Eine weitere Einreichung für den Eos-Preis von Hans-Joachim Schönknecht.
Authentizität als Idee und als Ideologie
Die HARP hat einen Aufsatzwettbewerb zum Thema der personalen Authentizität ausgeschrieben, und sie liegt mit dieser Idee – salopp gesprochen – goldrichtig, ist doch die Forderung nach bzw. die Prätention von Authentizität seit geraumer Zeit wenn nicht in aller, so doch in vieler Munde: im Internet finden sich zu diesem doch einigermaßen abstrakten Ausdruck angeblich mehr als 10 Millionen Einträge1)Vgl. J. Mai: Authentizität: Die Kunst [,] authentisch zu sein. www.karrierebibel.de/authentizitaet (Stand 2013) . Und da Philosophie, Hegel zufolge, die Aufgabe hat, ihre Zeit gedanklich zu erfassen, ist die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen nur folgerichtig.
Um die Erklärung dieser eigenartigen Konjunktur des Begriffs vorzubereiten, werfe ich, wie es guter methodischer Brauch ist, einen Blick auf seine
Etymologie und Verwendungsgeschichte
Die Lexika belehren uns darüber, dass das Adjektiv authentisch auf das griechische Nomen authéntes zurückgeht, das Herr bzw. Gewalthaber bedeutet. Es bezeichnet ursprünglich denjenigen, „der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch den Urheber“2)Röttgers/Fabian: Art. Authentisch. HWPh 1, Sp. 691. Der die Wurzel aut(os), ‚selbst‘ enthaltende Ausdruck kann auch, negativ konnotiert, den Täter, ja den Mörder bedeuten, und das zugehörige Verb authéntein bezeichnet das eigenmächtige Handeln. Speziell die letztgenannte Bedeutung ist im Gedächtnis zu behalten.
Ob die Griechen bereits über ein unserem Wort authentisch entsprechendes Adjektiv authéntikos verfügten, bleibt dahingestellt. Jedenfalls erscheint in den Texten der Kirchenväter die lat. Form authenticus als regelmäßiges Adjektiv zu auctoritas3)Vgl. ebd.; sie würde demnach ‚gültig‘ sowie ‚maßgebend‘ bzw., mit moderner deutscher Ableitung, ‚autoritativ‘ bedeuten4)Im Hinblick auf den Bedeutungsaspekt ‚maßgebend‘ ist nicht einsichtig, inwiefern die Verwendung des lateinischen Adjektivs für das Original einer Handschrift im Gegensatz zur Abschrift, dem exemplarium, eine zweite Bedeutung konstituieren soll, wie Röttgers/Fabian annehmen. Der ursprünglichen Handschrift, dem Original, kommen eben Autorität und Maßgeblichkeit bzw. Maßstäblichkeit zu, an denen die Qualität der Abschriften gemessen wird.. Auch auf Letzteres werde ich zurückkommen.
Beschränkt sich der Gebrauch des Begriffs authentisch in der älteren europäischen Geschichte im wesentlichen auf den juristischen und auf den theologischen Bereich, Letzteres in Form der biblischen Hermeneutik, der Frage nach dem authentischen, dem echten Sinn des biblischen Textes, tritt der Terminus mit der neuzeitlichen Entfaltung der Wissenschaften in weitere Kontexte ein. In der Archäologie steht der Terminus Authentizität für die tatsächliche Übereinstimmung der aufgefundenen Artefakte mit den Personen, Autoren oder Quellen, denen sie zugeschrieben werden und in der wissenschaftlichen Rhetorik steht er gar für das erfolgreiche Verhüllen der Konstruiertheit des Textes. Authentizität figuriert heute in Kontexten der Musik, des Rechts, der Informatik, ja sogar der Fachdidaktik, des Marketings und der Kulturwissenschaften5)Vgl. zu den genannten Verwendungen den Übersichtsartikel Authentizität in Wikipedia..
In all diesen Fällen geht es um die Verifikation von Authentizität, und deren Feststellung beruht auf der Prüfung des Gegenstands mittels bestimmter Kriterien. Hält das Objekt allen Prüfkriterien stand, wird es für authentisch befunden. Diese Art von Authentizität hat die Natur der Echtheit, der Ursprünglichkeit (Originalität) und der Maßgeblichkeit. Als Beispiel diene die Malerei: Nur das echte, also vom Künstler eigenhändig hervorgebrachte Gemälde ist Objekt des Begehrens, nicht gleichermaßen dessen manuell und noch weniger die typografisch erzeugten Kopien. Zugleich ist das Original Maßstab für deren Qualität; diese hängt ab vom Grad der Übereinstimmung mit dem Paradigma, dem ‚Vorbild‘. In einer Epoche nahezu unbegrenzter technischer Reproduktionsmöglichkeiten wie der unseren, in der sich jedermann Kopien der bedeutendsten Kunstwerke beschaffen und sie in seiner privaten Sphäre präsentieren kann, steigt demzufolge der Marktwert der Originale ins Unermessliche, in Proportion mit der zunehmend beliebigen der Zahl der Kopien.
Unter den Themenfeldern, auf denen Probleme der Authentizität verhandelt werden, findet sich schließlich noch ein sehr spezielles, nämlich der Mensch selbst. Was Menschen in Bezug auf den Menschen solcherart in die Frage stellen, erscheint unter dem Titel der
Authentizität der Person
Damit sind wir bei dem von der HARP gestellten Thema. Ich beginne mit der
Exposition der Frage
Dass die Anwendung der Authentizitätsfrage auf den Menschen ihre Besonderheit hat, liegt auf der Hand. In den genannten Sachzusammenhängen ist diese Frage prinzipiell entscheidbar, sofern nur die Kriterien des Authentischen sachgerecht definiert sind, die Objekte sorgfältig geprüft wurden und, idealerweise, alle relevanten Informationen vorliegen.
Das Spezifische der Authentizitätsproblematik bei Menschen liegt nun darin, dass der Mensch nicht, wie ein Gemälde oder ein altes Manuskript, einfach da ist – da ist er selbstverständlich auch –, sondern dass er sich in spezieller, auf in der Welt einzigartige Weise gegenwärtig ist, dass er ein Selbst ist und um sein eigenes Sein weiß, kurz, mit traditionellem Terminus, dass er Bewusstsein hat, Bewusstsein von sich und seinem Anderen, d.h. der Welt, den ‚anderen‘ Menschen.
Aus diesem Grund ist mit dem Begriff der Echtheit als Kriterium von Authentizität hier nichts anzufangen und ich wähle stattdessen in Bezug auf den Menschen heuristisch die Bestimmung, dass Authentizität sich manifestiert als Treue zu sich selbst, begrifflich schärfer formuliert als Festhalten an der eigenen Identität.
Doch über den Sinn wie über die Möglichkeit und die Notwendigkeit solcher Treue zu sich selbst ist mit dieser Definition noch nicht befunden. Denn diese Parameter variieren je nach dem Kontext, in den sie gestellt werden. Ich werde im folgenden drei solcher Kontexte unterscheiden: den metaphysischen, den ethischen und den sozialtheoretischen Kontext.
Das Authentizitätsproblem im metaphysischen Kontext:
der Mensch als Frage für sich selbst
Wird einem Menschen die Frage gestellt, wer er ist, wird er in der Regel die leicht nachprüfbaren Sachverhalte wie Name, Alter, Nationalität, Familie, Beruf, Hobbys usw. nennen, durch die wir uns alle gemeinhin identifizieren. Es sind diese Daten, mittels deren wir uns in der Welt verorten, anders gesagt, durch die wir uns mit uns selbst vermitteln: wir sind das, als was diese Daten uns ausweisen.
Fasse ich diese Vermittlungen, in denen unser gesellschaftliches Dasein sich vollzieht und die für unsere Identität bzw. Authentizität unabdingbar sind, als solche ins Auge, relativieren sie sich; es wird sichtbar, dass sie nicht alles, nicht die Sache selbst, sondern eben nur vermittelnde Instanzen sind. Dahinter öffnet sich ein anderer, abstrakterer Horizont – ich nenne ihn mit klassischem Terminus den metaphysischen –, und hier wird unser Selbst als ein solches sich zur Frage. Denn im oft schmerzlich empfundenen Gegensatz zu diesem Wissen um sich selbst in seinen Vermittlungen, steht doch der Sachverhalt der Unergründlichkeit dieses Ich, das ein jeder ist, die Unhintergehbarkeit dieser ‚transzendentalen Einheit der Apperzeption‘ (Kant), das heißt die völlige Unkenntnis seines Von wo und Wohin, die ihr Korrelat in der Abgründigkeit der Welt hat. Setzt man sich diesem Nichtwissen radikal, unter Abstraktion von den genannten Vermittlungen aus, so endet man, falls man des religiösen Trostes entbehrt oder sich dagegen sträubt, bei der existentialistischen Geworfenheit, der ‚Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts‘ (Heidegger6)Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken (Frankfurt/M. 1978, S. 103) ), bei dem Absurden (Camus7)Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (Hamburg 1987) ).
Schließt der religiöse Glaube den hier aufbrechenden Abgrund – und Religion ist vielleicht in ihrer Genese nichts anderes als die Reaktion des Menschen auf die Erfahrung dieser Abgründigkeit – ist die Identitätsfrage gelöst und Authentizität resultiert aus dem Festhalten an den aus der religiösen Verankerung resultierenden Konsequenzen. Demjenigen, für den Religion ohne Bedeutung ist, bleibt als authentische Haltung nur die illusionsfreie Einsicht in den ephemeren Charakter des Daseins. Mit den düsteren Worten Samuel Becketts zu sprechen: „Rittlings über dem Grab und eine schwere Geburt. Von unten – aus der Grube heraus – legt der Totengräber seine Geburts-Zangen an [] Der Tag erglänzt für einen Augenblick – und dann von neuem die Nacht“8)Warten auf Godot.
Der ethische Kontext:
Versuch der Antwort auf die Frage nach dem Sein des Menschen
Aus dieser Situation der Endlichkeit, des ephemeren Daseins – es ist Situation kat’exochen, die „menschliche Bedingung“, wie es bei Sartre heißt9)Drei Essays (West-Berlin 1960), S. 26, folgt jedoch, dass der Mensch sich selbst problematisch, d. h. zur Frage werden kann, zunächst in der persönlichen Form: Wer bin ich (eigentlich)?, sodann auch in der verallgemeinerten Form als Frage nach der menschlichen Natur als solcher. Dies ist vielleicht nicht die erste Frage, der der Mensch in der täglich erfahrenen, durch die Beschaffenheit seiner Physis bedingten Nötigung, sein Leben zu fristen, begegnet, aber sie stellt sich ihm wohl doch sehr bald. Für Immanuel Kant jedenfalls war die Frage nach der Natur des Menschen sogar die die Philosophie selbst hervor treibende Frage: Ihre Beantwortung war der Endzweck der drei die philosophische Thematik konstituierenden Einzelfragen Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen? Sie werden gestellt um willen der sie übergreifenden Grundfrage: Was ist der Mensch?
Eines der aus europäischer Perspektive ersten, wenn nicht das erste Dokument des Bewusstseins der Uneindeutigkeit des menschlichen Seins und der Fraglichkeit, die das Selbstverhältnis des Menschen bestimmt, ist die berühmte Inschrift Gnothi seautón – Erkenne dich selbst! auf dem Tempel des griechischen Apollo, des Gottes der Schönheit und der Geistigkeit, zu Delphi. Sie bringt diese für das Authentizitätsproblem charakteristische Spaltung zwischen dem Faktum des Daseins und dessen Unbestimmtheit unmittelbar zum Ausdruck. Dies allerdings nicht in Form bloßer Feststellung, sondern in Gestalt des Imperativs, an diesem Widerspruch produktiv geistig zu arbeiten, d. h. dass Unbestimmte zur Bestimmung zu bringen.
Weil dies der fundamentale geistige, aus dem eigenen Inneren des Menschen hervor quellende Anspruch ist, hat Hegel den delphischen Spruch als das absolute Gebot bezeichnet: diesem Imperativ kann sich keiner entziehen. Der Mensch, jeder einzelne von uns, will und muss wissen, wer er ist. Authentizität, Identität mit sich selbst, besteht in diesem Wissen.
In griechischer Zeit begann man – ich beschränke mich, wie gesagt, auf die europäische Perspektive – diese Frage selbst und Antworten darauf zu formulieren.
Einen Typ von Antworten liefert die griechische Kunst, als Dichtung sowohl wie als bildende Kunst: Sie lässt sich in toto verstehen als Interpretation des Menschen. In einer berühmten Chorpartie seiner Antigone nimmt Sophokles sogar explizit Stellung zum menschlichen Wesen. Da heißt es: Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch… – und darauf folgt eine von Pessimismus nicht freie Eloge auf die sich die äußere Natur unterwerfende und schützende staatliche Ordnungen entwerfende, aber zugleich von innerer Zuchtlosigkeit bedrohte menschliche Wesensart. – Und die griechische Skulptur ihrerseits ist in ihrer Essenz nichts als die permanente Enthüllung dessen, was im menschlichen Körper an Schönheit inbegriffen ist; sie wird damit zum Paradigma für zwei Jahrtausende künstlerischen Schaffens.
Ebenfalls in expliziter Form begegnen uns die Frage und die darauf gefundenen Antworten in der Philosophie: Sokrates, wahrhafter Prototyp des Philosophen, erscheint geradezu als die Verkörperung des in der delphischen Sentenz formulierten Anspruchs Erkenne dich selbst!, wenn er gesteht, dass er es „noch nicht [vermöge], dem delphischen Spruch nachkommend, mich selbst zu erkennen“10)Phaidros, St. 229, und er räumt ein, dass er sich, angesichts seiner Empfindung, vom daimonion, einer göttlichen Stimme, geführt zu werden, nicht sicher ist, „ob ich ein Ungetüm bin [an Eigendünkel], fürchterlicher aufgebläht als Typhon oder ein sanfteres und einfältigeres Geschöpf“11)Ebd., St. 230 – welch ein Beweis für Sokrates’ Wissen um die Abgründe des menschlichen Gemütes und welch ein starker Beleg für den realen Gehalt des Authentizitätsproblems als Frage nach der wahren Natur des Menschen!
Aber Sokrates belässt es nicht bei der Frage, er wendet sein Leben daran, dieses Problem, konkretisiert als Frage nach dem richtigen Leben und nach dem Guten und Gerechten, mit seinen Mitbürgern zu erörtern und diese für Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu sensibilisieren. Er setzt selbst das von ihm Erkannte im Leben um: Seine infolge ungerechter Verurteilung erfolgte, von ihm bewusst und ohne Widerstand akzeptierte Hinrichtung wird zur Manifestation dessen, was der Mensch sein kann und soll: die über das bloße faktische Leben hinausgehende Treue zur sich selbst gegebenen Bestimmung, zu den gewählten Prinzipien. Es kann wohl keine Haltung geben, die mehr das Gütesiegel der Authentizität verdient als diese.
Sokrates’ Haltung bleibt eine zeitlos gültige Möglichkeit, und ein jeder ist nach wie vor dazu aufgefordert, zu dieser Art Authentizität gelangen, indem die dazu nötige innere Kraft aufbringt. Demjenigen, der Authentizität als Arabeske der eigenen Person genießen will, bleibt sie allerdings verschlossen.
Sozialtheoretischer Kontext:
Authentizität im Horizont der Moderne
Der aktuelle Wirbel um Authentizität, d.h. um die wahre Natur des Menschen sowie die diesbezügliche Verunsicherung, soll nicht heruntergespielt werden, denn er verweist auf ein die Gesellschaft heimsuchendes Bedürfnis, auf eine Art sozialen Leidens. Es wäre unangemessen, in Analogie zur Aufklärung, die einst die religiöse Unruhe der Menschen als Resultat des Priesterbetrugs glaubte interpretieren zu können, nunmehr dies Leiden an mangelnder Authentizität bloß der Propagierung des Themas durch die Massenmedien bzw. die neue Priesterkaste der darin ein Geschäftsmodell witternden Psychoanalytiker zu deuten. Das Authentizitätsbedürfnis soll auch nicht als Luxusleiden einer materiell saturierten, mit einem hohen Maß an sozialem Komfort ausgestatteten Gesellschaft abgetan werden, auch wenn es sich explizit wohl erst in einer solchen bemerkbar macht.
Andererseits zeigt uns das Beispiel des Sokrates, dass Authentizität nur das Ergebnis eigener Reflexion und eines entwickelten moralischen Bewusstseins und damit Resultat eigener Bemühung sein kann, zu der eben auch der Widerstand, zumindest die innere Distanz, bezüglich der gesellschaftlich angebotenen Surrogate von Sinn gehören, etwa die maßlose, meist passive Hingabe an den Sport, die blinde Identifikation mit den Konsummöglichkeiten sowie die kritiklose Offenheit gegenüber den sich endlos erneuernden, aber konsequent auf Zerstreuung statt auf geistige Konzentration setzenden, weitgehend unterhalb der Reflexionsschwelle operierenden Angeboten der Medien.
Im eigentlichen Sinn erscheint mir die Authentizitätssehnsucht wie die Prätention von Authentizität als Phänomen der Moderne, diesen Begriff im historisch weiten Sinn genommen, und sie hat ihren Ursprung, wenn auch nicht ihre Realität in dem Veränderungsprozess, der die sog. Neuzeit hervorbringt und durch dessen Permanenz sie gekennzeichnet ist. Dieser Prozess hat zwei miteinander korrelierte, nur formal zu trennende Dimensionen, einerseits eine tiefgreifende Veränderung im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur Welt, andererseits die damit aufs engste verzahnte Umformung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse als solcher. Ich referiere zunächst in äußerster Verknappung den zweiten Aspekt.
Der Prozess setzt ein mit dem Zerfall des mittelalterlichen Feudalismus mit seinen klar definierten Standesgrenzen, das heißt mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, die in Hinsicht auf die Subjektseite die Emanzipation des Individuums von institutionalisierten Schranken bringt. In einem Jahrhunderte dauernden Prozess und mit Retardierungen und Ungleichzeitigkeiten erobert sich das bürgerliche Individuum wirtschaftliche, weltanschauliche und schließlich politische Autonomie.
Eng verflochten ist dieser Prozess mit der nur begrifflich davon zu trennenden Entstehung der Naturwissenschaft, die die der Welt im aristotelischen Kosmos gezogenen Grenzen als Fiktion entlarvt und das Universum als ungeheuren, in seinen letzten Bewegungsprinzipien wahrscheinlich nicht gänzlich durchschaubaren Mechanismus sichtbar macht.
Ebenfalls durch die Naturwissenschaften getragen, vollzieht sich der Prozess der technischen Unterwerfung der Natur, der die Wirtschaftsformen tiefgreifend verändert und schließlich zu einem erdumspannenden System von Kommunikation und ökonomischer Interdependenz samt den kollateralen Phänomenen eines weltbedrohenden Waffenarsenals und ruinöser Rückwirkungen auf das ökologische System Erde führt. Für eine schließliche Bewältigung dieser Risikofaktoren gibt es keinerlei Garantie, die Menschheit hat sie zu leisten. Der uns alle noch irgendwie leitende Glaube an eine prästabilierte Harmonie könnte sich als trügerisch erweisen.
Betrachten wir die kulturellen Effekte dieser durch die abendländische, christlich-philosophische Kultur selbst in Gang gesetzten Entwicklung, müssen wir konstatieren, dass alle naturwüchsigen Lebensformen, die Traditionen und Bräuche und wohl auch die regionalen Religionen, nur noch residualen Charakter haben und dass wir einer einheitlichen planetarischen Zivilisation entgegengehen.
In diesen nun brüchig werdenden Partikularitäten aber war die Identität der Menschen, d. h. der jeweiligen Kollektive (Gemeinschaften auf lokaler, regionaler, nationaler, religiöser sowie Brauchtumsebene) fundiert. Die als substantiell erlebten Gehalte sinken objektiv zu bloßen Phänomenen herab, und dies mag Menschen verunsichern, die diese Erosion sich nicht deutlich zu Bewusstsein zu bringen vermögen, sondern sie nur unklar empfinden.
Diesen objektiven, sich dem Blick auf Geschichte und Gegenwart aufdrängenden Veränderungen korrespondieren, wie angedeutet, Veränderungen im menschlichen Selbst- und Weltverständnis, die für die Frage der Authentizität besonders relevant sind. Diese thematisiert das folgende Kapitel.
Neuzeitliche Transformation der menschlichen Selbst- und Weltinterpretation
Deren Betrachtung hat historisch anzusetzen bei der in der Renaissance anhebenden, zunächst nur theoretisch entwickelten, allenfalls von einigen genialen oder mächtigen Individuen in Kunst und Politik ausgelebten menschlichen Selbstbejahung, die im Gegensatz zu den mittelalterlichen Beschreibungen des Menschen als eines elenden, nur dank der Kirche und der durch deren Vermittlung zu erlangenden göttlichen Gnade werthaltigen Wesens, nun auf eine „Würde“ (Pico della Mirandola) des Menschen als solchen abstellt. Die Reformation fügt dem die Idee der inneren Freiheit des Menschen im Glauben und vor Gott hinzu, ferner den Gedanken der sakrosankten Instanz des Gewissens, deren Unabhängigkeit keine weltliche Macht anzutasten hat. Die politischen Naturrechtslehren konzipieren den Staat nicht mehr vom durch göttliche Gnade eingesetzten und legitimierten Herrscher her, sondern als Produkt eines Vertrages zwischen den grundsätzlich freien, aber um der Sicherheit des Lebens willen aus der Vereinzelung heraustretenden Individuen, die damit gleichberechtigte Bürger werden. Die Bewegung der politischen Autonomisierung des Menschen kulminiert in der Idee der Volkssouveränität sowie in der Schaffung einer demokratischen Verfassung in Amerika und in der Beseitigung der Ständeordnung und der Proklamation allgemeiner Freiheit und Gleichheit im Frankreich der Revolution.
Die auf bürgerlicher Gleichheit basierende Demokratie wird damit, auch wenn ihre allgemeine Durchsetzung bis heute nicht realisiert ist und Rückfälle in Despotie immer wieder stattfinden werden, die einzig legitimierbare Staatsform; eine andere ist theoretisch gar nicht mehr darzustellen. Die von den antiken Philosophen nobilitierte Herrschaft der aristoi, der ‚Besten‘, also die Aristokratie, scheitert an ihrem selbstreferenziellen Charakter: Wie sollen die Besten definiert und bestimmt werden? Dies vermögen ja nur die Besten selbst. Damit aber wäre der Kampf um die Macht eröffnet.
Entscheidend für die Authentizitätsfrage ist nun, dass parallel zur bürgerlichen Emanzipation auch eine Bewegung politischer Romantik beginnt. Rousseau, einer der Väter des demokratischen Gedankens, ist wesentlicher Verfechter dieser Tendenz. Sie besteht, grob gesagt, darin, dass Rousseau die (moralischen) Übel in der Welt nicht mehr den Menschen als Subjekten, sondern der Zivilisation im allgemeinen, dem Privateigentum, den ‚gesellschaftlichen Verhältnissen‘ eben, anlastet. Den natürlichen Menschen betrachtet er als an sich gut, und generell hält er den Menschen für perfektibel. Für ihn ist das Authentische das Natürliche. Deshalb muss der Mensch „von den Zwängen einer Gesellschaft befreit werden, die den Einzelnen zu einem egozentrischen Wesen macht“12)W. Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau (München 1984), S. 394.
Über die Suggestivkraft dieser Idee kann kein Zweifel bestehen. Aber der logische Zirkel in dem Gedanken liegt auf der Hand, es ist ein doppelter Zirkel: Denn a) wie wäre denn der gute Naturzustand zerstört worden, wenn nicht durch menschliche Destruktivität und b) wie sollen die zivilisatorisch depravierten Individuen sich selbst zur ursprünglichen Reinheit des Naturzustandes zurückbringen? Dennoch hat diese Argumentationsfigur, deren großer Fortsetzer Karl Marx war, bis heute ihre Anziehungskraft auf viele Gemüter nicht verloren. In Verbindung mit der optimistischen Überzeugung, „dass jeder Mensch seine eigene originelle Weise hat“13)A. Saupe: Nur das Echte zählt. Kulturgeschichte der Authentizität. www.tagesspiegel.de, 28.12.2015, führt sie zu dem quasi gnostischen Gedanken, dass hinter den gesellschaftlich aufgezwungenen Verstellungen und Masken ein reines, nicht kontaminiertes, eben das authentische Ich seiner Freilegung und Erweckung, mit modischem Ausdruck: seiner Verwirklichung harre. ‚Selbstverwirklichung‘ wird zum großen Schlagwort der 1960er/1970er Jahre, bevor es diese Rolle an den hier thematischen Ausdruck Authentizität abtritt.
Wer in dieser Haltung – und im Gegensatz zu der oben herausgearbeiteten Natur von Authentizität als Resultat eigener Bemühung – sich in dem Glauben wiegt, Authentizität sei sozusagen von der Stange zu haben oder gar versucht, wie seinerzeit die Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens, Hannelore Kraft, mit der Aussage: „Ich bin authentisch“14)Ebd., solche zu prätendieren und damit öffentlich zu punkten, unterliegt einem Irrtum, denn, wie A. Saupe ausführt, „intendierte Kommunikation von Authentizität verwirkt den Kern authentischer Rezeptionserfahrung“15)Ebd..
Und doch ist die Gesellschaft von der Authentizitätsprätention durchdrungen. Beste Beispiele dafür sind die sog. sozialen Netzwerke. So fordert zum Beispiel Facebook den Ankömmling auf, einfach einem Freund mitzuteilen, was man gerade tue. Hier wird die Suggestion erzeugt, man könne unmittelbar Authentizität manifestieren. Aber wer sich darauf einlässt und dabei etwas kritischen Sinn bewahrt, wird enttäuscht werden, denn es stellt sich heraus, dass man genau das tut, was alle tun, nämlich die üblichen Praktiken des Alltags exekutiert oder vielleicht gerade einem vom Fernsehen angeregten touristischen ‚Geheimtipp‘ auf der Spur ist wie alle anderen, denen man dort begegnet: Die vermeinte Authentizität hebt sich unmittelbar selbst auf.
Zwischen dem für die konsumistisch orientierte, von medialen Angeboten überschwemmte Gesellschaft typischen narzisstischen Anspruch der Individuen, ein Recht auf alles und auf unmittelbare Erfüllung zu haben, und der Erfahrung der Begrenztheit der Möglichkeiten zu wirklicher Originalität tut sich die Authentizitätsfalle auf – oder schnappt sie zu, ganz wie man will … – und zwar als Enttäuschung. Die Weigerung, diese anzunehmen und zu verarbeiten, treibt die reflexionslose Furcht um mangelnde Geltung der eigenen Person, das heißt das Gefühl des Authentizitätsverlustes hervor.
Dieses Verlustgefühl wird nur derjenige bewältigen, der – als ein guter Schüler des Sokrates – das Recht der objektiven Wirklichkeit, nämlich der uns alle in unserer materiellen, aber auch geistigen Existenz ermöglichenden und tragenden Gesellschaft, auf die eigene Person anerkennt.
Fußnoten
↑1 | Vgl. J. Mai: Authentizität: Die Kunst [,] authentisch zu sein. www.karrierebibel.de/authentizitaet (Stand 2013) |
---|---|
↑2 | Röttgers/Fabian: Art. Authentisch. HWPh 1, Sp. 691 |
↑3 | Vgl. ebd. |
↑4 | Im Hinblick auf den Bedeutungsaspekt ‚maßgebend‘ ist nicht einsichtig, inwiefern die Verwendung des lateinischen Adjektivs für das Original einer Handschrift im Gegensatz zur Abschrift, dem exemplarium, eine zweite Bedeutung konstituieren soll, wie Röttgers/Fabian annehmen. Der ursprünglichen Handschrift, dem Original, kommen eben Autorität und Maßgeblichkeit bzw. Maßstäblichkeit zu, an denen die Qualität der Abschriften gemessen wird. |
↑5 | Vgl. zu den genannten Verwendungen den Übersichtsartikel Authentizität in Wikipedia. |
↑6 | Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken (Frankfurt/M. 1978, S. 103) |
↑7 | Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (Hamburg 1987) |
↑8 | Warten auf Godot |
↑9 | Drei Essays (West-Berlin 1960), S. 26 |
↑10 | Phaidros, St. 229 |
↑11 | Ebd., St. 230 |
↑12 | W. Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau (München 1984), S. 394 |
↑13 | A. Saupe: Nur das Echte zählt. Kulturgeschichte der Authentizität. www.tagesspiegel.de, 28.12.2015 |
↑14 | Ebd. |
↑15 | Ebd. |
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