In einem Sonderbeitrag außer Konkurrenz zum Eisvogel-Preis für radikale Essayistik 2025 widmet sich die Autorin Christina Stephan der Frage, wie sich der Gebrauch deftiger Kraftausdrücke in den letzten Jahrzehnten verändert hat und was das über die Barbarisierung unserer Gesellschaft aussagt – der auch sie sich nicht ganz zu entziehen vermag.
Lest die Gewinneressays des Wettbewerbs auf Nietzsche POParts (Link).
Auf YouTube und Soundcloud findet ihr den Text auch in einer Version zum anhören, eingelesen von der Autorin selbst.
Wer sind die Barbaren von heute?
von Christina Stephan
„Manieren sind die dünne Linie, welche die Barbaren von der Zivilisation trennt.“ (Slavoj Žižek)
Wenn mein Vater, Jahrgang 1914; wütend war, sagte er: „Götz von Berlichingen“1)Anspielung auf Goethes Drama Götz von Berlichingen (1773), in dem der Titelheld im 3. Aufzug in seiner direkten Art dem Hauptmann der Belagerer seiner Burg folgendes ausrichten lässt: „Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“.
Der zwischen Rumpf und Beinen befindliche Körperteil erfuhr sonst keine weitere Bezeichnung. Selten wurde von „Allerwertester“, „Hinterteil“ oder „Vierbuchstaben“ gesprochen, wenn es die Situation erforderte, jedoch nicht im Sinne einer Beschimpfung.
Auch die Enddarmtätigkeit bzw. ihr Produkt waren in der Umgangssprache keine üblichen Begrifflichkeiten. Man befleißigte sich einer gepflegten Ausdrucksweise. Alles andere galt als ordinär.
Uns Kindern wurde beigebracht, sich höflich mit „Bitte“ und Danke“ verbal durch die Gesellschaft zu bewegen und sich nicht ungefragt in Gespräche einzumischen. Fäkalsprache war verboten.
Ob tatsächlich in jedem Fall, eine menschenfreundlichere Geisteshaltung dahinterstand, vermag ich nicht zu beurteilen.
Mittlerweile gehört die Vulgärsprache zum Alltag. Selbst vom „mächtigsten Mann der Welt“ Donald Trump werden wir von Fäkalsprache als vermeintliches Zeichen echter Volksnähe überflutet.
Ein Mann, der Vulgärausdrücke verwendet, wird als ehrlicher, vertrauenswürdiger und kompetenter eingestuft. Sagen, was Sache ist. Laut und ungehemmt. Wenn eine Frau hingegen derartig auftritt, gewinnt sie eher nicht an Sympathie. Warum ist das so?
Obszonitäten als agressive Strategie. Der Gegner wird verbal abgewatscht. Das geschieht täglich, ob im Straßenverkehr, im Büro, auf dem Schulhof oder im Oval Office….
Tabubrüche und „Verarschung“ stehen auf der Tagesordnung.
Aber diese Sprache ist nicht nur Trump vorbehalten, sie ist auch im Deutschen Bundestag zu hören.
Ich erinnere nur an das berühmte Zitat von Joschka Fischer, der sich 1984 im höchsten deutschen Parlament mit den Worten: „Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!“, an Vizepräsident Stücklen wandte. Auch Bundeskanzler Merz kennt keine Scheu, eine „klare“ Sprache anzuwenden. Und die Mitglieder der AfD schon gar nicht. Alice Weidel will sich nicht mäßigen. „Ich sehe nicht die geringste Veranlassung, dass wir uns mäßigen sollten“ (Zitat 20.07.2025).
Eine unmittelbare Vulgärsprache wendet sie allerdings nicht an.
Vornehme Zurückhaltung ist jedoch nicht mehr angesagt.
Nicht nur die Politiker wenden die Fäkalsprache an. „Sei doch kein Arsch!“, ist längst eine aufmunternde Floskel. „Fuck“, „Shitbull“ und „Motherfucker“ klingen etwas kosmopolitischer.
In der Werbung meiner Sparkasse sehe ich ein nacktes Männerhinterteil, in dem eine Geldkarte steckt, als Symbol der Freizügigkeit. Es gibt „popofrische Eier“ zu kaufen und „arschgeil“ ist ein Ausdruck höchster Anerkennung.
Vulgarität ist die Extremform der Unhöflichkeit. Jede Etikette wird im Namen von Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und ungehemmter Lebensfreude missachtet.
In diesem Sinne sind wir alle die Barbaren von heute. In unserer Welt geht es verbal, aber auch nonverbal, barbarisch zu.
Selbst ich scheue mich nicht von „Arschgeige“ zu sprechen, wenn mir jemand in die Quere kommt.
Christina Stephan, Jahrgang 1957, ist promovierte Augenärztin und Künstlerin. Sie illustrierte u. a. die achte Ausgabe unserer Zeitschrift Narthex. Heft für radikales Denken zum hoffnungsvollen Denken Ernst Blochs (Link). Sie lebt gegenwärtig zwischen Horgau, einem Dorf bei Augsburg, und ihrer Geburtsstadt Zwickau.
Fußnoten
| ↑1 | Anspielung auf Goethes Drama Götz von Berlichingen (1773), in dem der Titelheld im 3. Aufzug in seiner direkten Art dem Hauptmann der Belagerer seiner Burg folgendes ausrichten lässt: „Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“ |
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