Ein Gastbeitrag von Jonathan.
Corona, habe ich mich neulich gefragt. Wie schmeckte gleich noch diese mexikanische Biersorte mit dem gewissen Maisanteil? Ich weiß es nicht, nur, dass sie äußerst populär ist. Daher spricht in diesen Zeiten nichts dagegen, vielleicht mal ein paar Kisten davon einzulagern, wenn man denn ein beschauliches Heim vorzuweisen hat. Wenn neben dem Dosenfutter, dem sterilisierten Wasser und der Munitionskiste noch Platz ist, versteht sich. Doktor Prepper lässt grüßen. Vielleicht sollte ich mir überlegen, wie ich mir dann im selbst gebauten Bunker – zumal, wenn das Internet ausfällt (oder abgeschaltet wird) – die Zeit vertreibe. Mal wieder was lesen könnte ich. Zum Beispiel „Die Pest“ von Albert Camus. Ein Kumpel wollte es die Tage kaufen – doch es war ausverkauft.
Populärer noch als das Bier ist das Virus, dessen Name viral um die Welt geht, die Finanzmärkte verunsichert und den Menschen einen Schrecken einjagt, wie lange nicht mehr. Gegen vorbeugende Maßnahmen und regelmäßig Händewaschen ist nichts einzuwenden. Eine der wichtigsten Erfindungen in der jüngeren Menschheitsgeschichte war die künstliche Herstellung von Penicillin. Mit diesem Antibiotikum konnten nach 1940 viele bakterielle Infektionen bis hin zur Lungenentzündung enorm abgemildert werden, sodass sie nur noch selten tödlich enden. Die Einführung und staatlich verordnete Durchsetzung der Hygiene war ein zivilisatorischer Fortschritt.
Diesen hätten „wir“ aber, wie so vieles auch, anders erreichen können. Im alltäglichen Wirrwarr vergessen wir oft, worauf unsere Zivilisation beruht – beispielsweise auf der Auslöschung vermeintlich nicht „rationalen“ Wissens, regionaler Sprachen und Kulturen, der Geschichten einer Vielzahl von Menschengruppen – in Europa und noch viel stärker darüber hinaus. Damit wurde auch ein ausgeprägtes Wissen um Heilkunde verdrängt und vernünftige Lebensweisen gebrandmarkt, in denen Menschen stärker auf ihre Bedürfnisse achten, schlafen, wenn sie müde sind und sich ausgiebig ausruhen, wenn sie krank sind. Übrigens ist die Annahme, große Teile der indigenen Bevölkerung der Amerikas wären durch europäische Krankheiten umgekommen, ein krampfhaft wiederholtes Gerücht. Es soll die Geschichtsschüler*innen davon abhalten, nachzufragen, wie viele Menschen in den Mienen und auf den Plantagen der Weißen verreckt sind oder beim geringsten Zeichen von Widerstand von ihnen zur Abschreckung getötet wurden.
Die Durchsetzung der Zivilisation beruht grundlegend auf der Konstruktion von Barbarei, eines unkontrollierbaren, bedrohlichen Außen, welches verdrängt werden muss, damit die Brüchigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht sichtbar wird und damit erodiert. Erst die Krankheit, die Abweichung, ermöglicht die Konstruktion eines angeblich Gesunden, der Vorstellung eines organischen Ganzen, welches gleichzeitig laufen soll, wie die Zahnräder einer geölten Maschine. Wo sich der Organismus als krank erweist, die Maschine nicht richtig funktioniert, wird die Ursache außerhalb gesucht, beim Anderen, Unkontrollierbaren, zugespitzt: beim Volksfeind, den es daher „auszurotten“ gälte.
In Zeiten des Kalten Krieges, dem Systemkonflikt zweier Gesellschaftsformen, die sich viel ähnlicher waren, als sie zugeben konnten, war klar, wo das Andere stand, gegen das man sich richten musste. Der Anschlag auf das World-Trade-Center in New York 2001 markierte einen historischen Zeitpunkt, nach dem der Islamismus als antagonistische Ideologie zur „freien Welt“ aufgebaut werden konnte. Diesen gab und gibt es ja auch. Doch was verschleiert wird, ist, wie sehr er die bestehende kulturelle und politische Hegemonie bloß spiegelt. Von der neoliberalen Auflösung des wohlfahrtsstaalichen Klassenkompromisses und einer Zuspitzung der Klassenspaltung brauchte deswegen nicht mehr die Rede sein. Mit dem im neuen Jahrtausend durchgesetzten „Sicherheitsparadigma“ wurden tiefgreifende Einschnitte in demokratische Grundrechte ermöglicht – sei es bei der Überwachung von Menschen, der Wiedereinführung von Grenzkontrollen, oder der Einschränkung von Versammlungsfreiheit. Dies war die Antwort auf die als neuartig dargestellte Konstellation einer asymmetrischen Kriegsführung. – Doch Krieg herrscht heute nach wie vor an vielen Orten auf der Welt. Die Kriegsgefahr ist keineswegs aus ihr verschwunden, sondern nimmt zu wie die Aufrüstung der jeweiligen Heere und die Groß-Militärübungen an Europas Grenzen. In Syrien reißen sich die Militärmächte ihre Pfründe unter den Nagel, indem sie meist stellvertretend Krieg mit Milizen führen, so wie die Türkei islamistische Gruppen fördert und Russland und der Iran das Azad-Regime unterstützt…
Die Herrschenden der Welt suchen nach neuen Großkonflikten. Und solange diese nur am Horizont erscheinen, füllt das Virus, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, ihre Lücke. Pandemien sind wie Aliens, sind wie Zombies, wie Echsenmenschen und flache Erden, die in den hohlen Birnen der Verschwörungstheoretiker*innen umhergeistern. Denn irgendwer muss doch den Brunnen vergiftet haben, irgendwer muss doch verantwortlich sein, an diesem apokalyptischen Zustand der Welt, der sich für viele so ganz diffus spürbar einfach grundlegend falsch anfühlt! Ist Corona ein Schicksal, eine Plage Gottes, wie etwa auch die aktuelle Heuschreckenplage, die in Ostafrika eine neue Welle der Hungersnot verursachen könnte?
Nein. Mit Corona kehrt das Verdrängte in die Zivilisation zurück, das, was wir alle nicht wahrhaben wollen: Menschliche Tiere sperren andere Tiere in Massen ein, um sie massenweise abzuschlachten. Sie sperren die Alten ins Altersheim, weil sie ihr alt-sein nicht ertragen können, da sie sonst an ihr eigenes Alter denken müssten. Sie sperren die Delinquenten in die Knäste, denn dort wären sie wohl gut aufgehoben – in Zellen werden sie bessere Menschen, denn sie sind böse. Schließlich kann und darf es nicht sein, dass eine Gesellschaft, die auf massiver Ungleichheit beruht, erst den Gesetzesübertritt hervorbringt, an dessen Beschränkungen wir uns wie an die Illusion der guten Ordnung klammern. Und die Fliehenden? – Sie werden in Deutschland in Lager gepfercht oder in Libyen von Gangs versklavt; sie dienen dem türkischen Staat als Kanonenfutter, um die europäischen Regierungen damit zu erpressen. Die nämlich müssten ihr geheucheltes liberal-demokratisches Aushängeschild der weltgeschichtlich immerbesten Gesellschaftsform abhängen, wenn sie die Elenden nicht weiterhin ohne jede Perspektive im Niemandsland verrotten lassen können, wo sie keiner hört und sieht. – Denen, die anders sind, will ich die Hände reichen, damit wir merken, wir ähnlich wir uns sind, wenn wir uns in die Augen schauen.
Wer aber ist eigentlich dieses „Wir“, das sich so verunsichert fühlt, ja, sich bedroht und verängstigt fühlen soll, um unter den desinfizierten Händen der starken, durchregierenden Regierung im Gefühl der Bedrohung, geeint gegen einen gemeinsamen Feind, zusammengeschweißt wird? Je ungreifbarer, unsichtbarer und potenziell allgegenwärtiger die Bedrohung, desto umfassender, konsequenter und allmächtiger muss jene gute, harte – weil letztendlich: notwendige – Führung sein, welche ihren Bürger*innen die Sicherheiten zurück gibt, die sie meinen, durch ihre Lohnarbeit oder qua ihrer Geburt, in einem bestimmten Land, ihrem Geschlecht oder ihrer Stellung in der sozialen Hierarchie „verdient“ zu haben.
Komisch nur, dass Regierungen weltweit sich – wie sie immer und immer und immer wieder deutlich gezeigt haben – nicht ansatzweise in der Lage zeigen, die Gesellschaft sozial-ökologisch zu transformieren. Beziehungsweise, komisch nur scheinbar, denn alle wissen, dass dazu der Kapitalismus überwunden werden müsste… Und wenn wir diesen etwas kennen, dann ahnen wir: Nein, „wir“ sitzen nicht alle in einem Boot. Das Boot ist auch nicht voll. „Wir“ sitzen in gar keinem Boot. Die meisten von uns sitzen meistens auf einem Land, wo noch viel Platz ist, dass aber mit steigendem Meeresspiegel weniger wird, während die Bonzen in ihren Jachten an uns vorbeifahren.
Jeder Vorwurf, staatliche Stellen hätten zu spät oder zu fahrlässig auf die Seuche reagiert, stärkt den Glauben an den Staat und seine Handlungsfähigkeit – selbst bzw. gerade in der scheinbaren Kritik an seinen Institutionen. Notstandsgesetze lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen in der Bevölkerung etablieren. Sie muss daran gewöhnt werden und sie selbständig einüben in der Generalmobilmachung. – Wenn ich einen faschistischen Staatsstreich durchführen würde, wann wäre ein besserer Zeitpunkt als der Ausbruch einer Pandemie mit verhängter Ausgangssperre und der Einschränkung von Versammlungs-, dann auch Presse- und Meinungsfreiheit? Wann wäre eine bessere Gelegenheit alle potenziell widerständigen Feind*innen wegzusperren und zu ermorden – beides ließe sich schließlich auch damit rechtfertigen, sie wären im doppelten und dreifachen Sinne „krank“. Vorsicht ist besser als Nachsicht, heißt es doch. Wenn dann alle komplett vereinzelt zu Hause sitzen, bekommt das auch niemand weiter mit. Auffällig sein lohnt sich nicht. Verdächtig macht sich, wer kein Desinfektionsmittel im Haushalt hat. Eine Person, die ich schon sehr lange kenne, sagte letztens allen Ernstes zum Abschied zu mir: Immer schön desinfizieren! – Da habe ich vollends erkannt, was vorlaufender Gehorsam ist. –
Der Skandal ist nicht, dass manchen Behörden vorgeworfen wird, auf die Pandemie zu spät reagiert oder die Gefährdungslage heruntergespielt zu haben. Der Skandal besteht darin, dass Millionen Menschen in meistens ehemals kolonialisierten Ländern an heilbaren Krankheiten sterben. Nicht allein, weil es dort zu wenig Krankenhäuser und medizinisches Personal gibt, sondern, weil Pharmakonzerne Patente auf Medikamente besitzen, welche für einen Bruchteil des Preises hergestellt und allen Kranken zur Verfügung gestellt werden könnten. Oder auch kostenlos, warum denn nicht? Gesundheit ist ein Menschenrecht. Es sind genau jene Konzerne, die von der geschürten Panik enorm profitieren, vielleicht gar auf Finanzspritzen aus öffentlichen Mitteln hoffen dürfen, um die Entwicklung neuer hochpreisiger Medikamente voranzutreiben. Milliarden an Steuergeldern sind für die Genesung der nationalen Ökonomien freigegeben worden – wer diese langfristig aufbringen soll und wer daran noch verdienen kann, ist eine Frage von Klassenkämpfen. Das ist absurd. So absurd wie der mediale Diskurs um eine neuartige Grippe.
Wenn ich einem Kind einen Namen geben könnte, würde ich es Corona nennen. Corona, die Schreckliche. Oder Corona die Schöne. Corona, die Schrecklich-Schöne. Wie toll das klingt! Ihr Name soll ein Sinnbild für die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit unserer Leben sein; dafür, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Er sollte darauf verweisen, wie kostbar und wundersam unser aller verbundene Leben sind. Und dass es aufgrund dieser existenziellen Tatsache nicht angehen kann, dass sich die einen absichern und bereichern, während die anderen in permanenter Unsicherheit zu leben gezwungen und ausgebeutet werden. Corona, die strahlt, wie die Hülle der Sonne. – Ich würde sie herzen und umarmen, so wie ich alle Menschen umarmen möchte, die ich gern mag – einige sogar spontan, obwohl ich sie gar nicht kenne. Und obwohl ich nicht weiß, ob sie sich die Hände gewaschen haben. Ich möchte ihnen auf Augenhöhe begegnen und keine Angst vor ihnen haben (sollen) müssen, nur weil sie Virenwirte sind. Das sind wir alle. Und das ist meistens völlig in Ordnung. – Was gäbe es in diesen verunsichernden Zeiten Schöneres, als eine spontane Versammlung von hundert und eins Menschen, die – wider der Isolation! – zusammen kommen, um das Leben zu feiern; die bedingungslos und ehrlich Ja sagen – zu ihren Ängsten, ihren Enttäuschungen, ihren Schwächen, ihren Hoffnungen, ihrer Freude und ihren Stärken?
Zu heilen gilt es uns nicht vorrangig von einem neuen Virus, welches von einem mysteriösen Außen, aus einer gefährlichen Fremde kommt. Das kriegt das Gesundheitssystem schon (noch) hin. Gesund werden soll eine Gesellschaft, in der es so vielen aufgrund des Profitinteresses und der Herrschsucht weniger, verwehrt ist, ein Leben in Gesundheit, Absicherung und Selbstbestimmung zu führen. Und in der Menschen kontinuierlich alles nichtmenschliche Leben dieser einzigartigen Welt nach wie vor fast bedenkenlos vernichten.
Um das zu kurieren, gibt es verschiedene Wege. Zunächst brauchen wir ein allgemeines Sabbatjahr, verbunden mit einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Denn es ist genug für alle da. Dann gilt es, genau in uns hinein zu fühlen, wo es uns drückt und weh tut. Schließlich aber können wir schauen, was die eigentlichen Ursachen für unser Unwohlsein und unser Unbehagen sind. Um diese zu beheben, brauchen wir keinen Pseudo-Arzt Staat. Mit gegenseitiger Hilfe können wir das selbst bewerkstelligen: Mit unserem Wissen, unseren Erfahrungen, mit unserer Empathie und unserem Humor, mit unseren Hausmitteln können wir uns unterstützen und pflegen. Ganz ohne Schmerzen und Kampf gegen die Ursachen werden unsere besten Selbstheilungskräfte uns jedoch nicht genesen lassen.
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Nachträgliche Anmerkungen, um Missverständnissen vorzubeugen:
– Ich habe selbst eine kranke Oma und in diesem Text geht es nicht um die Verharmlosung von Infektionskrankheiten. Deswegen habe ich ihn mit gewaschenen Händen geschrieben.
– Gegen eine kollektive Bearbeitung der gesellschaftlichen Herausforderung wird hier nichts eingewendet. Sie ist aber auch nicht Hauptthema dieses Textes.
– In diesem Text wird kein Gedanke von „natürlicher Auslese“ vertreten, sondern dieser ganz im Gegenteil zurückgewiesen, um eine menschenmögliche Gesundheit für alle, unabhängig ihres Klassenstatus oder Alters, zu fordern. Dies beißt sich mit dem Kapitalismus, in dem Gesundheit zur Ware und vielen verwehrt wird.
– Die Personifizierung der Seuche ist ein rhetorisches Mittel in einer einzelnen Passage, um die persönliche (aber in vielerlei Hinsicht irrationale) Betroffenheit, welche vermutliche viele Menschen in Hinblick auf die Krankheitsgefahr empfinden, herauszuarbeiten und sie ins Absurde zu steigern – um sie zu hinterfragen
– Der weiblich klingende Name gegen Ende des Textes ergab sich einfach aus dem Klang des Wortes, mehr nicht.
– Die Absicht des Textes besteht darin eine Reflexion darüber anzustoßen, wie stark Viele der allgemeinen Panikmache verfallen. Dies sollte uns zu denken geben, denn es handelt sich um eine Vorbedingung für die Errichtung einer Diktatur
– Die Massenisolation ist das postmoderne Pendant zur Generalmobilmachung. Dies schließt nicht aus, dass nach der panischen Ruhe ein besinnungsloser Sturm folgen kann.
– Diese Tendenz zu thematisieren bedeutet deswegen nicht zu behaupten, dass wir unmittelbar vor einer totalitären Herrschaft stehen, noch, Krankheiten zu relativieren oder irgendwelche Verschwörungen anzunehmen.
– Selbstverständlich ist der Text als Provokation gemeint, weil er sonst seine Wirkung nicht erreichen würde. Er ist aber auch von dem Bestreben motiviert, die derzeitige Gesellschaftsform emanzipatorisch zu überwinden, was einschließt, dass viele vertraute Dinge sehr anders werden würden.
– Angeregt werden die Gedanken, warum viele Menschen nach Kontrolle streben, sich an den Wahnsinn des Gedankens einer totalen Kontrollierbarkeit heften. Was würde es hingehen bedeuten, die Kontrolle aufzugeben und unregierbar zu werden? – Die Konsequenzen daraus teilen nicht viele, ebenso wenig wie das Anliegen.
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