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Grenzgänge in Colchester

Grenzgänge in Colchester

Ein Bericht über meine Teilnahme an der internationalen Graduiertenkonferenz „Madness, Disorder, and Society“ an der University of Essex am 7. Mai 2016

Die Sphinx und eine Totenmaske. Schlossmuseum Colchester.

Die Sphinx und eine Totenmaske. Schlossmuseum Colchester.

Der Film Persona von Ingmar Bergman zeigt eine persönliche Begegnung zwischen einer als „verrückt“ diagnostizierten Sängerin und einer „normalen“ Krankenschwester, in deren Verlauf sich das Verhältnis zwischen beiden geradezu umkehrt: Die Krankenschwester „dreht durch“, die Sängerin wirkt am Ende des Films eigentümlich verständlich in ihrem Verhalten.
Was steckt hinter dieser Urangst des modernen Subjekts, im Kontakt mit dem Wahnsinn selbst wahnsinnig zu werden so, als würde vom Wahnsinn eine seltsame infektiöse Kraft ausgehen? Doch ist es wirklich die Angst vor dem Wahnsinnig-Werden oder – wie in dem Film – nicht eher die Angst davor, im Spiegel des Wahnsinnigen des eigenen Wahns gewahr zu werden – zu erkennen, dass die Grenzen zwischen „Verrücktheit“ und „Normalität“ weniger klar abgesteckt sind, als es die gewöhnliche Weltwahrnehmung glauben lässt? Sind wir in Wahrheit nicht alle ein wenig „verrückt“ (oder, in der Sprache der Werbung formuliert, „ein bisschen Bluna“) und werden nur diejenigen so deklariert, die gegen bestimmte soziale Konventionen verstoßen – wobei es sein mag, dass „normale“ Personen in gewisser Hinsicht noch viel „verrückter“ sind (man denke etwa an den „workaholic“, der sein Leben völlig für seine Arbeit aufopfert und dennoch mit sozialer Anerkennung für seine Leistungen belohnt wird)? Den Film am Vorabend der eintägigen Konferenz zu zeigen, war jedenfalls eine gute Entscheidung der Organisatoren.

Ein exhibitionistischer Satyr im Schlossmuseum Colchester.

Ein exhibitionistischer Satyr im Schlossmuseum Colchester.

Es ist klar, dass die Diskussion solcher Fragen einen mehr als nur rein akademischen Charakter hat. Das Publikum der Konferenz war dementsprechend bunt gemischt. Neben den üblichen Studierenden der involvierten Fachbereiche waren auch zahlreiche praktizierende Psychologen und Psychiater anwesend. Ebenso vielfältig gestaltete sich die Auswahl der Vortragenden – während die meisten eine mehr oder weniger starke philosophische Grundorientierung mitbrachten, handelte es sich doch größtenteils um Vorträge, die sich an der Grenze zwischen Philosophie, Psychologie und anderen mit dem Thema „Wahnsinn“ beschäftigten Wissenschaften bewegten.
Einig war man sich dabei bei aller Verschiedenheit weitgehend darin, dass die im gewöhnlichen Denken etablierte scharfe Trennung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit (oder sogar: Gesundheit und Krankheit allgemein) – die auch die Grundlage für die Arbeit der Psychiatrie und großer Teile der Psychologie bildet – so nicht aufrechterhalten werden sollte, dass es eines grundsätzlichen anderen Blicks auf geistige Krankheit bedarf. So versuchte Dr. Lorna Finlayson in dem Eröffnungsvortrag zu zeigen, dass es gute Gründe dafür gibt, „Wahnsinn“ als durch und durch politische Kategorie zu verstehen – nicht nur in dem Sinne, dass es immer eine politische Entscheidung ist, welche Verhaltens-, Denk- oder Fühlweisen als „wahnsinnig“ angesehen werden und welche nicht, sondern auch in dem Sinne, dass es sinnvoll sein mag, ganze Gesellschaften (wie etwa den gegenwärtigen Kapitalismus mit seinen destruktiven Beschleunigungstendenzen) als „verrückt“ zu bezeichnen. In den Panels wurden dann größtenteils einzelne Arten von geistigen Störungen verhandelt. So versuchte Darshan Cowles unter Rekurs auf Heideggers Angst-Begriff aufzuzeigen, dass Angst nicht als an sich schädliches Phänomen anzusehen ist, sondern nichts anderes als unsere Abhängigkeit von der Welt, in der wir leben, ausdrückt. Es mag demgemäß unserer existenziellen „Geworfenheit“ angemessener sein, Angst zu empfinden als „mutig“ zu sein – wir sollten die Angst mithin nicht verdrängen, sondern sie schätzen lernen als Gefühl, dass uns eine wesentliche Wahrheit über uns selbst offenbart. Im Anschluss daran stellte Philip D. Kupferschmidt einen Begriff der Schizophrenie vor, der diese primär als Wahrnehmungsstörung auffasst, in der in der normalen Wahrnehmung gezogene Grenzen zwischen Vorder- und Hintergrund, Innen und Außen, relevanter und irrelevanter Information verfließen und so verängstigende Kopplungseffekte entstehen. Die Differenz zwischen schizophrener und gewöhnlicher Erfahrung wird dadurch nicht bestritten, die Krankheit wird jedoch verständlich gemacht und kann so in ihrer Eigenart wertgeschätzt werden.

Der Organisator der Konferenz, Robert Chapman (links), und Philip D. Kupferschmidt. (Mit freundlicher Genehmigung des letztgenannten.)

Der Organisator der Konferenz, Robert Chapman (links), und Philip D. Kupferschmidt.
(Mit freundlicher Genehmigung des letztgenannten.)

In meinem eigenen Vortrag präsentierte ich zunächst Foucaults These, dass sich im 18. Jahrhundert unser heutiges Verständnis von Wahnsinn entwickelt hat, das diesem jede Vernunft abspricht und die Wahnsinnigen der repressiven Obhut der Ärzte überlässt. Dieses Verständnis von Wahnsinn wird von rationalistischen Philosophen wie Hegel im Rahmen ihres dualistischen Verständnisses des Verhältnisses von Natur und Geist kritiklos übernommen. In den Überlegungen von vernunftskeptischen Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche artikuliert sich dagegen im 19. Jahrhundert eine alternative Denkweise, die den Wahnsinn in die Vernunft zurückzuholen versucht und Wegbereiterin der Psychoanalyse ist. Bei Nietzsche wird ein Hauch von Wahnsinn geradezu als grundlegend für menschliches Leben angesehen.

Der Organisator der Konferenz, Robert Chapman (links), und ich. (Mit freundlicher Genehmigung von Philip D. Kupferschmidt.)

Der Organisator der Konferenz, Robert Chapman (links), und ich.
(Mit freundlicher Genehmigung von Philip D. Kupferschmidt.)

In seinem Abschlussvortrag zeigte Professor Derek Bolton vom King’s College, London, noch einmal sehr präzise auf, dass die gegenwärtige Psychiatrie selbst über keine stimmige Definition von psychischer Krankheit verfügt, die mehr besagt, als dass eben der krank ist, der von der Gesellschaft als krank definiert wird. Um auf den Eingangsvortrag zurückzukommen, wäre daran die Frage anzuknüpfen, ob in einer Gesellschaft, die womöglich ganz oder teilweise selbst „krank“ ist, ein wissenschaftlicher Begriff von Krankheit überhaupt entwickelt werden kann – die Psychiatrie gestünde dann freilich dadurch, dass sie ihre eigenen Grundbegriffe nicht gesellschaftsunabhängig definieren kann, ein, dass sie womöglich selbst nichts weiter als ein repressives Machtinstrument zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Krankheit im Namen vermeintlicher „Gesundheit“ ist.

Ein Scherz von Studierenden der Uni Essex.

Ein Scherz von Studierenden der Uni Essex.

Die Konferenz warf somit in einer äußerst anregenden Atmosphäre zentrale Fragen auf, ohne sie freilich abschließend klären zu können. Doch Teilantworten wurden durchaus erzielt: Es wurde mehr als deutlich gemacht, dass mit der Art, wie wir gemeinhin über „geistige Krankheit“ nachdenken, etwas grundsätzlich nicht stimmt, und dass das etwas mit der Verfassung unserer Gesellschaft zu tun hat, die auf Verdrängung und Überlastung basiert. Dies ist ein beunruhigendes Resultat, das nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Handeln anregen sollte.

Link zur Website der Tagung

Die Sphinx und eine Totenmaske. Schlossmuseum Colchester.

Die Sphinx und eine Totenmaske. Schlossmuseum Colchester.

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