Ein Gastbeitrag von Hans-Martin Schönherr-Mann, Professor für politische Philosophe an der LMU München.
Nietzsche und die Kriege
Der Krieg in der Ukraine dauert jetzt zwei Jahre, halb so lange wie der Erste Weltkrieg und er scheint sich ähnlich zu entwickeln. Das Ganze ist mehr als peinlich für Russland, das nicht mal die Ukraine zu erobern vermag, was wiederum beruhigend für die EU wäre, deren Militärpolitiker sich indes davon gar nicht beruhigen lassen wollen, sondern eine ‚Zeitenwende‘ ausrufen. Die Politik darf sich nicht mehr am Frieden als Normalzustand orientieren, sondern am Ausnahmezustand, dem Krieg.
Vielleicht haben sie Nietzsche gelesen, der 1888 in der Götzen-Dämmerung schreibt: „Die Völker, die Etwas werth waren, werth wurden, wurden dies nie unter liberalen Institutionen; die grosse Gefahr machte Etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, [. . .] die uns zwingt, stark zu sein.“ (Streifzüge, 38) Nietzsche ist nicht der einzige, der den Krieg als Wegbereiter der Tugend proklamiert. In Also sprach Zarathustra untermauert Nietzsche das: „Der Krieg und der Muth haben mehr große Dinge getan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“ (Vom Krieg und Kriegsvolke)
Von Seiten der Ukraine hieß es unlängst, man dürfe noch keinen Frieden schließen, der nur Russland erlaube, aufzurüsten um erneut anzugreifen. Dabei lässt sich eine spätere Aufrüstung schwerlich verhindern. Zwar ist es verständlich, dass das angegriffene, erheblich kleinere und viel schwächere Land einerseits Sicherheiten braucht, nicht wieder angegriffen zu werden und andererseits die russischen Eroberungen rückgängig machen möchte, wiewohl letzteres von Anfang an vermessen war.
Der Krieg in Gaza dauert seit dem Überfall der Hamas auch schon ein halbes Jahr. Die Zeiten, als Israel noch Blitzkriege führen konnte, sind offenbar vorbei. Freilich ist Blitzkrieg nur ein Mythos. Als die Nazi-Deutschen propagierten, solche zu führen, handelte es sich um eine nachträgliche Interpretation, die auch den Unterlegenen zupass kam. Denn Blitzkriege lassen sich nicht planen. Alle wollen den schnellen Sieg: die Russen, die Ukrainer, die Israelis und die Hamas kämpft bis zum Untergang. Niemand wird sein Ziel erreichen, nicht mal den Untergang.
Doch alle diese Ziele entsprechen einer Logik, die Kriege verschärft und unendlich verlängert. Die Frage stellt sich, ob es politisch verantwortungsvoll ist, einer solchen Logik zu folgen, d. h. ob ein Krieg nicht zu zerstörerisch ist, zu viele Opfer fordert, wenn man glaubt, ihn gewinnen zu müssen. Sollte man im Krieg nicht primär nach Wegen zum Frieden suchen, auch wenn man dazu unerfreuliche Kompromisse machen muss?
Das sieht Nietzsche freilich ganz anders. Wie proklamiert er in Also sprach Zarathustra: „Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.“ (Ebd.) So hat denn für Nietzsche der Staat auch nicht die Aufgabe das Leben seiner Bevölkerung zu schützen. Das ist für ihn eine liberale Verirrung. Denn Nietzsche schreibt 1872 in Der griechische Staat, „dass der Staat nicht auf der Furcht vor dem Kriegsdämon als Schutzanstalt egoistischer Einzelner gegründet ist, sondern in Vaterlands- und Fürstenliebe einen ethischen Schwung aus sich erzeugt, der auf eine viel höhere Bestimmung hinweist.“ (Abs. 3)
Wenn man einen Blick auf die Geschichte der letzten Kriege wirft, so behält Nietzsche damit recht, hat sich seit dem 19. Jahrhundert kaum etwas verändert: Die Staaten führen Kriege, so lange wie sie sie brauchen. Im Iran-Irak-Krieg 1980-1988 – der Aggressor war der Irak – wollte die iranische Führung jahrelang keinen Frieden. Geringe Erfolge ließen sie vom Sieg träumen und innenpolitisch stabilisierte sich durch den Krieg das islamische Revolutionsregime von Khomeini. Der heutige religiöse Führer des Iran Chamenei, damals oberster Kriegsherr, erklärte zwei Jahre nach Kriegsbeginn: „Der Krieg wird bis zum letzten Blutstropfen weitergeführt.“ Mit der richtigen Religion im Kopf oder dem eigenen Land im Rücken darf man alle opfern. Die Schätzungen der Toten liegen zwischen einer halben und einer Million und am Ende blieben die Vorkriegsgrenzen unverändert bestehen. Die US-Beteiligung am Vietnamkrieg dauerte mehr als ein Jahrzehnt. Etwa so lang versuchte die Sowjetunion in den achtziger Jahren vergeblich Afghanistan zu beherrschen, von der späteren viel längeren Bemühung der USA und ihrer Verbündeten dort ganz zu schweigen. Und viele andere mehr.
Die unzähligen Opfer dieser Kriege wären schwerlich Nietzsches Problem, auch wenn man ihm zugutehalten muss, dass er die Massenkriege nicht mehr miterlebt hat. Stattdessen erscheint für Nietzsche der Staat auf eine militärische Ordnung gegründet, so dass Kriege diese Ordnung stabilisieren. Er schreibt, „daß durch den Krieg und im Soldatenstande uns ein Abbild, oder gar vielleicht das Urbild des Staates vor Augen gestellt wird. Hier sehen wir, als allgemeinste Wirkung der Kriegstendenz, eine sofortige Scheidung und Zerteilung der chaotischen Masse in militärische Kasten, aus denen sich pyramidenförmig auf einer allerbreitesten sklavenartigen untersten Schicht, der Bau der kriegerischen Gesellschaft erhebt.“ (Ebd.)
Nietzsche versteht den Staat aus militärischer Perspektive, eine im 19. Jahrhundert weit verbreitete Vorstellung. Gleichheit kann es im Staat nicht geben, sondern nur eine hierarchische Ordnung, die für Nietzsche ihr Vorbild im Militär hat, das in jener Gesellschaft denn auch den Ton angab und gegen den egalitären Geist von Liberalismus und Sozialismus gerichtet war, der bis heute noch viel stärker wurde, aber seit dem Wort von der ‚Zeitenwende‘ an sein Ende gekommen scheint, was der deutsche Bundesverteidigungsminister auch verkörpert. Ist er etwa Nietzscheaner und fühlt sich als militärisch politischer Genius, der für Nietzsche als Führer notwendig ist? Schwerlich! Nein, Nietzsche beschreibt, was der Fall ist.
Auch in der Antike gab es lange Kriege: der zehnjährige Trojanische Krieg beispielsweise oder der Peloponnesische Krieg über ein Viertel Jahrhundert. Für Nietzsche hat der Krieg sogar eine erotische Dimension, wenn er schreibt: „[W]irklich kennt die Geschichte kein zweites Beispiel [. . .] einer so unbedingten Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staateninstinktes [. . .], woher nimmt er seine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der ewigen Gerechtigkeit? Stolz und ruhig tritt der Staat vor ihn hin: und an der Hand führt er das herrlich blühende Weib, die griechische Gesellschaft. Für diese Helena führte er jene Kriege – welcher graubärtige Richter dürfte hier verurteilen?“ (Ebd.) Der Staat stützt sich für Nietzsche auf Krieger, nicht auf Richter, die nach Recht und Gesetz urteilen. Dagegen verkörpert der Krieger die höhere, eine lebendige Gerechtigkeit militärischer Hierarchien. Das Militär nimmt patriarchalisch die Gesellschaft an die Hand, der Krieger die Gebärerin.
Historisch wurde jedoch längst nicht immer ohne Rücksicht auf eigene Verluste gekämpft. Verglichen mit den grausamen Religionskriegen des 17. Jahrhunderts waren die Aufklärer im 18. Jahrhundert der Auffassung, dass die Kriege nachlassen, dass sich damit die Vernunft langsam durchsetzt. Söldner opferten sich nicht und die Fürsten wollten ihre Heere auch nicht verlieren, die schließlich ihr wichtiges Hab und Gut waren.
Für Nietzsche scheint davon auch noch etwas im militarisierten 19. Jahrhundert mitzuspielen, weil die Politik für Nietzsche zu häufig auf einen sozialen Ausgleich aus war, anstatt die aufbegehrenden Armen einfach mit Gewalt zu unterwerfen. Wilhelm II. verkörpert für Nietzsche eine solche Haltung, weswegen er diesen verachtet. Eines der letzten Fragmente des Nachlasses formuliert das unter dem Titel „Todkrieg dem Hause Hohenzollern“ noch schärfer: „Ich werde nicht eher die Hände frei bekommen, als bis ich den christlichen Husaren von Kaiser, diesen jungen Verbrecher samt Zubehör in den Händen habe – mit Vernichtung der erbarmungswürdigsten Missgeburt von Mensch, die bisher zur Macht gelangt ist.“ (NF 1888 25[13]) Auch wenn sich in dieser Bemerkung schon Nietzsches Wahn abzeichnet, so entspricht das doch einer rechten Kritik an der Aristokratie, die nach einem Ausgleich mit dem Bürgertum strebt und selbst das Proletariat zu integrieren trachtet, anstatt beide mit aller Gewalt zu unterwerfen.
Anders sah das Immanuel Kant 1795, dass Fürsten nämlich kriegslüstern sind. Um diese Zeit, nämlich in den Napoleonischen Kriegen, änderte sich der umsichtige Umgang mit den eigenen Heeren. Mit der Wehrpflicht entstanden staatlich finanzierte Massenheere, die Politiker wie Generäle in riesige grausame Schlachten schickten mit ungeheuren Opferzahlen. Fälschlich attestiert Nietzsche erst dem 20. Jahrhundert: „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt einen Kampf um die Erd-Herrschaft, – den Zwang zur grossen Politik.“ (JGB, Aph. 208) Denn dieser bestand spätestens seit der Kolonialisierung Amerikas.
Doch man glaubte im 19. Jahrhundert, dass sich Politik nur durch Gewalt durchsetzen lässt. Für Hegel hat Napoleon mit Krieg die Menschenrechte in Europa verbreitet. Für Marx gibt es Fortschritt nur durch Revolution. Und die Soldaten opferten sich für heroische Ideale wie die Revolution, das Vaterland oder die Demokratie und die Religion. Das führte in die so großen wie die vielen nicht endenden Kriege des 20. Jahrhunderts.
Doch aus der Geschichte wird politisch selten gelernt. Stattdessen fordert Max Weber keine drei Monate nach dem Ersten Weltkrieg vom Politiker ein Bewusstsein, „dass, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einlässt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt [. . .]. Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind.“
Für konservative Philosophen wie Leo Strauss, auf den sich viele Neokonservativen in den USA beziehen, ist massive militärische Gewalt gegen ihre Feinde und vor allem gegen die Revolution in jeder Hinsicht gerechtfertigt, bedroht diese schließlich die überlieferte Ordnung. Der 1922 noch katholische Staatstheoretiker Carl Schmitt, der sich später in den Kronjuristen der Nazis verwandelt, bestimmt den Staat durch die Gewalt, die der Staat im Ausnahmezustand nach innen wie nach außen einsetzt. Für Carl Schmitt beruht die Politik auf der Unterscheidung von Freund und Feind, ein Verständnis, das sich heute wieder verbreitet. Nietzsche ebnet dazu den Weg, wenn er in den Unzeitgemäßen Betrachtungen 1873 über den Deutsch-französischen Krieg schreibt: „Strenge Kriegszucht, natürliche Tapferkeit und Ausdauer, Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz Elemente, die nicht mit der Kultur zu tun haben, verhalfen uns zum Siege über Gegner, denen die wichtigsten dieser Elemente fehlten.“ (UB I; Abs. 1)
1970 widerspricht dem vor allem Hannah Arendt, für die Politik nicht Gewalt ist, sondern Kommunikation in der Öffentlichkeit, die gewaltfrei überzeugen muss. Seit jenen Jahren trat die Orientierung der Politik am Krieg denn auch in den Hintergrund, nachdem der Vietnam-Krieg auf den zunehmenden Widerstand in der Bevölkerung stieß – ein seltenes Phänomen, das sich in der Sowjetunion angesichts des nicht endenden Afghanistan-Krieges wiederholte.
US-Amerikanische Militärs mussten damals erkennen, dass mit dem Geburtenrückgang Eltern häufig nur ein Kind hatten, dessen Verlust im Krieg viel schmerzlicher wirkt, als wenn man früher eines von vielen Kindern verlor. In vielen Ländern wurde der Wehrzwang ausgesetzt, zuletzt in Deutschland. Nicht nur das war ein Fehler, wie viele Wehrpolitiker in Deutschland heute bekunden. Vielmehr hat die Emanzipation der Frau im Sinn von Nietzsche dazu den Weg bereitet. Dagegen erklärt Zarathustra: „So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig das Andre“ (Tafeln, 23). AfD-Politiker fordern denn auch die drei-Kind-Ehe.
Heute scheint sich die Opferbereitschaft wieder zu erhöhen, auch den Wehrzwang zu akzeptieren, der einer liberalen Gesellschaft nicht gut zu Gesicht steht. Doch wo es ernst wird – in der Ukraine und in Russland – dort entziehen sich viele diesem Zwang durch Flucht ins Ausland. Wehrpflicht und Menschenrechte passen nun mal nicht zusammen. Man kann diese kriegerisch auch nicht verteidigen, muss man sie dazu nämlich aufheben.
So sind Menschenrechte, die alle Menschen gleich setzen, nicht im Sinn von Nietzsche, widersprechen solche Rechte schlicht der militärischen Hierarchie, die der Staat nötig hat, um Kriege zu führen. Also sprach Zarathustra: „So redet mir die Gerechtigkeit: ‚die Menschen sind nicht gleich.‘ / Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? / Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein: so lässt mich meine große Liebe reden!“ (Von den Taranteln)
Im Sinne Nietzsches neigen Politiker dazu, Kriege zu verlängern, gerade wenn die Hoffnung auf den Sieg wie im Ukraine- und im Gaza-Krieg nicht allzu aussichtsreich ist und man mit einem suboptimalen Ausgang rechnen muss, wie es bei Kriegen freilich normal ist. So verblasst in den letzten Jahren die Ausrichtung auf den Frieden, die seit den achtziger Jahren vorherrschte. Die Politik orientiert sich wieder am Krieg.
Doch Krieg verdirbt wider das Diktum von Clausewitz die Politik bzw. beendet sie. Und die Menschen lernen nicht endlich Opferbereitschaft, sondern verrohen. Just das aber ist im Sinn von Nietzsche, wenn er um die Jahreswende 1887/88 schreibt: Der Staat ist die „organisirte Unmoralität … [. . .] wie wird es erreicht, dass er eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – durch Zerteilung der Verantwortlichkeit“ (NF 1887 11[407]). Der Staat braucht verrohte Untertanen, die auf dessen Geheiß Gewalttaten begehen, die sie ansonsten ablehnen würden. Das gelingt dem Staat dadurch, dass er die Verantwortung für die individuellen Taten den Untertanen wegnimmt, durch Disziplin und Drill.
Das gipfelt in der Pointe, dass nicht etwa der Mensch in einer liberalen Gesellschaft frei ist. Denn dann muss er sich selbst für das Zusammenleben disziplinieren. Just davon ist er im Krieg entfesselt, zu jeder Gewalttat frei. So konstatiert Nietzsche 1888 nicht nur: „[D]er Krieg erzieht zur Freiheit.“ (GD, Streifzüge, Aph. 38) Freiheit heißt dann nicht Verantwortung für das eigene Tun wie bei Sartre, sondern Freiheit von jeglicher Verantwortung. Und im Krieg kann er seine Gewaltphantasien in die Tat umsetzen. Dann kann Nietzsche zudem propagieren: „Der freie Mensch ist Krieger.“ (Ebd.) Der gedrillt Mensch ist frei von aller eigenen Verantwortung.
Nietzsche meint das zweifellos normativ. Wenn man das indes nur als Beschreibung dessen liest, was der Fall ist, dann hat er damit das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum beschrieben, wie es sich im 21. Jahrhundert wieder präsentiert, nachdem es einige Jahrzehnte im vorhergehenden zu verblassen schien.
Auch wenn Nietzsche andere spannende Seiten als seine Visionen vom Krieg hat, und wenn er nach seiner Bemerkung über den kriegstüchtigen Mann und die gebärtüchtige Frau im Zarathustra weiterschreibt: „[…] beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde!“ (Tafeln, 23) Dann wird hier in einem Rausch getanzt, der die Tanzenden davon befreit, über das, was sie tun, nachzudenken – wie beim Militärmarsch.
Und wenn es weiter heißt: „falsch heiße uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!“ (Ebd.) Dann ist mit solcher Ironisierung schwerlich eine Befreiung von bevormundender Expertokratie gemeint. Nein, die Militärexperten herrschen mit ihren Wahrheiten derart, dass dem kämpfenden Untertanen jede Schandtat erlaubt ist. Wenn man Nietzsche also als Beschreibung der Realität liest, dann entlarvt er im Sinn von Theodor W. Adorno, was die Expertokratie verschweigt.
2 Comments
Lieber Hans-Martin,
hab vielen Dank für den erhellenden und wichtigen Aufsatz. Ich denke, es ist heute relevanter denn je, vor den Gefahren eines wachsenden Militarismus und einer Spirale von Aufrüstung und Eskalation zu warnen – und auf das unheilvolle Potential von Nietzsches Denken in diesem Sinne hinzuweisen.
Deiner grundsätzlichen Diagnose stimme ich zu: Nach dem „Krieg gegen den Terror“ und dem „Krieg gegen das Virus“ folgt nun die nächste große Massenmobilisierung in Form des „Kriegs gegen Russland“. Und man kann sich ausmalen, das als nächstes der Weltkrieg gegen China kommt. Gerade als Vater wird mir da angst und bange: Heute spielt mein Sohn noch Ritter mit dem Stock – und in 30 Jahren soll er wohl einberufen werden, um „unsere Freiheit“ auf Taiwan zu verteidigen?
Zugleich: Wie sind Kompromisse möglich mit solchen Feinden, wie wir sie vor uns haben? Die Hamas dringt ins israelische Gebiet vor und tötet und vergewaltigt munter Zivilisten – wie soll sich die israelische Regierung damit abfinden? Mit Russland ist es ähnlich: Wie könnten wir es akzeptieren, dass sich der Moskauer Diktator mehrere ukrainische Provinzen einverleibt?
Das Problem ist, dass wir nun die Früchte jahrelanger Unentschlossenheit ernten: Man hätte entweder die Ukraine schon viel früher aufrüsten sollen, so dass sich Russland gar nicht anzugreifen traut – aber wir wollten lieber billiges Gas kaufen; oder man hätte Russland in die NATO und dann die EU integrieren sollen, wie es noch in den 90ern ja möglich schien und von Russland sogar gewünscht wurde. Mit China läuft es gerade ähnlich. Und was soll da der „Kompromiss“ sein? Taiwan preisgeben?
Die Weltlage zeigt ein weiteres Mal: Die kapitalistische Weltordnung erzeugt immer wieder neue Kriege und Weltkriege, ein kapitalistischer Friede ist nicht möglich (vgl. bspw. Ernst Bloch). Wir brauchen dringend eine neue Wirtschaftsordnung oder zumindest eine Abkehr vom „Europa der Krämer“ (Camus), das konsequent auf Geschäfte mit expansionistischen Diktaturen verzichtet. Oder sich eben offen dazu bekennt, eine selbst imperialistische Macht zu sein und bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Unsere Heuchelei ist wirklich unerträglich.
Ich träume von einem Europa, das eine Art „Weltschweiz“ ist, aber dann wirklich konsequent. Keine Kriege, keine Einmischung, keine Profite aus (post)kolonialer Ausbeutung, kein Handel mit imperialistischen Staaten. Doch die Realität der Schweiz zeigt leider auch, dass es dazu eine effektive Verteidigung braucht. Die Existenzialisten hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganz ähnliche Vision!
Nun aber zu Nietzsche: Ich denke, man darf nicht vergessen, dass er im Krieg von 1870/71 als Sanitäter diente und ihn diese Erfahrung durchaus traumatisiert hat. Es finden sich aus diesem Grund auch zahlreiche kriegs- und militarismuskritische Passagen in seinen Schriften. Nicht von ungefähr spaltete sich das Lager der „Nietzscheaner“ 1914 in Pazifisten und Militaristen!
Sogar noch in der „Götzen-Dämmerung“, und in den freigeistigen Texten sowieso, gibt es zahlreiche eindeutige Äußerungen Nietzsches gegen den Militarismus, speziell den deutschen!
Später werde ich dazu noch mehr schreiben, das muss für den Augenblick genügen.
Herzlich-pazifistische Grüße
Paul
So, nun zu den Details, was Nietzsche angeht …
Ich zitiere mal einen Satz aus der „Götzen-Dämmerung“: „Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, dass die deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat — das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus, — giebt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite.“
(http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GD-Deutsche-4)
Großartig finde ich auch diesen Aphorismus aus „Menschliches, Allzumenschliches“: http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/WS-284
Der „bewaffnete Friede“ der wechelseitigen Bedrohung: Das ist doch genau unser Problem. Nietzsche sieht hier den Ersten Weltkrieg voraus und warnt vor ihm!
Ich denke, es ist nicht verfehlt, Nietzsche neben Kant und Bloch zu den wichtigsten Verfechtern eines philosophischen Pazifismus zu zählen; gerade gegen Hegel. Ich habe das in einem kleinen Aufsatz hier ausführlich begründet: https://drive.google.com/drive/folders/1pkUUKn_HQeBSnkueerSCvn6MdEDFw3Bo?fbclid=IwAR2scKbXjSnKWBJGXPplEr2nv2TMvBSXRUPRqQc0zR4TKekbdpm_HuL70m4
Ich denke, Leute wie Hermann Hesse, Emma Goldman, Gustav Landauer oder Harry Graf Kessler, Kurt Hiller oder Helene Stöcker haben Nietzsche in dieser Hinsicht besser verstanden als als die Spenglers, Jüngers etc.
Freilich gibt es auch die von Dir benannten Stellen, auf die sich 1914 die Schwester stützte. Aber es ist schon vielsagend, dass sie sich 1914 persönlicher „Erinnerungen“ bedienen musste, um Nietzsches Militarismus zu begründen … Er habe von der deutschen Rüstungsindustrie geschwärmt in „persönlichen Gesprächen“ etc. pp. Wie lächerlich! – Weil es das Werk einfach nicht hergibt.
Nur mal kurz zu den einigen der von Dir angeführten Stellen, um meinen Punkt zu unterstreichen:
– Streifzüge 38 halte ich – cum grano salis gelesen (wie alle Texte Nietzsches) in der Tat für einen der wichtigsten Aphorismen Nietzsches, um seinen Freiheitsbegriff zu verstehen. Seinen Kernpunkt verstehe ich so: Freiheit ist keine Gegebenheit, sondern muss jeden Tag neu erkämpft werden. Und sie verlangt durchaus „Selbstverantwortung“, das Wort verwendet Nietzsche in genau diesem Text ja sogar. Er scheint mir da ganz nah an Sartre zu sein! Es geht doch da darum, wie die Freiheit aus dem Kampf gegen die Tyrannei geboren wird! Die Herausbildung „liberaler Institutionen“ lässt einen vergessen, was noch Faust wusste: Wir dürfen uns nie mit der erreichten Freiheit abfinden! La lotta continua!
– „Der griechische Staat“ ist eine wichtige Quelle für den „dunklen“ Nietzsche, doch rezeptionsgeschichtlich nahezu bedeutungslos. Eine nicht für die Publikation bestimmte Gelegenheitsschrift, um sich bei den reaktionären Wagners einzuschleimen. Fremdscham! Ein geistiger Tiefpunkt Nietzsches! Zum Glück brach er kurz später mit diesem reaktionären Edelpöbel! Ich würde ihre Bedeutung wirklich nicht so hoch ansetzen, wenn es darum geht, Nietzsches Philosophie als Ganze zu verstehen.
– Die erwähnten Stellen aus dem „Zarathustra“ sind doch kaum wörtlich zu nehmen. In „Vom Krieg und Kriegsvolke“ warnt Zarathustra etwa vor dem Tragen von Uniformen, die nicht zu geistiger Gleichförmigkeit führen sollen. Er meint, wie es in „Ecce homo“ heißt, „Geisterkriege“. Auch die Metapher der „Schwangerschaft“ wird im „Zarathustra“ vielfach auf schaffende Menschen allgemein angewandt, sogar auf Zarathustra selbst. Natürlich lassen sich solche Sätze auch aus dem Kontext reißen und wörtlich nehmen – aber das scheint mir eine fast humoristische Missdeutung zu sein. Zarathustra spricht erklärtermaßen zu „allen und keinen“ und warnt vor dem „Macht-Pöbel“. Für die modernen Staaten und ihre Kriege hat er nur Verachtung übrig.
– Die späten Hasstiraden gegen Wilhelm II. habe ich immer als wiederum fast unheimlich prophetische Ahnung gelesen, welches Unglück dieser Trump des 19. fin de siécle über die Welt bringen sollte.
Er schreibt in diesen Fragmenten etwa:
„Zuletzt könnten wir selbst der Kriege entrathen; eine richtige Meinung genügte unter Umständen schon. Ein Wagen mit Eisenstäben für Hohenzollern und andere „Schwaben“… Wir Anderen giengen unausgesetzt an die grandiose und hohe Arbeit des Lebens — wir haben Alles noch zu organisiren. Es giebt noch wirksamere Mittel, die Physiologie zu Ehren zu bringen als durch Lazarethe — ich wüßte einen besseren Gebrauch von den 12 Milliarden zu machen, die der „bewaffnete Friede“ heute Europa kostet. Und kurz und gut — — —“
(http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1888,25%5B14%5D)
Der „Schlamm auf dem Thron“ ist Nietzsche ein Graus und insbesondere aufgrund des Militarismus des „Reiches“. In diese Position ist er seit seinem Bruch mit Wagner bemerkenswert konsistent und eins mit sich. Und er greift hier dezidiert seine Gedanken aus MA wieder auf!
Und hier: „Nur indem ich den Verbrecher-Wahnsinn brandmarke, brandmarke ich immer die zwei fluchwürdigsten Institutionen, an denen bisher die Menschheit krank ist, die eigentlichen Todfeindschafts-Institutionen gegen das Leben: die dynastische Institution, die sich am Blut der Stärksten, Wohlgerathenen und Herrlichen mästet und die priesterliche Institution, die mit einer schauerlichen Arglist eben dieselben Männer, die Stärksten, Wohlgeratenen Herrlichen von vornherein zu zerstören versucht. Ich finde hier Kaiser und Priester sich einig: ich will hier Richter sein und alle Jahrtausende mit dem verbrecherischen Wahnsinn von Dynasten und Priestern ein Ende machen… “
(http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/NF-1888,25%5B15%5D)
Das ist doch reinster Republikanismus und Säkularismus!
Ja, Nietzsche spricht sich auch immer wieder gegen den Pazifismus aus und sicher ist auch die pazifistische Lesart einseitig. Doch insbesondere den modernen Krieg kritisiert er ganz klar und erkennt seinen unheroischen, inhumanen Charakter – weil er ihn ja selbst erlebte. Da geht es nicht um individuellen Heroismus, sondern reines Abschlachten. – Hegel hat das nicht verstanden, ER ist ein zynischer Militarist, der die Einzelnen gerne dem Götzen des „Weltgeists“ zum Fraß vorwirft, Nietzsche durchaus nicht!
„Nie wieder Krieg!“ ist ein kategorischer Imperativ unserer Zeit. Und um ihn zu erreichen, bedarf es einen qualitativ anderen Frieden als den „bewaffneten Frieden“ des imperialistischen Normalzustands. Wie hellsichtig war Nietzsche! Wie idiotisch seine kriegsbesoffenen Leser! (Man denke nur an die peinlichen Pamphlete Thomas Manns während des Ersten Weltkriegs!)
Nietzsche hatte eine ähnliche Vision von Europa wie die „Weltschweiz“, er ist ein Vordenker eines friedlichen Europa jenseits nationaler Borniertheiten, wie es die jetzige EU leider nicht realisiert hat. Doch es ist noch nicht zu spät!
Nieder mit dem Macht-Pöbel! Es lebe das „gute Europa“!
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