichen Aussagen auch der an ihr Beteiligten zurück: Wieso soll eine Dokumentation über Nietzsche dasselbe Format wie eine über Heidegger, Hegel, Marx oder Kant, kurz: irgendeinen, Philosophen haben? Wieso den etablierten Nietzscheanismus ins Bild bringen und nicht den noch einmal deutlich heterogeneren realexistierenden, inoffiziellen Nietzscheanismus, den man sogar ganz bewusst aus dem Bild verbannt?

Wie ‚feminin‘ ist Nietzsche? – In der Tat ein reales Problem.

Und wieso eine Form wählen, die dem Gegenstand vollkommen äußerlich ist? Der Film produziert weitgehend gefällige Hochglanzbilder. Endlos schwelgt er in der Landschaft des Engadins, mal von elektronischen Sphärenklängen, mal von jazzigem Klavierspiel unterlegt. Sichtlich hat man sich darum bemüht, vereinzelte Irritationen einzubauen. Der Saxophonist Matthias Vieider etwa wird gezeigt, wie er den Namen Nietzsche stammelnd und schrille Pfeiftöne in sein Instrument rotzend durch Wien zieht, Naturvorgänge werden rückwärts abgespielt, die Stimme von Böhler wird gelegentlich von einer weiblichen überblendet, teilweise ganz durch sie ersetzt, die seine Worte spricht. Doch das sind durchschaubere Provokationen, ohne welche selbst ein Hollywood-blockbuster heute nicht mehr auskommt, die längst selbst Teil der Sehgewohnheit geworden sind. Von der oft besprochenen Loslösung von Traditionen und Konventionen ist gerade auf dieser formalen Ebene erst recht nichts zu merken. Insbesondere die Ersetzung der Stimme Böhlers ist nur allzu leicht als anspielende Problematisierung der männlichen Sprechdominanz in der Wissenschaft zu verstehen – entsprechend gibt es ganz am Ende des Films noch eine kleine queer performance, in der der Schriftsteller und Musiker James Delaney mal mehr mal weniger feminin gekleidet und geschminkt wird und dazu Stellen aus Menschliches, Allzumenschliches, in denen Nietzsche von Frauen spricht, gelesen werden. Auch diese sind in ihrer Provokationskraft nicht mit denen der späteren Schriften vergleichbar – und erst recht ist es in Zeiten von Conchita Wurst kaum noch subversiv, dergleichen zu zeigen. Durch künstliche Längen wird zwar eine gewisse Langsamkeit erzeugt, doch mit den Sehgewohnheiten selbst der heutigen youtube-Generation wird dadurch nicht in provokanter Weise gebrochen (wie etwa in Grönings Film in sehr interessanter Weise) – obwohl Babich auf die spannende Frage nach der Bedeutung des Aphorismus als Form in Zeiten von youtube-Clips dezidiert eingeht. Der Film erzeugt, jedenfalls bei mir, durchaus Langeweile, doch nicht in einer Weise, die ich irgendwie wertschätzen könnte.

Helmut Heit auf dem Weg ins Nietzsche-Haus.

Was nun zu guter Letzt den Inhalt angeht, ist dies wie gesagt die stärkste Seite des Films. Sein formaler Konventionalismus führt auch wenigstens dazu, dass die inhaltlichen Statements der Befragten voll zur Geltung kommen. Es wird vieles gesagt, was dem Nietzsche-Enthusiasten bekannt ist – woher die erwähnte Langeweile durchaus rühren dürfte. Doch sie stellt sich eben auch ein, weil es nicht die spannendsten Aspekte von Nietzsches Werk sind, die hier verhandelt werden, sondern das common sense-Buch Menschliches, Allzumenschliches I. Nietzsche wird in dem Film nicht nur auf der ästhetischen, sondern auch inhaltlichen als sehr gut mit dem heutigen neoliberal-aufgeklärten Zeitgeist vereinbarer, sehr zeitgemäßer Denker dargestellt, bei dem man im Grunde nicht so recht weiß, warum man ihn überhaupt als ‚radikal‘ begreifen sollte oder woher genau seine große Faszinationskraft rührt; als Inspirator der Kunst, als Freigeist und als Psychologe und mithin Vordenker von Freud und den Post-Strukturalisten. Das ist alles richtig, wichtig und vielleicht schon provokant genug, doch eben genauso eine verfälschter Nietzsche wie der vom Film verschwiegene der Nazis. Es fehlt vor allem die rote Linie: Alle Aspekte werden mal kurz angerissen und vor allem angedeutet, doch keiner wird so richtig ausgeführt und in einen Gesamtkontext integriert. Diese Schwäche des Films mag nun tatsächlich auch an Nietzsche selbst liegen, der eine innere Einheitlichkeit des Werkes zwar vehement als ästhetisches Ideal vertritt, ihm jedoch selbst nicht zu entsprechen vermag, an anderen Stellen das Einheitliche des Systems dezidiert als Verfälschung der Wirklichkeit ablehnt. Doch ein klein wenig mehr Pointierheit und vor allem Konzentriertheit hätte dem Film dennoch gutgetan. So ist er einerseits zu fokussiert auf ein sehr einseitiges, alles Störende verdrängende Nietzsche-Bild, andererseits aber eben doch zu spielerisch, insofern dieses Nietzsche-Bild dann auch keine wirklich klaren Konturen erhält. Es ist so, als hätten wir es mit einem gemäß der zeitgemäßen Mode glattrasierten Nietzsche zu tun, dem sein Schnurrbart fehlt.

Beate Himmelstoß gerät ins Schwärmen.

Nietzsches in der Tat radikale Forderung nach einer „großen Loslösung“, einem fundamentalen Bruch mit den existierenden Werten und Konventionen, findet in dem Film jedenfalls auf formaler wie auch inhaltlicher Ebene nicht statt und das lässt ihn fast ein wenig komisch wirken. Dabei gäbe es dafür – von der Idee jener „großen Loslösung“ an sich einmal abgesehen – genug Anhaltspunkte selbst in Menschliches, Allzumenschliches I: So steht etwa der gesamte Abschnitt Ein Blick auf den Staat unter der Prämisse: „Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Musse Befähigten; oder mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit.“ (Aph. 439) Wenn Nietzsche die moderne Arbeitsgesellschaft kritisiert – wie etwa Heit zu Recht betont –, dann tut er das vor dem Hintergrund dieser elitären Vorstellung von Kultur. Ein „freier Geist“ soll für ihn nicht jeder sein, sondern nur eine kleine Elite von auserwählten.2)Jedenfalls auf dieser ‚realpolitischen‘ Ebene – der Zarathustra ist bekanntlich mit „Ein Buch für Alle und Keinen“ überschrieben. Den moralischen Protest gegen Ungleichheit führt er auf psychologischen Narzissmus zurück: „Man protestirt im Namen der ‚Menschenwürde‘: das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestellt-sein, das Oeffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Loos empfindet.“ (Aph. 457) Und er behauptet, „dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege — also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.“ (Aph. 477) Um es nochmal zu betonen: Dass sind nicht entlegene Stellen in jenem Abschnitt über, wenn man so will, ‚politische Philosophie‘, sondern ganz zentrale, die dem Bild vom ‚Freidenker Nietzsche‘ nicht widersprechen (höchstens insofern man natürlich die freidenkerische Skepsis auch wiederum gegen die hier aufgestellten Behauptungen richten könnte), sondern entspricht ihm vielmehr, insofern Nietzsche einerseits Thesen ausspricht, die schon damals dem common sense und politischen Korrektheit der Zeit widersprachen, und andererseits etwas über das von dieser Denkmoral Verdrängte aussagen; über dasjenige also, was de facto bestehende Moral (insofern die Menschen sich wirklich so verhalten) ist, aber was eben nicht gesagt oder gedacht werden darf. Was man auch immer mit solchen Überlegungen anstellt: Die Macher der Dokumentation blenden diese Seite von Nietzsche völlig aus und damit einen wesentlichen Teil seiner Wirkungs- und nicht zuletzt Provokationsgeschichte. Dabei sind gerade diese ‚dunklen‘ Stellen es, die wichtige Fragen aufwerfen: Vielleicht hat Nietzsche schlichtweg Recht mit allem, was er über das Ideal der sozialen Gleichheit sagt und die Notwendigkeit von Krieg und Gewalt? Was ist genau das Gegenargument? Und wie grenzt man ‚diesen Nietzsche‘ genau von seiner faschistischen Deutung ab? Und vom restlichen? Das sind jedenfalls alles Fragen, die nicht nur gestellt werden müssen, wenn man sich ernsthaft mit Nietzsche befassen und dem von ihm gestellten Anspruch einer „großen Loslösung“ gerecht werden will, sondern die auch der Sache nach von höchster Brisanz sind. Diese ganze Dimension Nietzsches auf einige wenige Anspielungen zu reduzieren ist jedenfalls zu wenig.

Anna Wimmer ins Spiel vertieft.

Nietzsche ist alles, nur nicht politisch korrekt oder mit irgendeiner Form von politischer Korrektheit vereinbar – über ihn einen politisch korrekten Film machen zu wollen, bringt einem vielleicht Filmpreise ein und die (zweifelhafte) Ehre, endlich einmal einen Nietzsche-Film für den Ethikunterricht vorgelegt zu haben, führt aber darum noch lange nicht zu einem überzeugenden Resultat. Vielleicht beim nächsten Mal dann doch lieber ein Kant-Film …

Fußnoten

Fußnoten
1 Aus dem Gedächtnis zitiert.
2 Jedenfalls auf dieser ‚realpolitischen‘ Ebene – der Zarathustra ist bekanntlich mit „Ein Buch für Alle und Keinen“ überschrieben.

2 Comments

  1. Christian Will schrieb:

    Sehr couragierte Kritik 😉

    Freitag, 21. Dezember 2018 um 07:52 Uhr | Permalink
  2. Regula Graf schrieb:

    diese umfangreiche rezension, die bereits eine einführung ins werk nietzsches. danke dir! ich kenne nur den dokumentarfilm und dazu scheinen mir deine ausführungen sehr treffend. als quintessenz habe ich verstanden: der versuch auf vielen hochzeiten zu tanzen, misslingt meistens… dass die nietzsche-lektüretage nicht entsprechend gewürdigt werden, scheint mir ein berechtigter entscheid der regie. das wäre ein anderer filmstoff…

    Freitag, 21. Dezember 2018 um 09:18 Uhr | Permalink

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