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Europa oder der Niedergang eines westlichen Ideals

Im Allgemeinen äußere ich mich ungern öffentlich zu tagespolitischen Themen. Hier sind andere in der Verantwortung, ihre Beiträge zu positionieren, Journalisten, Kommentatoren, Aktivisten, vielleicht sogar Politiker. Meiner Auffassung nach sollte sich die Stimme der Philosophie zu dergleichen Dingen nur dann deutlich vernehmen lassen, wenn es dabei um einen Umschwung von geschichtlichem Ausmaß geht. Andernfalls besteht die Gefahr, sich in den parteipolitischen Grabenkämpfen zu verlieren, wobei das große Ganze aus dem Blick gerät. Ein guter Indikator für das Vorliegen eines so beschaffenen Themas ist es zumeist, wenn bei der Abstimmung über ein Gesetz die Fraktionsdisziplin aufgehoben wird (wobei hier nur dem Grundgesetz genüge getan wird, doch das ist eine ganz andere Frage). Es ist jedoch beachtlich, wie die aktuelle gesamtgesellschaftliche Lage Europa vor den Rand eines Abgrunds führt. Eine Gemeinschaft, die als bloßer Wirtschaftszusammenschluss zur Kontrolle der kriegsnotwendigen Industrie begann und so ein Garant für den Frieden in Europa sein sollte, droht in viele kleine Inhumanitäten zu zerfallen. Diese aber gleichen nicht nur strukturell, sondern bald wohl auch in Form und Farbe dem einstigen Schrecken, vor dessen Hintergrund die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Friedenssicherung so bitter nötig wurde. Die Parallelen sind alarmierend: „Was kostet uns die Willkommenskultur?“, fragt die AfD1)Herausgeber ist die Vereinigung zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten, die Nähe zur AfD ist jedoch unverkennbar: In dem Blatt wird ausdrücklich ‚empfohlen‘, die AfD bei der kommenden Landtagswahl in Rheinland-Pfalz zu wählen, es werden Interviews mit AfD-Funktionären geführt und alle etablierten Parteien in einer diffamierenden Weise dargestellt. in ihrem am 02.03.2016 verteilten Rundschreiben, das im Druckgewand einer Tageszeitung daher kommt und rechnet bildhaft vor. Meine erste Assoziation hierzu war meine Großmutter. Auch sie hat in der Schule rechnen gelernt: „Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300 000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Tagessatz von 4 RM? Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1000 RM könnten – unter Verzicht auf spätere Rückzahlung – von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?“2)Quelle: http://lehrer.freepage.de/cgi-bin/feets/freepage_ext/41030x030A/rewrite/igsmainspitze/ProWo99-
Pages/Projektwoche/9.Schuljahr/mathe.html 02.03.2016, 18:20.
Heute nennen wir so etwas menschenverachtend. Doch wieso verkennt ein beängstigend großer Teil der Bevölkerung, dass es sich nicht nur bei Geisteskranken und Epileptikern, sondern auch bei Syrern und Afghanen um Menschen handelt? Sofern diese Menschen wirklich Asylberechtigte sind, die in ihrer Heimat verfolgt werden oder durch den Krieg, diese größte humanitäre Katastrophe, ihre Lebensgrundlage vollständig verloren haben, dann würde eine Sperrung der Grenzen für viele den sicheren Tod bedeuten. Inwiefern westliche Intervention zu einer Destabilisierung der Nahost-Region beigetragen hat sei dahingestellt – angesichts menschenunwürdiger Verhältnisse müsste einem aufgeklärten Bürger einer rechtsstaatlichen Demokratie selbstverständlich sein, dass die als „Willkommenskultur“ verschriene politische Haltung die einzig vertretbare ist. Doch das ist nicht der Fall. Stattdessen sehen wir den rasanten Aufstieg einer Partei, die sich zunächst als Europakritiker im Zuge der Finanzkrise positionierte, schließlich radikalisierte und nun gezielt Stimmung mit Xenophobie und Fremdenhass macht. Was hierbei oftmals verschwiegen wird ist der Aspekt der Elitenförderung, welcher sich nur aus dem Wahlprogramm ergibt und insgesamt das Bild abrundet, vor dem Adorno einst warnte: „Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr des Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern vor der Rückkehr des Faschisten in der Maske der Demokraten.“ Dieser Satz ist heute so aktuell wie noch nie. Die westliche Welt ist in einem Umbruch begriffen. Der Zustrom der Menschen aus dem Nahen Osten ist sicherlich nicht die einzige Ursache, aber vielleicht der Auslöser. Wir müssen feststellen, dass wir zu lange geglaubtchaben, dass wir in einer heilen Welt leben, dass dieser Friede, dass dieses Europa ewig währt. Im Geiste leben wir in einem Europa der Vergangenheit. Vielleicht müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass nichts schlichtweg für die Ewigkeit errichtet ist und auch in Europa bloße Inhumanität nicht ausgeschlossen sind. Diese Gefahr droht uns, mehr als alle Flüchtlingsströme. Diese Gefahr gilt es zu bekämpfen, damit das Europa der Zukunft nicht das Europa einer noch weiter zurückliegenden Vergangenheit wird.

Fußnoten

Fußnoten
1 Herausgeber ist die Vereinigung zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten, die Nähe zur AfD ist jedoch unverkennbar: In dem Blatt wird ausdrücklich ‚empfohlen‘, die AfD bei der kommenden Landtagswahl in Rheinland-Pfalz zu wählen, es werden Interviews mit AfD-Funktionären geführt und alle etablierten Parteien in einer diffamierenden Weise dargestellt.
2 Quelle: http://lehrer.freepage.de/cgi-bin/feets/freepage_ext/41030x030A/rewrite/igsmainspitze/ProWo99-
Pages/Projektwoche/9.Schuljahr/mathe.html 02.03.2016, 18:20.

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