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Pressemitteilung von „Nicht ohne uns Sachsen“ zur Aufhebung der Versammlungsfreiheit in Sachsen

Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir ausnahmsweise einmal einen eher unphilosophischen tagespolitischen Gastbeitrag, nämlich eine Pressemitteilung von Nicht ohne uns Sachsen, die jeden Demokraten aufrütteln sollte. Der zentrale Artikel 8 des Grundgesetzes, in dem die Versammlungsfreiheit garantiert ist, wurde nahezu völlig außer Kraft gesetzt aufgrund der Corona-Krise.

„Nicht ohne uns Sachsen“ (NOUS) ist der sächsische Arm der bundesweit aktiven „Nicht ohne uns“-Kampagne. Der Schwerpunkt der Aktivitäten von NOUS liegt in Leipzig. Wie auch die bundesweite „Nicht ohne uns“-Kampagne wollen wir uns friedlich für eine genaue wissenschaftliche Prüfung der Notwendigkeit der bestehenden Sondergesetze und -verordnungen einsetzen. Wir wollen außerdem verhindern, dass aus dem „Ausnahmezustand“ eine neue Normalität wird. Insbesondere kritisieren wir, dass ein legaler wirkungsvoller Protest gegen die aktuelle Politik kaum mehr möglich ist.

Während in Berlin und anderen Bundesländern immerhin noch Demonstrationen unter bestimmten Auflagen (wie die Einhaltung eines gewissen Mindestabstands oder das Tragen von Schutzmasken) möglich sind, ist in Sachsen nun der Artikel 8 des Grundgesetzes, der das Recht aller Deutschen garantiert, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, anscheinend außer Kraft gesetzt. Auch Personen aus unserem Umfeld erhielten kürzlich E-Mails vom Ordnungsamt der Stadt Leipzig, in denen sie deutlich gewarnt wurden, dass in Sachsen derzeit alle Versammlungen – unabhängig von der Anzahl der Teilnehmenden – untersagt seien und der Aufruf zu ihnen strafbar. Ausnahmen seien nicht möglich.

Wir begrüßen es einerseits, dass das Ordnungsamt der Stadt Leipzig nicht einfach ohne Vorwarnung Repressionen vollzieht, erblicken in diesen E-Mails jedoch zugleich auch einen äußerst bedenklichen Einschüchterungsversuch notwendigen Protests.

Wir rufen daher auch weiterhin dazu auf, gerade in Sachsen, gegen die Corona-Politik der Regierung zu protestieren. Es muss, wie auch in anderen Bundesländern, auch in Sachsen weiterhin möglich sein, sich zu versammeln, um gegen aktuelle Maßnahmen der Regierung sichtbaren Widerspruch einzulegen – das Versammlungsrecht steht nicht zufällig im Grundgesetz an so prominenter Stelle. Betroffen von diesen Einschränkungen sind nicht nur wir, sondern beispielsweise auch Menschen, die gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik demonstrieren wollen – hier stehen Menschenleben auf dem Spiel, dieser Protest kann nicht einfach um ein paar Wochen nach hinten verschoben werden.

Es ist sehr fraglich, warum politische Demonstrationen nun generell verboten sind, in Supermärkten oder sogar auf dem Wochenmarkt jedoch weiterhin dicht gedrängt eingekauft werden kann.

Wir lassen uns jedenfalls nicht einschüchtern, sondern fühlen uns durch die E-Mails in unserer Einschätzung nur bestätigt. Als Möglichkeit des legalen Protests gegen die herrschende Corona-Politik rufen wir daher alle Bürger/innen dazu auf, ab jetzt jeden Tag um 18 Uhr das in solchen Situationen bewährte Lied Die Gedanken sind frei anzustimmen, bis zumindest die allgemeine Ausgangssperre aufgehoben worden ist und friedliche Demonstrationen wieder möglich sind.

Am Ostersonntag führen wir außerdem unter dem Motto „Wo ist nur das Grundgesetz?“ in der Leipziger Innenstadt und den umliegenden Parkgebieten ab etwa 12 Uhr eine demokratische Ostereiersuche durch. – Halten Sie die Augen offen.

 

Weitere Informationen:

Zur Kampagnenseite von „Nicht ohne uns“

Zur Kampagne „Singen gegen den Corona-Coup“

 

Kontakt: nicht_ohne_uns_sachsen@riseup.net

4 Comments

  1. Paul Stephan schrieb:

    Als Philosoph finde ich in diesem Zusammenhang vor allem die Frage spannend: Was ist die Bedeutung der Versammlungsfreiheit?

    Wie in der PM ja zu Recht bemerkt wird, handelt es sich ja um ein prominentes Recht, wenn man die Reihenfolge der Nennung der Recht im GG als Indiz werten darf. Es kommt bspw. vor der Vereinigungsfreiheit (Art. 9), dem Postgeheimnis (Art. 10) und sogar der Freizügigkeit (Art. 11), die jetzt natürlich auch nicht mehr gilt.

    Der Witz an diesem Recht scheint mir zu sein, dass es sich um *konstitutives Recht*, denn es ermöglicht den wirksamen und wahrnehmbaren Protest gegen die Regierung. Wenn die Parlamente versagen, muss es dem Volk möglich sein, sich friedlich zu versammeln, um in einer Volksversammlung die Absetzung des Parlaments zu beschließen.

    Das ist bis heute so, wenn man etwa in die Ukraine schaut: Auch in unseren digitalen Zeiten führt kein Weg an physischen Versammlungen vorbei, wenn es um wirksame Proteste geht – darum, die Regierung eben zur Not auch zu stürzen unter Berufung auf Art. 20 Abs. 4 GG.

    Online-Proteste sind gut und schön, aber sie können die Macht einer physischen Versammlung eben nicht ersetzen.

    In unserer Postdemokratie wirkt Art. 8 fast wie ein anachronistisches Relikt aus früheren Zeiten. Wer war in seinem Leben schon einmal demonstrieren? Sowas machen ja eigentlich nur Spinner. In meiner Einführung in den Links-Nietzscheanismus bemerke ich im Schlusskapitel, dass heute gegen jedwede politische Demonstration eine viel größere Gegendemo stattfindet: für den neoliberalen Konsumindividualismus.

    Dem entspricht die gesamte Corona-Politik: Ein neoliberaler Individualismus. Hauptsache, du gehst arbeiten – und in deiner eigenen Wohnung kannst du dich ja ausleben. Weil die Leute ohnehin schon an dieses eingeschränkte Freiheitsverständnis gewöhnt sind, schlucken sie die Maßnahmen eben so widerstandslos.

    Aber Freiheit ist eben wesentlich *soziale Freiheit*: sich zu versammeln, sein Gesicht zu zeigen, sich im gemeinsamen Raum zu bewegen.

    Es geht hier um einen Konflikt zwischen zwei Freiheitsverständnissen im Grunde: neoliberale gegen soziale Freiheit.

    Konsumieren und in eng befüllten Bussen und Bahnen zur Arbeit und zum Konsum fahren darf man – demonstrieren nicht.

    Ich denke, angesichts der jüngsten Entscheidungen des BVG gibt es momentan gute Gründe, sich auf Art. 20 Abs. 4 zu berufen, da mit der Versammlungsfreiheit ein zentraler Bestandteil der FDGO nun nicht mehr gilt.

    Gewisse Beschränkungen der Versammlungsfreiheit wegen Corona wären zweifellos angemessen – die völlig Aufhebung dieses essentiellen Grundrechts ist es nicht.

    Man müsste für das Recht aufs Demonstrieren demonstrieren.

    Samstag, 11. April 2020 um 11:13 Uhr | Permalink
  2. Roman Schmidbauer schrieb:

    „Konsumieren und in eng befüllten Bussen und Bahnen zur Arbeit und zum Konsum fahren darf man – demonstrieren nicht.“

    Besser kann man es eigentlich nicht ausdrücken, das bringt die momentane Situation perfekt auf den Punkt!

    Finde dieses Detail auch sehr kurios:

    https://www.welt.de/politik/deutschland/article207198029/Coronavirus-Sachsen-will-Quarantaene-Verweigerer-in-Psychiatrien-sperren.html?wtrid=socialmedia.socialflow….socialflow_facebook&fbclid=IwAR3viMrBip779ambtJUe4HZ9biM6JkOxgBQpHeooW-zFA6On0SgVXSk9cw0

    „Wer war in seinem Leben schon einmal demonstrieren? Sowas machen ja eigentlich nur Spinner.“

    Interessanterweise habe ich das Gefühl, dass gerade andere Leute demonstrieren gehen als die „üblichen Verdächtigen“, sogar als diejenigen, die so oder so zu unangemeldeten Demos neigen.

    Ich weiß nicht, was ich aus dieser Beobachtung machen soll und vielleicht nehme ich das auch falsch wahr, wollte es nur mal erwähnt haben. 😉

    Samstag, 11. April 2020 um 12:30 Uhr | Permalink
  3. Roman Schmidbauer schrieb:

    Achso, btw. was sagst du „als Philosoph“ eigentlich dazu:

    https://www.deutschlandfunkkultur.de/mit-hegel-durch-die-coronakrise-freiheit-heisst-nicht-dass.1008.de.html?dram:article_id=474037

    Ich finde eigentlich immer mehr, dass diese Behauptung, dass Freiheit angeblich nur ein leeres Wort sei, wenn man nicht sagt von und zu was, selber leer ist.

    „Freiheit ist keine Metapher“, wie es in einem anderen Kontext mal hieß, trifft es vielleicht dann doch besser.

    Samstag, 11. April 2020 um 12:33 Uhr | Permalink
  4. HARP schrieb:

    Erklärung aus aktuellem Anlass: Die HARP distanziert sich mittlerweile von der Kampagne „Nicht ohne uns“ aufgrund deren zu großer Verbindung zum verschwörungstheoretischen Milieu (vgl. dazu auch die Austrittserklärung unseres Bloggers Paul Stephan auf diesem Blog).

    Sonntag, 3. Mai 2020 um 03:09 Uhr | Permalink

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