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Corona und die Krise der Freiheit

Hier möchte ich die Weigerungen gegen die einschränkenden Maßnahmen in das Privatleben als Anlass nehmen, um einen Trugschluss aufzudecken, der die freie Gesellschaft mit der Verwirklichung der individuellen Freiheit gleichsetzt. Dafür kehren wir in das späte neunzehnte Jahrhundert zurück, das wie ein ferner Spiegel Auskunft über die sozialen Verhältnisse von Heute gibt.

In einer Stadtansicht auf den Pariser Boulevard des Capucines stellt Claude Monet sich eng beinander tummelnde Passanten dar (Abb. 1). Das Bild wirkt wie eine momenthafter Ausblick auf die Stadt, denn die Passanten wirken als ob sie strömen, doch sie stehen auf dem Platz. Hier ist die Wechselwirkung von Nähe und Distanz, die im Auge des Betrachters entsteht und die sozial historische Entwicklung von Seh- und Lebensgewohnheiten wichtig. Wenn man bedenkt, dass die Straßenansicht einen Ausblick aus dem Fenster darstellt, (davon müssen wir ausgehen, wenn man auf die gegenüberliegende Häuserfront blickt und die rechts im Bild herausschauenden Männerfiguren gewahrt) dann ist zunächst eine Distanz des Einzelnen Betrachters zu der Menschenmenge festzustellen. Die Betrachter dieses Bildes teilen so nicht nur den selben Ausblick wie den der herabblickenden Personen, sondern auch die Distanz zur Menge.

Neben der abgebildeten Menge, gibt das Bild einen gleichmäßig grob aufgetragenen Pinselstrich des Malers kund. Der pastose Farbauftrag greift bis zu den vereinzelt herausblickenden Männern über, so dass selbst die dem Betrachter nahstehenden Personen anonym bleiben. Die einzelnen Tupfer können nämlich keine detaillierte Auskunft über die jeweiligen Personen geben. Monets Malstil leistet seinen Beitrag zur Entfremdung des Einzelnen. Zugleich geht aus der Perspektive jener Herausschauenden eine der Distanzierung entgegenwirkende Annäherung hervor. Da das Distanzgefühl durch den Identifikationsprozess mit den Herausblickenden entsteht, vermitteln die Identifikationsfiguren eine perspektivische Abhängigkeit zum Bild und rufen daher einen immersiven Effekt hervor, durch den sich der Betrachter als solcher im Bild wieder erkennt.1)Vgl. House, John: Impressionism. Paint and Politics, New Haven/London 2004, S. 106. Die intelligente Auswahl von Perspektive, Figurenkonstellationen und Sujet erzielt eine Wechselwirkung von Nähe und Distanz des Betrachters zum Boulevard des Capucines. Beide Haltungen zum Bild, Distanz und Immersion, ergänzen sich gegenseitig, indem sie sich ersetzen. Darin liegt die Dynamik des Kunstwerkes, das somit einen Gedankengang anstößt, der nicht an Aktualität verloren hat: Das moderne Stadtleben lässt eine neue Spannung zwischen der undifferenzierbaren Menschenmenge und der einzelnen Person entstehen. Verfremdung und Distanz zu den Mitmenschen prägt das soziale Leben. Mit der fortschreitenden Anonymisierung, Vermassung und Distanz intensiviert sich zugleich der Selbstbezug. Dieser äußert sich darin, die Besonderheit man selbst zu sein hervorzuheben. Die Vermassung westlich industrialisierter Großstädte geht Hand in Hand mit einem individualistischen Menschenbild.

Claude Monets Boulevard des Capucines (Abb. 1)

Ich muss gestehen, dass der Gedanke, den Monets impressionistische Bildsprache in mir auslöst, nicht ohne die Lektüre einiger Arbeiten entstehen konnte. Daher möchte ich sie hier teilen und nur in wesentlichen Zügen skizzieren: Noch bevor die Philosophie das moderne Bürgertum behandelte, stellten die englischen Ökonomen A. Smith, Ray und Ricardo eine politisch-ökonomische Theorie auf, in der die egoistische Selbsterhaltung zum Gemeinwohl beiträgt.2)Vgl. Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat, Frankfurt am Main 2010, S. 394. Das Bedürfnis des Einzelnen und seine durch die Arbeit bewerkstelligte Befriedigung stellen den Grundpfeiler der bürgerliche Gesellschaft dar, die Hegel als „System der Bedürfnisse“ bezeichnet. Aus diesem Gesellschaftsbild geht das bürgerliche Menschenbild hervor, das ihn als ökonomisches Wesen bestimmt. Die produktive Arbeit und sein materielles Bedürfnis definieren den Bürger,3)Vgl. Ritter, Joachim: Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt am Main 1965, S. 52 f. der zugleich den Zyklus von Produktion und Verbrauch aufrechterhält. Mit diesem ökonomischen Menschenbild folgt eine weitere wichtige Veränderung des sozialen Lebens. Da sich nun die Arbeitsteilung zum treibenden Motor des Bürgertums erhob, entwickelte sich in seiner Gesellschaft die Idee der Freiheit des Einzelnen. Man sah in der Vervielfältigung und der Loslösung familiengebundender Arbeitsabläufe sich die freie Berufswahl ermöglichen. Mit einer ökonomischen Definition der Freiheit wurde die Privatperson zu ihrem Träger deklariert.4)Vgl. Ibd, S. 56 ff. Ein Abschnitt aus Simmels Die Großstädte und das Geistesleben gibt die Ursache für die Freiheit, die wirtschaftlichen Eigeninteressen nachzugehen zu erkennen. Die hohe Menschenanzahl in modernen Städten ermöglicht dem Einzelnen die individuelle Unabhängigkeit, denn in größeren Gesellschaften liegt ein größerer gesellschaftlicher Handlungsraum vor, wodurch sich zwangsläufig verschiedene soziale, politische Gruppen ausdifferenzieren. Die Identifikation findet auch im Arbeitsumfeld statt, das in urbanen Arealen ohnehin eine entscheidende Sphäre des sozialen Lebens bildet und dort ausdifferenziert auftritt.5)Vgl. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Hauser, Susanne (Hrsg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 1, Bielefeld 2011, S. 152 ff. Man kann in Simmels Text eine unlösbare Verbindung zwischen der zunehmenden Konzentration der Bevölkerungsanzahl und einer Priorität der Geldwirtschaft erkennen, die das Leben moderner Gesellschaften antreibt.6)Vgl. Ibd., S. 148. Zugleich gewinnt mit der sich ausdifferenzierenden und sich ökonomisierenden Lebenswelt die individuelle Privatperson an Bedeutung. Die moderne Erscheinung des privaten Individuums folgt unmittelbar aus der Vermassung, die ihrerseits auf eine rein wirtschaftlich organisierte Gesellschaftskonzeption zurückgeht. Die kulturelle und soziale Erscheinung des bürgerlichen Individualismus hat sich also nicht nur wegen der sozialen Homogenität intensiviert. Die anonyme Privatperson wurzelt in der ökonomischen Tradition, die den Menschen als reines Produktions- und Konsumtionswesen betrachtet. Deswegen ist die Freiheit des Einzelnen auch nur im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Entfaltung von Bedeutung.

Monet bildete bereits 1873 die gegenwärtigen Verhältnisse und psychologische Selbstwahrnehmung durch ein unlösbares Spannungsverhältnis zwischen dem privaten Leben und der fremden, anonymen Menge ab. In der Weise, wie wir als Betrachter seine Bildsprache wahrnehmen, spiegelt sich im Gemälde eine bürgerliche Lebensform wider, worin Selbstbestimmung und Selbstaufhebung in einer dialektischen Bewegung sehr nahe treten. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die heutigen Reaktionen und Rufe nach individueller Freiheit eine Ambiguität der Entfremdung vernachlässigen, die in den politisch-ökonomischen Lehren verwurzelt ist. Neben der Vereinsamung, die besonders in der sozialen Wirklichkeit des Bürgertums erscheint, gibt ein Blick auf dessen Machtdimension die Kontinuität zwischen den einschränkenden Coronamaßnahmen und der bürgerlichen Freiheit zu erkennen. Es ist hier vor allem interessant, zu sehen wie sich die liberale Aneignung des Freiheitsbegriffs gegenüber dem ökonomischen Zwang verhält ein vereinzeltes Bedürfnis- und Produktionswesen sein zu müssen.

Foucault sieht diese Kippfigur von ökonomischer Freiheit und ihrem Zwangcharakter im pastoralen Charakter der christlichen Ideenwelt verankert.7)Vgl. Foucault, Michel: Omnis et singulatim. Zu einer Ktitik der politischen Vernunft, in: Daniel Defert; Francois Ewald (Hrsg.): Schriften in vier Bänden. Dits et écrits (Bd. 4), Frankfurt am Main 2005, S. 169 ff. Der christliche Gott opfert sich nämlich als Hirte für die Menschen auf, um die Seelen zu ihrem Heil zu lenken. Die Beziehung zwischen dem wohlwollenden Gott und einer in ihn vertrauenden Gemeinde erhält die Vorsehung Gottes, welche das menschliche Leben im Einklang mit seiner natürlichen Freiheit lenkt. So entsteht eine Konvergenz zwischen dem menschlichen und natürlichen Handeln und dem ihm übergeordneten Willen Gottes.8)Vgl. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin 2014, S. 136. Die Vorsehung transzendiert die willkürlichen Dimension der Welt und ihre kontingenten Ereignisse. Die individuellen Handlungen bahnen den Weg zu einem übergeordneten Zweck, der im christlichen Bild der erlösten Seele und dem Reich Gottes liegt. Diese Vorstellung führt anschließend zur Vorstellung, dass gerade weil die aus der christlichen Seele verrichteten Handlungen einem übergeordneten Willen entsprechen, freie Handlungen darstellen. Daraufhin liegen Freiheit und Macht in einer Handlungsebene eingebettet, die sowohl aus dem transzendentalen Wohlwollen als auch aus den natürlichen und kausalen Zusammenhängen hervorgeht. Profanisiert man die den pastoralen Mechanismus, so stellt sich eine den politischen Theorien des Liberalismus nahe Form des Wohlfahrtsstaats heraus. Die Macht erscheint in den heutigen Zeiten nicht als äußerlicher Eingriff, sondern findet innerhalb der liberalen Ordnung und ihrer freien Individuen statt. Die modernen Regierungen bilden daher ein besonderes Machtgefüge ab, in dem die ökonomische Eigenregie und die wohlfahrende Fremdregie miteinander verwoben sind. In Form eines Gouvernements herrscht die Regierung sofern sie die Möglichkeitsbedingungen einer Lebensform freisetzt, die sich allein durch ökonomische Erhaltungsprinzipien reguliert. Spätestens jetzt wird deutlich, dass die Macht des Liberalismus kein herkömmlicher Zwang, sondern eine produktive Kraft darstellt, die im Gewand der Freiheit eine freie Entfaltung auf das Überleben hin gerichtete Handlungen ermöglicht und mögliche Lebensformen apriori ausschließt, die neben oder anstatt einer konsum- und produktionsgeprägten Gewohnheit bestehen könnten. Das Gouvernement agiert auf Ebene einer Sorge um sich, die hier auf das natürliche Leben gerichtet ist und bloß die biologische und reproduktive Dimension des Überlebens eingrenzt. Der gouvernementale Machtbegriff ereignet somit auf einer existentiellen Ebene des Individuums, in dem eine Wechselwirkung zwischen der ökonomischen Selbstbestimmung und ihrer Ichauflösung stattfindet. Mit der Ökonomisierung des Lebensbereichs wird das reine Überleben der Menschen, ihre Gesundheit und Sicherheit zum alleinigen Gegenstand des Regierungsinteresses erhoben.

Die Maßnahmen der Coronakrise folgen, wie man sieht, aus jener gouvernementalen Struktur, denn sie versuchen gleichermaßen die Gesundheit der Bevölkerung und die des Einzelnen zu sichern. Daraus erschließt sich, dass der privaten Freiheitsbegriff und ihre gesellschaftliche Realisierung den Grundstein für die Wohlfahrtsregierung legt, die die Gesundheit und den Wohlstand an oberster Stelle setzt. Aus diesem Gesichtspunkt zeigt sich, dass der Appel nach der Abschaffung jener staatlichen Sorge um die Gesundheit und die Rückerstattung der liberalen Werte paradox ist. Auf Grundlage dieser in Bewegung gesetzten Gedanken, möchte ich die These wagen, dass zwischen einer kulturellen Verankerung der Handlungsfreiheit auf das ökonomisch handelnde Individuum, den gouvernementalen „Normal-“ und den heutigen Coronazustand eine Kontinuität herrscht. Solange „Freiheit“ als eine individuelle Interessenverfolgung verstanden wird, bleibt der Kern des gesellschaftlichen Zustands einer pandemischen Krise unverändert. Der Wunsch nach Freiheit schafft vielmehr die Grundlage dafür, dass sich das Leben als ein natürlicher Erhaltungsprozess gestaltet. Die Kritik an die politischen Eingriffe in das Privatleben enttarnt sich dann als eine Affirmation gegenüber jenen theoretischen Grundlagen, aus denen die Wohlfahrtsregierung, ihre gesundheitspolitischen Regularien und ihre modernen Konsequenzen wie Vereinzelung, Anonymisierung und Vermassung hervorgehen.

 

Abbildungsverzeichnis:

Abb. 1

Monet, Claude: Der Boulevard des Capucines, 1873, 61 x 80 cm, Öl auf Leinwand, Puschkin Museum, Moskau.

Wildenstein, Daniel: Monet (Band 2), Köln: Taschen, 2003, S. 124 (Nr. 292)

 

Literaturverzeichnis:

Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin: Suhrkamp, 2014.

Foucault, Michel: Omnis et singulatim. Zu einer Ktitik der politischen Vernunft, in: Daniel Defert; Francois Ewald (Hrsg.): Schriften in vier Bänden. Dits et écrits (Bd. 4), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 165 – 198.

House, John: Impressionism. Paint and Politics, New Haven/London: Yale University Press, 2004.

Ritter, Joachim: Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965

Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010.

Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Hauser, Susanne (Hrsg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 1, Bielefeld: transcript, 2011, S. 147 – 156.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. House, John: Impressionism. Paint and Politics, New Haven/London 2004, S. 106.
2 Vgl. Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat, Frankfurt am Main 2010, S. 394.
3 Vgl. Ritter, Joachim: Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt am Main 1965, S. 52 f.
4 Vgl. Ibd, S. 56 ff.
5 Vgl. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Hauser, Susanne (Hrsg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. 1, Bielefeld 2011, S. 152 ff.
6 Vgl. Ibd., S. 148.
7 Vgl. Foucault, Michel: Omnis et singulatim. Zu einer Ktitik der politischen Vernunft, in: Daniel Defert; Francois Ewald (Hrsg.): Schriften in vier Bänden. Dits et écrits (Bd. 4), Frankfurt am Main 2005, S. 169 ff.
8 Vgl. Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin 2014, S. 136.

2 Comments

  1. Frieder Verhätlnis schrieb:

    Das ist aber eine raffiniert herbeigeschriebene Beruhigungspille.Und eine ziemlich durchschaubare Ausrede für den Burgfrieden, den die heutige Linke mit dem autoritären Merkelregime geschlossen hat. Man denkt also, der erzwungene, durch Angst und Schock und Terror induzierte „Kollektivismus“ der Lämmer führe aus dem Golgatha des Kapitals, weil er uns HINTER die Errungschaften des Liberalismus führt.

    Es war mal ein Gemeinplatz der Linken, dass die Freiheitsrechte nur formel sind und nie materiel im Kapitalismus für alle zu haben sind, weswegen dieser zum Sozialismus usw. weiterentwickelt werden müsse, weil gerade hier diese Freiheit keine Illussion oder Trug ist, sondern nur hier zu realisieren. (Auch wenn das in den ersten versuchen nur begerenzt gelang). Nun aber die Freiheit gleich komplett über Bord zu werfen…also das ist Selbstbetrug. Das ist Stockholm-Syndrom oder der bekannte Effekt der Schocktherapie (N.Klein), dass der Folterer durch die herbeifolterte Infantilität alles mit sich machen lässt und den Missetäter zur Vater- oder Mutterfigur werden lässt.

    Aufklärung darüber ist erforderlich statt Autosugesstion.

    Soz. Grüße

    Dienstag, 15. September 2020 um 02:22 Uhr | Permalink
  2. König Corona schrieb:

    Wer ist Corona?

    Es ist kein Virus, dass zur Krise der Freiheit führt, kein Virus der agiert, Zustände schafft usw.

    Es sind Politiker, Verbänder, Gewerkschaften, internationale Organisationen und v.a. eine Fraktion des Kapitals, die die wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden Maßnahmen für sich zur Umgestaltung unserer Gegenwart nutzt. Und eins ist dabei garantiert: mehr Freiheit oder soziale Sicherheit kommt dabei für uns hier unten nicht dabei raus. Aber wer braucht schon Freiheit. Der König Corona alleine ist frei. Lang lebe der König.

    Dienstag, 15. September 2020 um 02:32 Uhr | Permalink

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