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Eine gewisse Diskrepanz…

… sehe ja vielleicht nicht nur ich zwischen dem Medizin-Kapitel in Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft und dem Wenigen und sehr Unoriginellen, was ihm im Spiegel-Interview dazu einfällt.

Zur Dialektik der Aufklärung in Form medizinischer Wissenschaft:

Vielleicht beleuchtet diese Sehweise einen Teil der ganz erstaunlichen Erfolge alter Zaubermedizinen, z.B. des Schamanismus. Im magischen Heilritual extrahiert der Schamane aus dem kranken Körper das »Übel«, etwa in Form eines geschickt untergeschobenen Fremdkörpers – eines Wurms, einer Larve, einer Nadel. Solche Extraktionen – oft auf dem Höhepunkt einer Krisis vorgenommen – bildeten bei Erfolg den Wendepunkt für das Überhandnehmen der Selbstheilungsprozesse – gewissermaßen äußere Mitinszenierungen des innerlichen energetischen Dramas. Bis in die Gegenwart zieht der Arzt aus solchen und ähnlichen Mechanismen seinen magischen Status, sofern ihm nicht die Demoralisierung und das zynische Körpertechnokratentum schon von außen anzusehen ist – was im übrigen immer häufiger geschieht. 1)S.493 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft

Wo Medizin so ihren Platz haben sollte:

Was gute Hilfe und was ein wirklicher Heiler sei, das hat noch nie eine Medizin aus eigener Kraft zu definieren verstanden. 2)S.503

Und was die Gesellschaft mit ihr macht:

Eine Gesellschaftsordnung wie die unsere fördert geradezu mit Notwendigkeit eine Medizin, die ihrerseits eher das System der Krankheiten und des Krankmachenden fördert als das Leben in Gesundheit. 3)S.503

Über Ursachen, Wirkungen und Macht:

Je mehr Krankheiten von den politisch-zivilisatorischen Verhältnissen, ja von der Medizin selbst hervorgerufen werden, desto mehr gerät die medizinische Praxis unserer Gesellschaft in die Verschraubungen des höheren Zynismus, der weiß, daß er selber mit der rechten Hand die Übel begünstigt, für deren Heilung er mit der linken kassiert. Wenn der Doktor wirklich als der gelehrte Parteimann des Lebens seine Aufgabe darin erkennt, Krankheiten aus Ursachen zu verhindern – statt sich mit ihnen als Wirkung parasitär-helfend einzurichten -, so müßte er immer von neuem seine Verbindung zur Macht und seinen Machtgebrauch freimütig zur Diskussion stellen. 4)S.409

Wie man Doktoren auch bezahlen könnte:

Aus dem Krankenhonorarist der Neujahrsgruß eines Gesunden geworden. Gibt es einen besseren Hinweis auf jenes »andere Helfen«, bei welchem den Heilern Belohnungen dafür zugestanden werden, daß sie das Ihre dazu beitragen, daß die Mitmenschen erst gar nicht krank werden? 5)S.498

Gesunde Gesellschaften wird man vor allem an der Art und Weise erkennen, wie sie ihre Helfer honorieren und sie ins soziale Gefüge eingliedern. Zu den tiefsinnigsten Ideen der älteren chinesischen Dorfmedizin gehörte der Brauch,den Helfer zu entlohnen, solange man gesund war, und die Honorierung einzustellen, wenn man erkrankte.

[…]

Über ihr jedoch spannt sich eine alte Linie von Herrenmedizin,die sich seit jeher der Belohnungskontrolle von unten zu entziehen gewußt hat. Sie hat immer schon die Honorierung im Fall der Erkrankung vorgezogen und sich damit einen mächtigen Erpressungshebel geschaffen 6)S.492

Über den Umgang mit Kranken (und solchen die es werden könnten):

Dem heutigen populären Realismus erscheint, trotz Wissenschaft, trotz Forschung, trotz Großchirurgie, der Arzt doch nur als suspekter Parteimann des Lebens, und man sieht ihm allzu oft schon an, wie leicht er auf die Seite der Krankheit überwechseln kann. Ein Kennzeichen der Herrenmedizin ist es seit langem, daß sie sich mehr für die Krankheiten interessiert als für den Kranken.

Über das Heilen von Wunden, die man selbst zugefügt hat:

Früher hieß es, die besten Ärzte würden oft die, die auch etwas anderes als Arzt hätten werden wollen, wie Musiker, Schriftsteller,Kapitän, Pfarrer, Philosoph oder Vagabund. Man verstand noch, daß, wer alles von Krankheiten weiß, deswegen noch lange nichts von Heilkunst verstehen muß. Die Neigung, »gern zu helfen«, ist so human und erfreulich wie unerfreulich und verdächtig, wenn das Helfen sich auf Übel bezieht, die aus zivilisatorischen Selbstzerstörungstendenzen entspringe 7)S.499

Und wer würde sich im Moment eigentlich noch trauen, von „Medizinfaschismus“ zu reden…

das Wort Medizinfaschismus entspringt nicht einer kritischen Laune, sondern faßt einen Tatbestand so prägnant wie möglich zusammen. Was in der Lager- und Universitätsmedizin zwischen 1934 und 1945 an die Macht gespült wurde, verrät nicht die zufällige Verirrung einzelner Ärzte zur NS-Ideologie, sondern zeigt die faschistisch zu sich selbst ermutigte Entblößung einer alten herrenmedizinischen Tendenz, die immer schon fand, daß es zuviel Menschen gibt, deren Behandlung sich »eigentlich« gar nicht lohnt und die als Versuchsobjekte gerade gut genug sind. 8)S.502

…oder von Selbsthilfe?

Gegen Herrenhelfer hilft nur Selbsthilfe. Die einzige Waffe gegen falsche oder bedenkliche Hilfe besteht darin, sie nicht zu brauchen. Man kann im übrigen seit längerem beobachten, wie die kapitalistische Herrenmedizin den Versuch macht, volksmedizinische Selbsthilfetraditionen unter ihre Oberherrschaft zu bringen, indem sie sie – nach Jahrhunderten der Diffamierung und Rivalität – absorbiert und als Teil der schulmedizinischen Vernunft vereinnahmt. (Wissenschaftlich bewiesen: in manchen Kräutern ist wirklich was drin!)

…in manchen philosophischen Büchern auch. Aber wenn man es rauskriegen will, muss man wohl schon zur Selbsthilfe greifen, die Philosophen jedenfalls sagen es nicht allzu laut.

Das Interesse der institutionalisierten Ärzteschaften arbeitet mit allen Mitteln auf Zustände hin, in denen alles Körperliche total medikalisiert sein wird – von der Arbeitsmedizin über die Sportmedizin, die Sexualmedizin, die Verdauungsmedizin, die Ernährungsmedizin, die Fitnessmedizin, die Unfallmedizin, die Kriminalmedizin, die Kriegsmedizin bis hin zu den Medizinen, die sich die Kontrollkompetenz über gesundes und krankes Atmen, Gehen, Stehen, Lernen und Zeitungslesen gesichert haben – von Schwangerschaft, Geburt, Sterben und anderen Kapriolen der menschlichen Körperlichkeit ganz zu schweigen.

[…]

Das »Gesundheits«-System treibt auf Verhältnisse zu, in denen die herrenmedizinische Kontrolle über das Somatische totalitär wird.

[…]

Es läßt sich ein Niveau denken, auf dem es zur völligen Enteignung privater körperlicher Kompetenzen kommt. Am Ende wird man auf urologischen Lehrgängen lernen müssen, wie man korrekt pißt. 9)S. 504

Pissen, nießen… zwar nicht das gleiche aber klingt zumindest ähnlich.

 

Kommt es mir eigentlich nur so vor, oder sind Psychologen die Sorte Ärzte, die am häufigsten gegen die… aber dazu kann Sloterdijk nichts geschrieben haben, oder?

Psychosomatische Internistik, Arbeitsmedizin, Gynäkologie, Psychiatrie u.a. Dies sind die Fachärzteschaften, die aus sachlogischen Gründen am ehesten wissen müßten, daß alles, was sie tun, in Gefahr steht, mehr zu schaden als zu helfen, solange nicht eine andere Richtung des Helfens – vom Leben, von der Freiheit, vom Bewußtsein her – eingeschlagen wird. 10)S.505

Wobei ich an dieses „Bewusstsein“ ja erst glaube, wenn man es mit einem PCR-Test messen kann.

Drittens: Gegen die medizinische Abspaltung von der Zuständigkeit für das eigene körperliche Dasein hilft letztlich nur die bewußte Verkörperung unserer körperlichen Zerbrechlichkeit, unseres Krankseins, unserer Sterblichkeit. Wie schwer das ist, brauche ich nicht zusagen, denn die Angst, wenn sie groß wird, macht uns alle nur allzu sehr geneigt, unsere Zuständigkeit für Leben und Tod des eigenen Körpers zu verdrängen oder an Ärzte abzutreten – nicht bedenkend, daß sogar die perfekteste Konservierungsmedizin am Ende doch die ganze Verantwortung und den unteilbaren Schmerz in unserem hilflosesten Augenblick an uns selbst zurückgibt. Wer erkennt, wie der Kreis der Entfremdung und der Flucht sich am Ende immer im eigenen Tod schließen muß, dem muß klarwerden, daß man den Kreis besser in die andere Richtung schlüge, ins Leben statt in die Betäubung, ins Risiko statt in die Absicherung, in die Verkörperung statt in die Spaltung. 11)S.505

Schon traurig, dass wir alle sterben müssen… also, irgendwann mal.

Wobei im Gegensatz zu diesen wirklich kritischen Gedanken dasselbe Thema im SPIEGEL-Interview so banal behandelt wird, dass es wirklich zum Fremdschämen ist:

Wenn ich schon so viel aus dem Buch zitiert habe und so wenig hinzugefügt, darf man das natürlich gerne als Werbung verstehen! Kann natürlich sein, dass Sloterdijk das heute alles ganz anders sieht, aber auf welche Art und warum wäre halt schon interessant gewesen.

Fußnoten

Fußnoten
1 S.493 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft
2 S.503
3 S.503
4 S.409
5 S.498
6 S.492
7 S.499
8 S.502
9 S. 504
10 S.505
11 S.505

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