Als Gastbeitrag veröffentlichen wir folgenden offenen Brief von M. Immanuel C. an Irena Rudolph-Kokot, stellvertretende Vorsitzende der Leipziger SPD. Es geht darin insbesondere um die Gegendemo gegen die Demonstration für die vollständige Wiederherstellung der Versammlungsfreiheit am 1. Mai, an der sie teilnahm.
Sehr geehrte Frau Rudolph-Kokot,
hiermit wende ich mich an Sie, da Sie laut einer Mitteilung der Initiative „Leipzig nimmt Platz“ mitverantwortlich sind für die Darstellung der „Bewegung Leipzig“ gegen den Corona-Ausnahmezustand als „Teil eines rechten Sammelbeckens“ zusammen mit „Corona-Leugner*innen, Impfgegner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen“.
Ich kenne deren Veranstaltungen vor der Nikolaikirche, z. B. am 2. Mai, nur aus Youtube (Link). Auch wenn ich nicht mit allem, was dort von Publikumsrednern gesagt habe, übereinstimme (z.B. nicht mit dem Reichsbürger), so kann ich in der Rede der Organisatorin keinen rechten Unterton erkennen und muss mich generell auch jenem Redner anschließen, der meinte, auch wenn jemand im Publikum etwas sagt, mit dem man nicht einverstanden ist, bleibt Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden – und Rosa Luxemburg war mit Sicherheit nicht rechts.
Da ich allerdings am 1. Mai über die vollständige Dauer der Kundgebung der „Bewegung Leipzig“ auf dem Simsonplatz anwesend war und dort auch Sie in der Gruppe der Gegendemonstrant*innen gesehen habe, bekomme ich eher den Eindruck, Sie standen da irrtümlicherweise auf der falschen Seite, wenn Sie sich gegen Faschismus und für Menschlichkeit einsetzen möchten:
Aus keinem der von Veranstalterseite gehaltenen Redebeiträge konnte ich etwas vernehmen, das in irgendeiner Weise rassistisch oder menschenverachtend gewesen wäre und möchte hiermit von Ihnen gerne wissen, ob Sie etwas anderes gehört haben und wenn ja, was genau und woher?
Es wurde bei der gesamten Kundgebung noch nicht einmal wirklich der Konsens in Frage gestellt, dass es den Corona-Virus gibt – und da ich Menschen aus dem Orga-Kreis kenne, weiß ich, dass auch tatsächlich niemand die Bedrohung durch das Virus leugnet – sondern einzig und allein die überzogene Reaktion des Staates mit den beispiellosen Grundrechtseinschränkungen. Warum werden Versammlungen untersagt, auch wenn die Abstandsregeln eingehalten werden? Warum darf man sich offiziell nicht mit seiner politischen Bezugsgruppe oder einem Lesekreis treffen, selbst wenn keiner davon Außenkontakte hatte? Warum ist es zum Beispiel erlaubt, zu Jagen und zu Angeln, während Ausflüge zum Wandern in den Bergen oder im Wald verboten wurden?
Eine wesentliche Motivation der Kundgebung war vor allen Dingen ein antifaschistisches „Wehret den Anfängen!“ und nach meinem Augenmaß waren sowohl die meisten Teilnehmer*innen der 1.Mai-Kundgebung auf dem Simson-Platz als auch die Orga-Leute deutlich links konnotiert und in den Redebeiträgen wurden auch deutlich linke Positionen bezogen, z.B. für Klimagerechtigkeit zwischen Nord und Süd, gegen die Milliardengewinne von Amazon und eben vor allem für die uneingeschränkte globale Gültigkeit universeller Menschenrechte und GG-Grundrechte.
Vielmehr schien mir, dass die uniformiert wirkende Gruppe der Gegendemonstrant*innen ins rechte Lager einzuordnen war, da sie sich geschlossen hinter eine unhinterfragte Doktrin stellte und mit einer vorgefertigten Meinung dort ankam. In den beiden kurzen Redebeiträgen der „Gegenseite“ wurden teilweise Sachverhalte kritisiert, die von den eigentlichen Kundgebenden gar nicht hervorgebracht wurden, z.B. die vermeintliche Corona-Leugnung, die nicht stattgefunden hat, die auch nicht ohne ein Mindestmaß an Begründung jemandem unterstellt werden sollte und wenn doch, auch wenn sie falsch ist, immer noch unter dem Schutz der Meinungsfreiheit stehen sollte.
Eine wirkliche linkslibertäre Position, wie sie zum Rosa Luxemburg-Zitat passt und auch von z.B. Noam Chomsky vertreten wird, setzt sich auch für das Rederecht ihrer Feinde ein. Grundrechte sollten eben universell gelten. Kant und Habermas würden dem sicher zustimmen, letzterer in seinem Glauben daran, dass bei fairen Regeln das bessere Argument sich zwanglos durchsetzt.
Doch so weit muss an dieser Stelle gar nicht ausgeholt werden, um zu sagen, dass diejenigen, die sich von ihren faktisch stattgefundenen Verhalten am 1. Mai auf dem Simsonplatz an ehesten wie Faschist*innen verhalten haben, die Gegendemonstrant*innen waren. Es schien deutlich, dass sie nicht offen waren für Dialog, dass sie Buh-Rufe ohne vorheriges Zuhören eingeworfen haben und letztenendes mit einer vorgefertigten Meinung homogen, quasi gleichgeschaltet, dort aufgetreten sind. Dies bestätigt sich durch den Rundruf in einer Telegram-Gruppe, Zitat: „Nou (Antisemiten) auf Simson-Platz. Gegendemo wäre gut.“
Weder auf der Kundgebung noch in der Nou-Zeitung „Demokratischer Widerstand“ konnte ich bisher antisemitische Inhalte entdecken. Wie kommt eine solche Diffamierung dann in die Welt? Wer solche harten Anschuldigungen postet, handelt politisch unverantwortlich, wenn er_sie nicht vorher genaustens überprüft, ob es sich wirklich um Antisemit*innen handelt. Wer es glaubt und dann unhinterfragt auf eine Gegendemo geht, benimmt sich wie ein*e Mitläufer*in.
Faschismus wird in sehr vielen Theorien als „gewaltbereiter Arm der herrschenden Klasse“ bezeichnet. Derzeit ist die herrschende Meinung, dass der Konsens des Zusammenhangs von Virus, Infektionsrisiko und Todesfällen einerseits sowie Quarantänemaßnahmen und Grundrechtseinschränkungen andererseits nicht hinterfragt werden darf. Dabei sollte Hinterfragen immer die erste Grundregel linken, kritischen, antifaschistischen Denkens sein. Den herrschenden „manufacturing consent“ (Chomsky) unreflektiert wiederzugeben und sogar noch auf Basis dieses unreflekierten Mitläufertums eine Kundgebung zu stören, ist in der Tat der einzige faschistische Akt, den ich an diesem Tag auf dem Simson-Platz wahrnehmen konnte.
Daher möchte ich Sie freundlich darum bitten, Ihre Teilnahme an diesem Block zu überdenken und ggf. auch zu entschuldigen und sich klar für die verfassungsmäßigen Grundrechte sowie für den Meinungspluralismus zu positionieren. Eine Alternative wäre, klar zuzugeben, dass die SPD – deren regionale Vertreterin Sie sind – nun endgültig zur vordersten Interessensvertretung der Eliten (Digitalkonzerne, Versandhandel, Pharmaindustrie u.v.m.) geworden ist.
Falls Sie nach dem letzten Absatz nun das Gefühl haben, weder das eine noch das andere zu wollen, können Sie vielleicht nachempfinden, wie es ist, wenn man als Mensch mit linkem Selbstverständnis von einem gleichgeschalteten unreflektierten Antifa-Block als rechts verunglimpft wird und nichts tun kann, um diese Behauptung trotz deren Haltlosigkeit auch wirklich in den Köpfen der Beschuldiger*innen zu entkräften. Die wirklichen Rechten sowie die kapitalistischen Eliten können sich mal wieder über eine linke Selbstzerfleischung freuen.
Im Übrigen kann von den eigentlich bei der Kundgebung Anwesenden nicht gesagt werden, dass sie alle derart homogen und „gebrieft“ daher kamen wie die Gegendemonstrant*innen. Die von Ihnen geäußerte Gleichsetzung von Akteur*innengruppen ist nicht valide. Es gibt Impfgegner*innen, die dennoch an Corona „glauben“ und alle Maßnahmen strikt einhalten, ebenso kann es Coronakritiker*innen geben, die dennoch ansonsten pro impfen und gegen die meisten Verschwörungstheorien sind und es gibt viele verschiedene „Verschwörungstheorien“ und sicher Menschen, die manche solcher Theorien glauben, andere ablehnen. (Spannend wäre dabei auch die Frage, wer dazu privilegiert ist, die Grenze zwischen Verschwörungstheorie und „echter“ Theorie ziehen zu dürfen…) Und sicherlich gibt es in all den Bereichen auch einige neurechte Personen, so wie es eben auch Akteur*innen aus ganz anderen Lagern dort gibt. So monokausal und schwarz-weiß ist die Welt eben nicht.
Die Gedanken sind frei. Daher hat man immer nur begrenzt Einblick und Einfluss darauf, welche politischen Gesinnungen Menschen verfolgen, mit denen man in einem begrenzten Thema einer Meinung ist. So führte die SPD jahrelang Thilo Sarrazin als Mitglied und tut es juristisch immer noch; und auch ohne dieses umstrittene Beispiel kann ich mir vorstellen, dass der Prozentsatz von SPD-Mitgliedern, die sich hinter rechte Thesen stellen, ähnlich hoch oder niedrig ist wie bei der „Bewegung Leipzig“, die ohnehin nicht mit „Nicht ohne uns“ gleichzusetzen ist, die wiederum nicht mit den Biographien damit assoziierter Einzelpersonen gleichzusetzen ist …
Ich bitte Sie daher inständig, sofort mit dem Missbrauch Ihrer Macht als Multiplikatorin aufzuhören und nicht weiter unbestätigte Gerüchte zu verbreiten. Denn schwedische Wissenschaftler können vieles herausfinden…
Trotz alledem wünsche ich einen guten weiteren „Tag der Befreiung“, ein schönes Wochenende und eine gesunde persönliche und gesellschaftliche Entwicklung und verbleibe
mit freundlichen Grüßen!
M. Immanuel C.
(Anm. d. Red.: Auch die Kundgebung vom 1. Mai kann auf Youtube angesehen werden: https://www.youtube.com/playlist?list=PL1jdbHebFzU60ZI8S-UCN03-u9OsBgxcB)
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Nachtrag:
Als Reaktion auf diesen Offenen Brief fand Mitte Mai ein Gespräch zwischen Paul Stephan und dem Verfasser dieses Briefs sowie Irena Rudolph-Kokot statt und einem weiteren Vertreter von „Leipzig nimmt Platz“. Wir saßen gut zwei Stunden lang zusammen und waren uns einig in unserer Besorgnis über den Rechtsruck der Corona-Kritiker-Bewegung und diskutierten über Pro und Contra der Lockdown-Politik in erfreulich sachlicher und unpolemischer Form. Das bestärkte den Verfasser und Paul Stephan darin, dass die Debatte um Corona auch durchaus sachlich geführt werden kann, wenn denn gewollt, und war eine sehr positive Erfahrung.
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