Freude und Jauchzen
Ein literarischer Kommentar zu Kierkegaards Furcht und Zittern1)Diese Geschichte entstand als literarischer Anhang zu meinem Vortrag Kierkegaard – Für eine Ethik des kritischen Individualismus I, den man sich auf Youtube ansehen kann (Link). Ich habe dort den Ausschnitt, in dem ich diese Geschichte vorlese, auch nochmal als separates Video hochgeladen (Link).
Da saßen sie endlich einmal wieder alle vier beisammen und schmausten ihre liebsten Speisen. Die Mutter ließ sich genüsslich einen Apfel schmecken, ihre beiden Söhne tranken Wein – rot schimmerte das Glas des älteren, weiß dasjenige des Nachzüglers, dazu aßen sie eine Scheibe helles Brot; der Onkel hatte sich ein frisches Glas Bier gezapft und der Vater sich einen Teller feinstes Mana zurecht gelegt.
Der ewige Konflikt zwischen den beiden Söhnen des Herrn war einmal wieder in einen Streit ausgeartet. „Sende mich doch endlich einmal auf die Erde, Vater“, meinte Jesus erbost. „Warum darf immer nur Luzi den Spaß haben? Ich werde Wunder wirken und die Menschen in Scharen zu Dir führen. Die ganze Welt soll sich vor Dir verbeugen und Deinen Namen preisen, nicht nur diese elenden Kameltreiber.“ „Sprich nicht so über mein Volk“, sagte der Vater sanft. „Ich habe meinen besonderen Plan mit ihm. Die Zeit ist noch nicht reif. Dein älterer Bruder soll die Menschen erst einmal vorbereiten.“ „Vorbereiten, vorbereiten!“, Jesus geriet außer sich. „Seit der Aktion mit der Schlange machen die doch ohnehin was sie wollen. Ja, es war richtig, den Menschen die Freiheit zu geben. Doch was machen sie damit? Türme bauen, Reiche errichten, sich wechselseitig abschlachten … Selbst die Sintflut hat sie nicht zur Besinnung gebracht. Und wenn ich mir diese Ziegenhirten ansehe, wird mir ohnehin ganz schlecht. Wenn ich zu denen gehe, blüht mir Übles, das spüre ich.“ „Komm mal runter“, entgegnete Luzifer gelassen, ehe er sich einen guten Schluck vom Rotwein gegönnt hatte. „Predigst Du nicht Sanftmut und Feindesliebe? Ich glaube nicht, dass die Menschen noch irgendeiner Aufsicht unsererseits bedürfen. Sie sind jetzt frei. Lass sie sich doch gegenseitig abschlachten, vergewaltigen, niedermetzeln. Sollen sie das Böse nur in vollen Zügen auskosten. Die Besinnung wird von selbst kommen. Wir haben uns schon genug eingemischt und damit in der Regel alles noch viel schlimmer gemacht.“ Gott, Amordei und der Heilige Geist warfen sich entnervte Blicke zu. Spätestens seit der Geschichte mit Kain und Abel war das Tischtuch zwischen Jesus und Luzifer zerschnitten. Abel war Jesu Liebling gewesen, sein erster wahrer Anhänger – Luzifer hatte den Mord Kains zwar nicht befördert, aber auch nicht verhindert, das hatte ihm Jesus noch nicht verziehen. (Weiterlesen)
Fußnoten
↑1 | Diese Geschichte entstand als literarischer Anhang zu meinem Vortrag Kierkegaard – Für eine Ethik des kritischen Individualismus I, den man sich auf Youtube ansehen kann (Link). Ich habe dort den Ausschnitt, in dem ich diese Geschichte vorlese, auch nochmal als separates Video hochgeladen (Link). |
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