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Sprache des Krieges

Sprache des Krieges

Teil I: Phonetik

 

Ein Laut, ein Anlaut ist der Anfang der Sprache, ihre Grundlage und Verkörperung zugleich. Dies wird durch die Theorie der Linguistik bestimmt. Ein Anfang und eine Verkörperung der Phonetik des Krieges ist die Sirene. Der Krieg beginnt mit einem Sirenen-Anlaut und geht damit weiter. Die Sirene ist der Auftakt zum Konzert des Todes. Die Ukrainerinnen und Ukrainer erleben diese Tatsache gegenwärtig.

Der Krieg hat wohlgemerkt viele Stimmen: das Heulen von Militärflugzeugen, das Pfeifen von Raketen, das Dröhnen von Panzern. Schlimmer als dieses Trio ist nur das Timbre der Explosion: allumfassend, überwältigend, schicksalhaft. All dies sind Konsonanten der Sprache des Krieges. Noch beängstigender hingegen sind ihre Vokale: menschliches Weinen, Trauerschreie aus Verlust und die Unfähigkeit, sich zu wehren, aus Verzweiflung und Angst. Die Sirene, begleitet von einem Artillerieorchester oder anderen Konsonanten- und Vokalklängen, soll wie eine Pawlow-Glühbirne funktionieren: Es geht darum, einen Reflex von „Angst“ und „Gehorsam“ zu erzeugen. Auf diese Weise dämpft und erstickt die Stimme des Krieges häppchenweise die rationalen Fähigkeiten eines Menschen!

Auch ich musste diese Emotionen durchleben: Angst und die Unfähigkeit, meine damalig vier Monate alte Tochter und meine Verwandten zu schützen; der Schmerz, Freunde an der Frontlinie zu verlieren; Angst um die Zukunft aller Ukrainerinnen und Ukrainer. Das sind schreckliche Gefühle, die alle möglichen Visionen der Gegenwart und der Zukunft abspulen. Hört man die Kriegsstimme mit ihrem Nachhall des Todes, so ertappt man sich dabei zu denken, dass diese Emotionen die Initiative im rationalen Denken abfangen, und dann versteht man die besondere Rolle des Philosophen in der komplexen Partitur der Konfrontation: eine neue Qualität der Akustik – zu erzählen, was passiert; eine neue Intonation – um die Qualität des gemeinsamen Lautes zu verstärken; ein neues Arrangement der Freiheit – um ein neues Bild der Zukunft zu schaffen.

Die Kriegsstimmen können aber auch beruhigen. Dies geschieht, wenn sie entweder schweigen – es gibt eine vorübergehende Atempause, eine „Lautpause“ – oder sich gegen den Feind richten, so dass er für immer schweigt. Jedes Mal, wenn meine Frau und ich unsere Tochter aus dem Bunker holten, dankten wir Gott für die Stille. Wir waren froh, dass die „Lautpause“ anfing. Das Schweigen ist die wünschenswerteste Stimme des Krieges! Aber jedes Mal, wenn nach einem Raketenhagel in einer ukrainischen Familie keine Stimme mehr erklingt, verwandelt sich die Todesstille in die schrecklichste Stimme des Krieges.

Die Kriegsstimme belebt den Kampfgeist mit jedem Rascheln brennender russischer Uniformen, wie das während der Befreiung des Kyjwer Landkreises der Fall war, oder mit dem Summen eines abstürzenden russischen Kampfflugzeugs in der Nähe von Winnyzja. Jedes Geräusch, das die „Ausschaltung“ feindlicher Soldaten in der Region Donezk oder in Cherson vorwegnahm oder ankündigte, war beruhigend: Je höher die Frequenz dieses Geräusches, desto höher die Anzahl der Überlebenden, desto mehr nicht vergewaltigte Frauen und unversehrte Kinder. All diese Laute bringen Beruhigung, denn es wird deutlich, dass sich dieses Böse wegen der hervorragenden Melodie der Natur und wegen seiner eigenen schmerzhaften Tonalität nie wieder ausbreiten wird, um zu töten. Wir sind froh, dass die Bedrohung für jeden Ukrainer und jede Ukrainerin, jeden Europäer und jede Europäerin ausgeschaltet wird. Dieser Ton bildet eine Symphonie aus Widerstand und Mut, die auch diesem Text als Impuls dient.

Der Lärm des Krieges ist der Kampf der Stimmen des Hasses gegeneinander: Hass darauf, dass jemand einfach existiert, und Hass auf den, der dich töten will. Dieser Klang ist eine außergewöhnliche Kakophonie. Er kann sich nicht ohne Weiteres in einen Dialog verwandeln, einen Akkord erklingen lassen, eine Harmonie werden, weil in ihm verschiedene Prinzipien einander entgegenwirken: „Zerstörung“ vs „Überleben“ – diese Modi wurden zu den Stimmen des Krieges. Und man kann nicht an eine gemeinsame Polyphonie der Zukunft denken, ohne die Falschheit der vermeintlichen „Brüderschaft“ zu entlarven und die Hymne der russischen Selbstreinigung zu singen.

Hier und überall ist heute Wachsamkeit gegenüber Halbtönen und Pausen, gegenüber Modulationen und Abweichungen geboten. Deshalb schrei(b)e ich hier und jetzt über Achtsamkeit gegenüber dem Bösen, welches von gefälschten Kriegsmelodien begleitet wird, über „großartige Kultur“ dank ihrer „unwiederholbaren Töne“. Der Laut der heutigen und auch der zukünftigen Ukraine hängt von dieser Wachsamkeit ab, die gegenwärtig ein Solo der Freiheit und Verantwortung aufführt und das schreckliche Gebrüll der totalen Zerstörung zurückhält, damit dieser Laut mit seinen Obertönen nicht die sichere Stille anderer erreicht.

So klingt der Ukrainekrieg!

Link zu Teil 2.

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