Ein Gastbeitrag des Leipziger Philosophen Jonas Pohler. Er hatte ihn zu unserem letzten Eos-Preis eingereicht, der der Frage galt „Was müssen wir hoffen?“. Da es sich jedoch um eine Aphorismensammlung und keinen regelrechten Essay handelt, haben wir uns dafür entschieden, diesen Text hier zu publizieren und nicht auszuzeichen. Wir wünschen unseren Lesern einen hoffnungsvollen Start ins neue Jahr und eine inspirierende Lektüre.
Verteidigung der Romantik des Hoffens
I
Als ich vor Kurzem auf einer Parkbank saß – es war ein Sommertag, der mehr einem Herbsttag glich – und darüber nachdachte, wie ich und die Menschen um mich herum sich in der Großstadt bewegen, kam mir eine merkwürdige Erkenntnis. Es ist eine nicht weiter überraschende und altbekannte: Nämlich, dass wir die Sklaven von Gewohnheiten sind. Dass ich und so viele andere immer dieselben Straßen entlang gehen, dieselben Orte besuchen, uns das Gleiche aussuchen, machen und planen. Auch wenn man mir wohl antworten wird: „Erzähl uns doch etwas Neues!“, so ist mir doch, dass wenn einer das Geheimnis der Gewohnheiten entlüften würde – und ich meine wirklich ihren Wahrheiten sich annähere, ihm würde vieles aufgehen: über den Menschen, über die Geschichte, vielleicht sogar über das Leben als solches.
Ich kam an diesem Nachmittag auf der Parkbank zu einem poetischen Schluss. Obwohl es immer die ungenausten und abstraktesten sind; sind es auch die wahrsten und menschlichsten:
Wir sind doch wie Pflanzen, auch wenn wir uns bewegen.
Wir wollen immer da sein – wie aus Gewohnheit und heimlichem Trieb –, wo Licht und frisches Wasser uns versprochen sind. Wie die Hand das Feuer fürchtet, ruht diese Hundeseele auf der Parkbank aus sich selbst, was heißt, Schmerz ist Schmerz und die Welt, die ist, ist gut. Ihr sind die Sinne untrüglich und unabscheulich – tut es weh, fährt sie zurück, muss sie fressen, frisst sie – das Träumen muss sie nicht erzwingen.
Dies Poetische träumt, das Selbst träumt. Es träumt unbeschreibliche Romane, deren Götter wir sind und Zeichner. Selbst Figuren, die noch gar nichts davon ahnen. Man lacht darüber. Man lässt es dabei bewenden. Es ist wie in eine Waschmaschine zu starren: einen sinnlosen Vortex, doch unheimlich befriedigend.
Danach hatte ich einen Termin bei meiner Therapeutin. Es gibt wohl nur ein zweites Geheimnis, das noch entscheidender ist: das Geheimnis der Angst.
***
Gefragt wurde aber: Was müssen wir hoffen? – Mir liegt nichts ferner, als auf eine solche Frage akademisch zu antworten, weil es in erste Linie keine akademische Frage ist. Auch deshalb ist sie so wichtig. An dieser Stelle gibt es kein ‚Wenn und Aber‘.
So viel sei gesagt: Die Lösung dieser Frage ist mit dem zweiten Geheimnis, dem der Angst, verbunden. Man muss erwähnen, wem das Geheimnis nicht selbst eines ist, dem sind viele Fragen zu stellen. Zuerst die, ob die Kategorie ‚Geheimnis‘ aus seinem Denken schon verbannt ist. Das ist nicht nur zu bemitleiden, sondern philisterhaft. Wer schon glaubt, dass es keine Geheimnisse gäbe, den darf die Realität Lügen strafen oder wie Dostojewski in »Schuld und Sühne« schreibt:
Die Natur wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur hat keinen Platz! […] Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozess, – sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, – sie ist dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht empören. […] Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik will drei Fälle voraussetzen und es gibt ihrer eine Million! Soll man die ganze Millionen Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die Hauptsache – man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis findet auf zwei Druckbogen Platz! 1)Aus dem Russ. übertr. v. M. Feofanoff. Frechen: Komet 2000. S. 212 (Weiterlesen)
Fußnoten
↑1 | Aus dem Russ. übertr. v. M. Feofanoff. Frechen: Komet 2000. S. 212 |
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