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Die Zügel der Verantwortung

Kalt und ohne Gefühl haben mich immer die Reden von Politikern gelassen, wenn sie mit einer Miene von Wichtigkeit und Gravität verkündeten, es sei jetzt und besonders in diesen Zeiten angebracht, dass jeder von uns Verantwortung übernehme, diese Verantwortung, die von uns abverlangt werde, von uns allen, warum auch immer.

Der Grund schien tatsächlich beliebig zu sein. Mir war es immer ein Rätsel, wie so vieles zur Verantwortung fähig sein sollte, das nichts miteinander zu tun hatte. Mal waren mit der Verantwortung die Pflichten gemeint, die ein Amt mit sich bringt; mal das Eingeständnis der Schuld für eine Untat, die man selbst begangen hatte; mal eine schuldähnliche Verpflichtung für die Verbrechen der Urgroßväter und Urgroßmütter; mal die Fürsorgepflicht für die Kinder und schließlich sogar eine Rechtfertigung für eine Politik der Aufrüstung und Angriffe gegen fremde Staaten. Man sprach damals von der Verantwortung Deutschlands in der Welt.

Ich wollte diese Reden verstehen, dieses häufige Duett aus Werten und Verantwortung, denen sich diese Politiker verpflichtet fühlen, aber ich schien zu dumm, zu grob, zu sehr geprägt zu sein von der schlichten Ehrlichkeit der unteren Schichten. Ich hatte nur einen Verdacht: Wer Verantwortung sagt, will etwas verbergen und ist nicht aufrichtig.

Glücklicherweise gibt es ein Buch, das Abhilfe verschaffen kann: Hans Jonas Das Prinzip Verantwortung. Dieses Werk wurde in diesem Jahr neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Robert Habeck. Der Einband ist in den Farben von Bündnis 90/Die Grünen gestaltet, als ob der parteieigene Verlag seinen Parteiphilosophen veröffentlicht hätte.

Hans Jonas gehört zu den mächtigen Philosophen, den populären Mahnern und Warnern. Das Prinzip Verantwortung bedeutet den Abschied von der Utopie, den Abschied vom Prinzip der Hoffnung. Es ist ein bewusstes Gegenbuch zu Ernst Blochs Hauptwerk. Hans Jonas verkörpert damit wie kaum ein anderer die Geisteshaltung, die heute als links-grüner Mainstream immer mehr in die Kritik gerät: eine Haltung, die sich von den Utopien einer besseren Gesellschaft verabschiedet hat, jetzt aber mit dem moralischen Zeigefinger auf alle möglichen Missstände deutet.

Dieser Zeigefinger ist der erhobene Zeigefinger der Verantwortung. Hinter dieser Geste der Verantwortung verbirgt sich eine gefährliche Rückkehr der Moral in die Politik.

Philosophisch ist der Begriff der Verantwortung jung und hat kaum eine Geschichte. Er entstammt der Rechtsterminologie und bezeichnete die Verteidigung eines Angeklagten vor Gericht. Erst im 20. Jahrhundert machte er in der Morallehre eine steile Karriere. Max Weber sprach von einer Verantwortungsethik, die einen Politiker dazu bewegen sollte, in der Durchsetzung seiner Gesinnung Vorsicht und Rücksicht walten zu lassen, weil er sich für die Folgen seiner Taten schuldig macht. Die Verantwortung von Hans Jonas geht aber darüber weit hinaus: Diese Verantwortung macht schuldig für etwas, das man nicht getan hat.

Diese Ethik antwortet auf ein Problem, das erst im zwanzigsten Jahrhundert deutlich geworden ist: Die moderne Technik erlaubt ein ungeheures Maß an Macht, also an der Fähigkeit, anderen Wesen das Dasein zu rauben. Das Prinzip Verantwortung soll derart Übermächtigen „freiwillige Zügel“ auferlegen (ebd. S. 9). Die Politik soll gehemmt, an die Kandare genommen, klein und ungefährlich gemacht werden.

Die Ethik der Verantwortung züchtet das Schlechteste in den Menschen hervor: ihren Kleinmut. Dieser Kleinmut ist so alltäglich geworden, dass er ins Unbewusste, Gewohnte und Gewöhnliche übergegangen ist. Solche latenten Prägungen kann jeder einzelne Mensch nur in den Griff zu bekommen, wenn er sie sich bewusst macht und zum Besseren verändert. Bei ihrer Erkenntnis kann ich helfen.

Der Kleinmut der Verantwortung greift auf sieben Gebote zurück, vergleichbar mit den sieben Todsünden gegen das freie Denken:

1. Bediene Dich einer „Heuristik der Furcht“! Nur wer ständig Angst hat vor den möglichen Folgen seines Handelns, kann es einmal dazu bringen, nichts mehr zu tun. Nachdem der drohende Eigentod nicht mehr reicht, um die Menschen für eine Ökologie vernünftig zu machen (wie bei Hobbes), male das Schreckensbild einer weltweiten Apokalypse in naher Zukunft und belege diese Apokalypse durch wissenschaftliche Modelle. Ob Klima oder Viren – die rationale Furcht wirkt und macht die Menschen folgsam.

2. Mache die Welt und die Natur zum Treugut der Menschheit! Ein wenig Überschätzung hat noch niemandem geschadet – deswegen lass Dich nie auf die Wette Mephistos ein, die Welt erst einmal zu zerstören, um zu sehen, wer zuerst stirbt: der Mensch oder die Natur? Wer überlebt, ist der Überlegene.

3. Mach die Zukunft zum Gegenstand der Verantwortung! Es ist viel zu langweilig, nur nach direkten Schuldbeziehungen zu fahnden, wie es die Juristen tun. Erst wenn du dich vom Vorsatz befreist, kannst du die Vorgänger für alles mögliche anklagen, das akzidentiell auch in ihrer Macht stand. Sie sind dann verantwortlich für die unbeabsichtigten Nebenwirkungen, bloß weil sie gehandelt haben und nicht das Handeln unterließen.

4. Setze die Ehrfurcht an die Stelle der Klugheit! Schon die alten Religionen wussten, dass nichts die Gläubigen besser von den Heiligtümern fernhalten konnte als die Ehrfurcht. In der Furcht vor der höheren Ehre, vor der Würde des Heiligen wird das Brauchbare unantastbar. Mit diesem Trick der Religion werden die Klimasünderinnen und Klimasünder geboren. Sünder sagt man – nota bene!

5. Befreie die Verantwortung von der Idee der Gegenseitigkeit! Die selbstlose Hingabe der Eltern scheint ein viel besseres Bild für die politische Übernahme von Verantwortung zu sein als die Idee, sich seine guten Ratschläge durch Anerkennung und dem wohligen Gefühl der eigenen Macht bezahlen zu lassen.

6. Fördere die Selbstlosigkeit durch eine unsinnige Pflichten-Ethik! Die Pflicht zum Dasein, weil das Dasein unter allen Umständen besser sei als das Nichtsein, gehört zu den wirksamsten Erfindungen von Hans Jonas. Sein kategorischer Imperativ lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“. Zeuge also Kinder und bringe Dich um!

7. Schaffe ein Gewissen der Macht im Schuldgefühl! Weil die trockenen Pflichten so schlecht begeistern können, schafft erst die Leidenschaft für die Apokalypse eine gelebte Solidarität.

Ethik, Ethik, Ethik – Hans Jonas‘ ontologische Grundlegung der Ökologie ist der vielleicht erfolgreichste Versuch, jede Art der moralischen Indifferenz aus der Welt zu schaffen. Das Dasein selbst wird ein Wert und ist nicht mehr bloß die Bedingung, um Werte zu erlangen. Deswegen kann auch die Technik, die ein Können ins Dasein und zur Wirklichkeit bringt, nicht mehr ethisch neutral sein.

Die Rede von der Verantwortung verschweigt diese Verwertung allen Daseins in eine verrechenbare Vernunft. Sie überwindet die Technik nicht in ihrer wohlbegründeten Zügelung der Macht, sondern ist selbst technisch in ihrem Streben nach Macht über die Machtvollen. Sie erreicht diese Macht nur über Selbstverneinung, Selbstleugnung und Selbstbeschneidung des findigen Tieres ‚Mensch‘. Sie überredet das autonome Subjekt durch eine freiheitliche Wahl auf die eigene Freiheit zu verzichten.

Seine echte Freiheit erfährt der Mensch erst in der Befreiung, wenn er sich unabhängig macht von den Verlockungen der verantwortlichen Verwertung und einen Imperativ findet, der sich in eine Umwelt einlässt, die dem Gesetz des eigenen Selbst nicht den Gehorsam verweigert.

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