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Freude und Jauchzen

Freude und Jauchzen

Ein literarischer Kommentar zu Kierkegaards Furcht und Zittern1)Diese Geschichte entstand als literarischer Anhang zu meinem Vortrag Kierkegaard – Für eine Ethik des kritischen Individualismus I, den man sich auf Youtube ansehen kann (Link). Ich habe dort den Ausschnitt, in dem ich diese Geschichte vorlese, auch nochmal als separates Video hochgeladen (Link).

Die (verhinderte) Opferung Isaaks in der Darstellung Rembrandts.

Da saßen sie endlich einmal wieder alle vier beisammen und schmausten ihre liebsten Speisen. Die Mutter ließ sich genüsslich einen Apfel schmecken, ihre beiden Söhne tranken Wein – rot schimmerte das Glas des älteren, weiß dasjenige des Nachzüglers, dazu aßen sie eine Scheibe helles Brot; der Onkel hatte sich ein frisches Glas Bier gezapft und der Vater sich einen Teller feinstes Mana zurecht gelegt.

Der ewige Konflikt zwischen den beiden Söhnen des Herrn war einmal wieder in einen Streit ausgeartet. „Sende mich doch endlich einmal auf die Erde, Vater“, meinte Jesus erbost. „Warum darf immer nur Luzi den Spaß haben? Ich werde Wunder wirken und die Menschen in Scharen zu Dir führen. Die ganze Welt soll sich vor Dir verbeugen und Deinen Namen preisen, nicht nur diese elenden Kameltreiber.“ „Sprich nicht so über mein Volk“, sagte der Vater sanft. „Ich habe meinen besonderen Plan mit ihm. Die Zeit ist noch nicht reif. Dein älterer Bruder soll die Menschen erst einmal vorbereiten.“ „Vorbereiten, vorbereiten!“, Jesus geriet außer sich. „Seit der Aktion mit der Schlange machen die doch ohnehin was sie wollen. Ja, es war richtig, den Menschen die Freiheit zu geben. Doch was machen sie damit? Türme bauen, Reiche errichten, sich wechselseitig abschlachten … Selbst die Sintflut hat sie nicht zur Besinnung gebracht. Und wenn ich mir diese Ziegenhirten ansehe, wird mir ohnehin ganz schlecht. Wenn ich zu denen gehe, blüht mir Übles, das spüre ich.“ „Komm mal runter“, entgegnete Luzifer gelassen, ehe er sich einen guten Schluck vom Rotwein gegönnt hatte. „Predigst Du nicht Sanftmut und Feindesliebe? Ich glaube nicht, dass die Menschen noch irgendeiner Aufsicht unsererseits bedürfen. Sie sind jetzt frei. Lass sie sich doch gegenseitig abschlachten, vergewaltigen, niedermetzeln. Sollen sie das Böse nur in vollen Zügen auskosten. Die Besinnung wird von selbst kommen. Wir haben uns schon genug eingemischt und damit in der Regel alles noch viel schlimmer gemacht.“ Gott, Amordei und der Heilige Geist warfen sich entnervte Blicke zu. Spätestens seit der Geschichte mit Kain und Abel war das Tischtuch zwischen Jesus und Luzifer zerschnitten. Abel war Jesu Liebling gewesen, sein erster wahrer Anhänger – Luzifer hatte den Mord Kains zwar nicht befördert, aber auch nicht verhindert, das hatte ihm Jesus noch nicht verziehen.

„Na gut, ich schlage eine Wette vor“, meinte der listige Ältere. „Ich halte auch nicht viel von diesem Kameltreiber, diesem … Wie hieß er noch mal … Ubraho.“ „Abraham“, verbesserte Gott. „Wie dem auch sei. Ich halte keine großen Stücke auf ihn, aber er ist ein aufrichtiger Mann und hat sich nicht einmal von meinen Freunden in Sodom betören lassen. Ich denke, wir sollten ihn in Versuchung führen.“ „Eine ganz neue Idee, das hat bisher ja wunderbar funktioniert. Wie genau?“ „Gib mir deine Gestalt, Vater. Ich will ihm in deiner Gestalt im Traum erscheinen und ihm befehlen, seinen einzigen legitimen Sohn zu opfern. Den, auf den er so viele Jahre und Jahrzehnte lange gewartet hat. Natürlich werden wir ihn, sollte er das Opfer wirklich vollziehen wollen, im letzten Moment daran hindern angesichts der Pläne, die wir mit seinen Nachkommen haben. Aber ich wette, er wird es nicht vollziehen. Er ist selbständig genug und wird auf diesen brutalen und absurden Befehl nicht hören. Ich spüre es: Er ist trotz all seiner Beschränktheit ein freier Mensch, ein Mensch nach meinem Geschmack, der seinen eigenen Sinn für gut und böse hat. Er ist nicht einer von den Schleimern und Kriechern, die du präferierst, mein Kleiner.“ „Hör auf, mich so zu nennen, Hinkefuß! Nun gut – was ist der Einsatz? Abraham ist ein guter Gläubiger, er wird dem Befehl bestimmt folgen und ein Vorbild für alle Frommen sein.“ „Wenn du gewinnst, dann werde ich dir helfen, auf die Erde hinabzusteigen und dort dein Ding zu machen. Ich werde ein großes Reich errichten, gegen das sich deine Anhänger dann vortrefflich werden auflehnen können. Ich werde dieses Reich in den Untergang stürzen, damit deine Anhänger dann ein neues Reich begründen können – und dann werden wir ja sehen, wie die Sache weitergeht. Aber wenn ich gewinne, und das werde ich, dann wirst du dich bitteschön zurückhalten und wir werden den Menschen endlich die volle Freiheit geben. Keine Visionen mehr, kein auserwähltes Volk, keine Traumgesichte.“ Jesus lächelte innerlich. Wie konnte sein so kluger Bruder eine so schlechte Wette abschließen? Ein tausendjähriges Friedensreich, geeint unter dem Banner seiner treuen Jünger – das war mehr, als er sich in seinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Er würde hinabsteigen und Wunder bewirken, er würde ihnen die gesamte Weisheit Gottes lehren, er würde die Fähigsten unter ihnen zu seinen Nachfolgern bestellen, er würde sich sogar opfern für sie und die größten Schmerzen ertragen. Friede und Liebe würden in ihre Herzen einkehren und aller Bosheit ein Ende bereiten.

„Bist du damit einverstanden, Vater?“ Gott strich sich bedächtig durch seinen langen weißen Bart und blickte fragend zu Amordei, die den Apfel gerade restlos vertilgt hatte, und dem Heiligen Geist. Ihre Gesichter waren ebenso ratlos wie das Seine. Seine Gattin zögerte und blickte von dem einen ihrer Söhne zum anderen. Auch wenn sie den Streit der beiden nicht verstand, liebte sie doch beide gleichermaßen und ihre Augen waren ganz erfüllt von der reinen Zuneigung einer Mutter. Sie hatten beide Teil am göttlichen Plan und die Einseitigkeit ihrer Standpunkte war notwendig. Sie nahm einen zweiten Apfel, biss kräftig hinein, kaute, schluckte und nickte ihrem Gatten schließlich milde lächelnd zu. „Lass die Jungs mal nur machen“, schien sie ihm sagen zu wollen. „Gut“, verkündete er. „Es soll so geschehen.“ „Topp, die Wette gilt.“ Luzifer sprang hastig auf, die beiden Brüder schlugen ein und er humpelte freudig davon, ein Lied auf den Lippen, sein Schwänzchen sprang lustig auf und ab.

„Das wird famos“, dachte er sich. „Abraham müsste ein wahres Ungeheuer sein, wenn er seinen eigenen Sohn abschlachten würde. Er wird es nie und nimmer tun und dann ist es endlich Schluss mit der elenden Bevormundung und Tyrannei.“

Nachdem er Abraham im Traum den Befehl überbracht hatte, reagierte dieser auch tatsächlich wie erhofft. Er schreckte auf und war plötzlich hellwach. Seine Frau Sarah schlief neben ihm und atmete ruhig und gleichmäßig, in einem separaten Bett schlummerte sein kleiner Sohn und lächelte im Schlaf. Der Mond schien auf sein junges, faltenloses Gesicht und Abraham dachte an all die Jahre des Wartens und des Hoffens, an die schwierige und schmerzhafte Geburt, an den Moment, als die Amme ihm den Kleinen gereicht und er ihn zum ersten Mal mit seinem Namen begrüßt hatte: „Isaak“ – und als hätte er es verstanden, hatte er zum ersten Mal gelacht.

Gott hatte ihm versprochen, dass seine Nachkommen so zahlreich sein sollen wie die Sterne am Himmel, er hatte ihm den Ehrentitel „Vater der Völker“ verliehen. Und nun das? War er einem Betrüger aufgesessen? Einem hartherzigen Götzen, so wie sie die Menschen in seiner Heimat verehrt hatten? Nein, er würde den grausamen Befehl niemals ausführen, da war er sich sicher. „Das verspreche ich Dir, mein Sohn“, sagte er flüsternd und strich dem Jungen vorsichtig durchs Haar.

Dies war seine erste Reaktion, doch schon am nächsten Tag, während er die Ziegen hütete, fingen an, ihn Zweifel zu nagen. Was, wenn dies eine Prüfung war? Vielleicht wollte dieser Gott Isaak gar nicht wirklich umbringen lassen, sondern ihn nur auf die Probe stellen? Und gerade, wenn es ein böser Gott war, sollte man ihn sicherlich nicht unnötig provozieren. Wenn er Isaak nicht selbst tötete, würde es dieser hassenswerte Dämon sicher im Schlaf tun.

Vor allem diese Angst war es, die Abraham schließlich doch dazu bewegte, wie befohlen in das Land Morija zu ziehen und Isaak dort zu opfern. Er erzählte niemandem von seinen Absichten, nicht einmal Sarah. Wer hätte ihn verstehen können? Selbst Gott blieb stumm und seine Gebete blieben unerhört, seine Opfergaben vergebens. So zog er mit Isaak und seinen treusten Dienern los. Die Sonne brannte auf sie herab und er hatte sich vorgenommen, noch so viel Zeit mit seinem Sohn zu verbringen wie möglich. Er erzählte ihm von seinen Reisen, von der großen und mächtigen Metropole Ur, vom Untergang der stolzen Städte Sodom und Gomorrha, von seiner Begegnung mit dem mächtigsten aller Könige, dem großen Pharao, dem er mit der Hilfe Gottes getrotzt hatte. Oft kämpfte er mit den Tränen, wenn die Rede auf Gott und sein wunderbares Versprechen kam. Er war sich beinahe sicher: Dieser Gott war ein Betrüger. Er hatte die Menschen von Sodom und Gomorrha grundlos hinweggerafft und er würde nun auch ihn mit derselben Grausamkeit heimsuchen. Er unterwarf sich ihm aus reiner Angst und würde ihn fortan nur noch äußerlich verehren, innerlich jedoch hassen, egal, was geschehen sollte. An einen solchen Gott konnte er nicht glauben.

Es ereignete sich nun alles so, wie wir es aus den Erzählungen der Alten kennen. Abraham hatte Isaak das Messer schon an die Kehle gesetzt, da hatte der Engel Gottes ihn aufgehalten und ihn einen Widder opfern lassen. Vater und Sohn fielen sich erleichtert um den Hals, doch echte Freude wollte nicht einkehren. Auf ihrer Rückkehr zu Sarah offenbarte Abraham die wahren Hintergründe ihrer Reise und Isaak und er waren sich einig: Dieser Gott war ein Tyrann, dem man nur zum Schein, aber nicht innerlich folgen sollte. Man sollte opfern und alle Gebote halten, doch in Wahrheit sollte man ihm fluchen. Er war kein gütiger, liebender Gott, er war ein Monster. Wenn er lachte, dann war es nur Hohn und Spott. Vielleicht wäre es besser gewesen, in Ur zu bleiben, wo die Götter wenigstens keine Heuchler waren. Hier hatten sie sich nun dem Schlimmsten von allen ausgeliefert, dem Gott, der behauptete, anders als alle anderen zu sein und in Wahrheit der allergemeinste.

Glaube, Liebe und Hoffnung hatte Abraham verloren und er starb als geknickter alter Greis. Die Flamme in seinen Augen war verloschen und das Leben bereitete ihm keine Freude mehr. Er hätte seinen eigenen Sohn getötet, er hatte sich sein ganzes Leben lang von einem Dämon der Finsternis verführen lassen. Sollten seine Nachfahren auch so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer – es würde ein Volk von Sklaven sein, unterjocht von einem Diktator, unfähig zur Freiheit. Das Lachen hatte Isaak ab diesem Tag verlernt und er war mit einem Mal von einem fröhlichen Kind zu einem ernsten Mann geworden.

Die Jahrzehnte und Jahrhunderte vergingen und diese düstere Wahrheit der Geschichte war vergessen worden, nur die allereingeweihtesten Priester erzählten sie sich noch mündlich unter dem Mantel größter Verschwiegenheit. Die Geschichte um Isaak war den Nachfahren Abrahams ein Rätsel geblieben, doch sie fanden sich damit ab, dass Abraham ihnen als Vorbild dienen sollte, schließlich stand es ja so in den heiligen Texten geschrieben. Die Unterwerfung unter diese Texte, das war ihnen das Wichtigste ihres Glaubens, denn so hatten sie es ja von ihren Vorfahren gelernt und diese wiederum von ihren Vorfahren und diese zuletzt vom guten Abraham. Opfere deinen Verstand und deinen eigenen Sinn für Gut und Böse und lass Gott und die Priester für dich denken.

Natürlich waren nicht alle aus diesem Volk so. Im Gegenteil brachte es größere Weise und Gelehrte hervor, Männer der Wissenschaft, der Vernunft und des Zweifels, als die meisten anderen. Doch es blieb bei einigen die bestimmende Einstellung. Und auch die Verehrer Jesu und die Nachfahren von Abrahams erstem Sohn, die sich viel später Gott zuwenden sollten, waren nicht besser; geradezu das Gegenteil war der Fall. Jesus hatte gesiegt, Luzifer vorerst verloren.

Während Jesus triumphierte, ärgerte sich Luzifer maßlos. Selbst seine Mutter konnte ihn nicht besänftigen und erst recht nicht die Beschwichtigungen seines Vaters. Dass Kain und seine Nachfahren bestraft worden waren, war schon ein erster Schlag gewesen, dass man dann die stolzen Turmbauer von Babylon boykottiert, die Sintflut geschickt und Sodom und Gomorrha von der Landkarte gestrichen hatte, hatte er nur zähneknirschend ertragen. Wie sollten die Menschen jemals aus freien Stücken zum Guten finden, wenn man sie wie kleine Kinder behandelte? Luzifer hielt Jesu Weg für einen völligen Irrtum und machte seinen Eltern bittere Vorwürfe, dass sie ihn nicht aufhielten. Er wandte sich von ihnen ab und verwandelte sich nach und nach in einen Feind Jesu. Als die einzige Möglichkeit, die Sache der Freiheit noch zu retten, erblickte er die systematische Sabotage seines Werks. Er begnügte sich nun nicht mehr damit, den Menschen freie Hand zu lassen, er verführte sie aktiv zum Bösen, nur um Jesus zu beweisen, dass er im Unrecht war und sein Plan, die Menschen durch Gehorsam zur Liebe zu zwingen, nicht funktionierte. Millionen und Milliarden starben sinnlos und die Nachkommen Isaaks waren Luzifer ein besonderer Dorn im Auge und wurden brutaler als alle gequält.

Jesu Triumph währte allerdings nicht lange. Er erkannte bald, dass auch er sich getäuscht hatte. Die Menschen dienten ihm nur oberflächlich, in ihrem Herzen misstrauten sie ihm. Überall regte sich Rebellion und Empörung, auch ohne das Zutun seines Bruders. Seine Anhänger zerstritten sich über die richtige Auslegung seiner Lehren und töteten sich gegenseitig in Massen. Er fragte sich manchmal, ob diese Wette um Abraham nicht eine List seines Bruders gewesen war. Er hatte sie ja nur gewinnen können: Hätte Abraham Isaak nicht getötet sowieso, doch gerade diese Geschichte war es, die viele vom Glauben abstieß und der Rebellion zuführte. Sie hatte in Wahrheit keine vertiefte Verbindung zwischen den Menschen und Gott bewirkt, sondern zu einer noch krasseren Entfremdung geführt. Auch in Jesus regte sich mehr und mehr der Zorn über die undankbaren und unverständigen Menschen und er ließ es mehr und mehr dabei bewenden, die schlimmsten Auswüchse der Schandtaten seines Bruders zu verhindern.

So blieben die Menschen jahrtausendelang ein Spielball des Kampfes der beiden ungleichen Brüder und dieser Geisterkrieg währt noch heute. Zu Freude und Jauchzen war wenig Grund, vielmehr zu Furcht und Zittern – vor einem strafenden Gott hier, vor den grausamen Werken Luzifers dort. Ob dieser Kampf je entschieden, ob diese verhängnisvolle Wette jemals ungeschehen gemacht werden kann? Und wäre die Geschichte anders und besser verlaufen, wenn Abraham bei seiner Weigerung geblieben oder die Wette gar nicht erst abgeschlossen worden wäre? Amordei allein weiß es, doch hüllt sich in lächelndes Schweigen. Gott versank in marternden Selbstzweifeln und beschloss, sich nie wieder in das Gezänk seiner Söhne einzumischen; der Heilige Geist offenbart einigen wenigen die Wahrheit und öffnet ihnen die Augen.

Freude und Jauchzen

Ein literarischer Kommentar zu Kierkegaards Furcht und Zittern

Da saßen sie endlich einmal wieder alle vier beisammen und schmausten ihre liebsten Speisen. Die Mutter ließ sich genüsslich einen Apfel schmecken, ihre beiden Söhne tranken Wein – rot schimmerte das Glas des älteren, weiß dasjenige des Nachzüglers, dazu aßen sie eine Scheibe helles Brot; der Onkel hatte sich ein frisches Glas Bier gezapft und der Vater sich einen Teller feinstes Mana zurecht gelegt.

Der ewige Konflikt zwischen den beiden Söhnen des Herrn war einmal wieder in einen Streit ausgeartet. „Sende mich doch endlich einmal auf die Erde, Vater“, meinte Jesus erbost. „Warum darf immer nur Luzi den Spaß haben? Ich werde Wunder wirken und die Menschen in Scharen zu Dir führen. Die ganze Welt soll sich vor Dir verbeugen und Deinen Namen preisen, nicht nur diese elenden Kameltreiber.“ „Sprich nicht so über mein Volk“, sagte der Vater sanft. „Ich habe meinen besonderen Plan mit ihm. Die Zeit ist noch nicht reif. Dein älterer Bruder soll die Menschen erst einmal vorbereiten.“ „Vorbereiten, vorbereiten!“, Jesus geriet außer sich. „Seit der Aktion mit der Schlange machen die doch ohnehin was sie wollen. Ja, es war richtig, den Menschen die Freiheit zu geben. Doch was machen sie damit? Türme bauen, Reiche errichten, sich wechselseitig abschlachten … Selbst die Sintflut hat sie nicht zur Besinnung gebracht. Und wenn ich mir diese Ziegenhirten ansehe, wird mir ohnehin ganz schlecht. Wenn ich zu denen gehe, blüht mir Übles, das spüre ich.“ „Komm mal runter“, entgegnete Luzifer gelassen, ehe er sich einen guten Schluck vom Rotwein gegönnt hatte. „Predigst Du nicht Sanftmut und Feindesliebe? Ich glaube nicht, dass die Menschen noch irgendeiner Aufsicht unsererseits bedürfen. Sie sind jetzt frei. Lass sie sich doch gegenseitig abschlachten, vergewaltigen, niedermetzeln. Sollen sie das Böse nur in vollen Zügen auskosten. Die Besinnung wird von selbst kommen. Wir haben uns schon genug eingemischt und damit in der Regel alles noch viel schlimmer gemacht.“ Gott, Amordei und der Heilige Geist warfen sich entnervte Blicke zu. Spätestens seit der Geschichte mit Kain und Abel war das Tischtuch zwischen Jesus und Luzifer zerschnitten. Abel war Jesu Liebling gewesen, sein erster wahrer Anhänger – Luzifer hatte den Mord Kains zwar nicht befördert, aber auch nicht verhindert, das hatte ihm Jesus noch nicht verziehen.

„Na gut, ich schlage eine Wette vor“, meinte der listige Ältere. „Ich halte auch nicht viel von diesem Kameltreiber, diesem … Wie hieß er noch mal … Ubraho.“ „Abraham“, verbesserte Gott. „Wie dem auch sei. Ich halte keine großen Stücke auf ihn, aber er ist ein aufrichtiger Mann und hat sich nicht einmal von meinen Freunden in Sodom betören lassen. Ich denke, wir sollten ihn in Versuchung führen.“ „Eine ganz neue Idee, das hat bisher ja wunderbar funktioniert. Wie genau?“ „Gib mir deine Gestalt, Vater. Ich will ihm in deiner Gestalt im Traum erscheinen und ihm befehlen, seinen einzigen legitimen Sohn zu opfern. Den, auf den er so viele Jahre und Jahrzehnte lange gewartet hat. Natürlich werden wir ihn, sollte er das Opfer wirklich vollziehen wollen, im letzten Moment daran hindern angesichts der Pläne, die wir mit seinen Nachkommen haben. Aber ich wette, er wird es nicht vollziehen. Er ist selbständig genug und wird auf diesen brutalen und absurden Befehl nicht hören. Ich spüre es: Er ist trotz all seiner Beschränktheit ein freier Mensch, ein Mensch nach meinem Geschmack, der seinen eigenen Sinn für gut und böse hat. Er ist nicht einer von den Schleimern und Kriechern, die du präferierst, mein Kleiner.“ „Hör auf, mich so zu nennen, Hinkefuß! Nun gut – was ist der Einsatz? Abraham ist ein guter Gläubiger, er wird dem Befehl bestimmt folgen und ein Vorbild für alle Frommen sein.“ „Wenn du gewinnst, dann werde ich dir helfen, auf die Erde hinabzusteigen und dort dein Ding zu machen. Ich werde ein großes Reich errichten, gegen das sich deine Anhänger dann vortrefflich werden auflehnen können. Ich werde dieses Reich in den Untergang stürzen, damit deine Anhänger dann ein neues Reich begründen können – und dann werden wir ja sehen, wie die Sache weitergeht. Aber wenn ich gewinne, und das werde ich, dann wirst du dich bitteschön zurückhalten und wir werden den Menschen endlich die volle Freiheit geben. Keine Visionen mehr, kein auserwähltes Volk, keine Traumgesichte.“ Jesus lächelte innerlich. Wie konnte sein so kluger Bruder eine so schlechte Wette abschließen? Ein tausendjähriges Friedensreich, geeint unter dem Banner seiner treuen Jünger – das war mehr, als er sich in seinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Er würde hinabsteigen und Wunder bewirken, er würde ihnen die gesamte Weisheit Gottes lehren, er würde die Fähigsten unter ihnen zu seinen Nachfolgern bestellen, er würde sich sogar opfern für sie und die größten Schmerzen ertragen. Friede und Liebe würden in ihre Herzen einkehren und aller Bosheit ein Ende bereiten.

„Bist du damit einverstanden, Vater?“ Gott strich sich bedächtig durch seinen langen weißen Bart und blickte fragend zu Amordei, die den Apfel gerade restlos vertilgt hatte, und dem Heiligen Geist. Ihre Gesichter waren ebenso ratlos wie das Seine. Seine Gattin zögerte und blickte von dem einen ihrer Söhne zum anderen. Auch wenn sie den Streit der beiden nicht verstand, liebte sie doch beide gleichermaßen und ihre Augen waren ganz erfüllt von der reinen Zuneigung einer Mutter. Sie hatten beide Teil am göttlichen Plan und die Einseitigkeit ihrer Standpunkte war notwendig. Sie nahm einen zweiten Apfel, biss kräftig hinein, kaute, schluckte und nickte ihrem Gatten schließlich milde lächelnd zu. „Lass die Jungs mal nur machen“, schien sie ihm sagen zu wollen. „Gut“, verkündete er. „Es soll so geschehen.“ „Topp, die Wette gilt.“ Luzifer sprang hastig auf, die beiden Brüder schlugen ein und er humpelte freudig davon, ein Lied auf den Lippen, sein Schwänzchen sprang lustig auf und ab.

„Das wird famos“, dachte er sich. „Abraham müsste ein wahres Ungeheuer sein, wenn er seinen eigenen Sohn abschlachten würde. Er wird es nie und nimmer tun und dann ist es endlich Schluss mit der elenden Bevormundung und Tyrannei.“

Nachdem er Abraham im Traum den Befehl überbracht hatte, reagierte dieser auch tatsächlich wie erhofft. Er schreckte auf und war plötzlich hellwach. Seine Frau Sarah schlief neben ihm und atmete ruhig und gleichmäßig, in einem separaten Bett schlummerte sein kleiner Sohn und lächelte im Schlaf. Der Mond schien auf sein junges, faltenloses Gesicht und Abraham dachte an all die Jahre des Wartens und des Hoffens, an die schwierige und schmerzhafte Geburt, an den Moment, als die Amme ihm den Kleinen gereicht und er ihn zum ersten Mal mit seinem Namen begrüßt hatte: „Isaak“ – und als hätte er es verstanden, hatte er zum ersten Mal gelacht.

Gott hatte ihm versprochen, dass seine Nachkommen so zahlreich sein sollen wie die Sterne am Himmel, er hatte ihm den Ehrentitel „Vater der Völker“ verliehen. Und nun das? War er einem Betrüger aufgesessen? Einem hartherzigen Götzen, so wie sie die Menschen in seiner Heimat verehrt hatten? Nein, er würde den grausamen Befehl niemals ausführen, da war er sich sicher. „Das verspreche ich Dir, mein Sohn“, sagte er flüsternd und strich dem Jungen vorsichtig durchs Haar.

Dies war seine erste Reaktion, doch schon am nächsten Tag, während er die Ziegen hütete, fingen an, ihn Zweifel zu nagen. Was, wenn dies eine Prüfung war? Vielleicht wollte dieser Gott Isaak gar nicht wirklich umbringen lassen, sondern ihn nur auf die Probe stellen? Und gerade, wenn es ein böser Gott war, sollte man ihn sicherlich nicht unnötig provozieren. Wenn er Isaak nicht selbst tötete, würde es dieser hassenswerte Dämon sicher im Schlaf tun.

Vor allem diese Angst war es, die Abraham schließlich doch dazu bewegte, wie befohlen in das Land Morija zu ziehen und Isaak dort zu opfern. Er erzählte niemandem von seinen Absichten, nicht einmal Sarah. Wer hätte ihn verstehen können? Selbst Gott blieb stumm und seine Gebete blieben unerhört, seine Opfergaben vergebens. So zog er mit Isaak und seinen treusten Dienern los. Die Sonne brannte auf sie herab und er hatte sich vorgenommen, noch so viel Zeit mit seinem Sohn zu verbringen wie möglich. Er erzählte ihm von seinen Reisen, von der großen und mächtigen Metropole Ur, vom Untergang der stolzen Städte Sodom und Gomorrha, von seiner Begegnung mit dem mächtigsten aller Könige, dem großen Pharao, dem er mit der Hilfe Gottes getrotzt hatte. Oft kämpfte er mit den Tränen, wenn die Rede auf Gott und sein wunderbares Versprechen kam. Er war sich beinahe sicher: Dieser Gott war ein Betrüger. Er hatte die Menschen von Sodom und Gomorrha grundlos hinweggerafft und er würde nun auch ihn mit derselben Grausamkeit heimsuchen. Er unterwarf sich ihm aus reiner Angst und würde ihn fortan nur noch äußerlich verehren, innerlich jedoch hassen, egal, was geschehen sollte. An einen solchen Gott konnte er nicht glauben.

Es ereignete sich nun alles so, wie wir es aus den Erzählungen der Alten kennen. Abraham hatte Isaak das Messer schon an die Kehle gesetzt, da hatte der Engel Gottes ihn aufgehalten und ihn einen Widder opfern lassen. Vater und Sohn fielen sich erleichtert um den Hals, doch echte Freude wollte nicht einkehren. Auf ihrer Rückkehr zu Sarah offenbarte Abraham die wahren Hintergründe ihrer Reise und Isaak und er waren sich einig: Dieser Gott war ein Tyrann, dem man nur zum Schein, aber nicht innerlich folgen sollte. Man sollte opfern und alle Gebote halten, doch in Wahrheit sollte man ihm fluchen. Er war kein gütiger, liebender Gott, er war ein Monster. Wenn er lachte, dann war es nur Hohn und Spott. Vielleicht wäre es besser gewesen, in Ur zu bleiben, wo die Götter wenigstens keine Heuchler waren. Hier hatten sie sich nun dem Schlimmsten von allen ausgeliefert, dem Gott, der behauptete, anders als alle anderen zu sein und in Wahrheit der allergemeinste.

Glaube, Liebe und Hoffnung hatte Abraham verloren und er starb als geknickter alter Greis. Die Flamme in seinen Augen war verloschen und das Leben bereitete ihm keine Freude mehr. Er hätte seinen eigenen Sohn getötet, er hatte sich sein ganzes Leben lang von einem Dämon der Finsternis verführen lassen. Sollten seine Nachfahren auch so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer – es würde ein Volk von Sklaven sein, unterjocht von einem Diktator, unfähig zur Freiheit. Das Lachen hatte Isaak ab diesem Tag verlernt und er war mit einem Mal von einem fröhlichen Kind zu einem ernsten Mann geworden.

Die Jahrzehnte und Jahrhunderte vergingen und diese düstere Wahrheit der Geschichte war vergessen worden, nur die allereingeweihtesten Priester erzählten sie sich noch mündlich unter dem Mantel größter Verschwiegenheit. Die Geschichte um Isaak war den Nachfahren Abrahams ein Rätsel geblieben, doch sie fanden sich damit ab, dass Abraham ihnen als Vorbild dienen sollte, schließlich stand es ja so in den heiligen Texten geschrieben. Die Unterwerfung unter diese Texte, das war ihnen das Wichtigste ihres Glaubens, denn so hatten sie es ja von ihren Vorfahren gelernt und diese wiederum von ihren Vorfahren und diese zuletzt vom guten Abraham. Opfere deinen Verstand und deinen eigenen Sinn für Gut und Böse und lass Gott und die Priester für dich denken.

Natürlich waren nicht alle aus diesem Volk so. Im Gegenteil brachte es größere Weise und Gelehrte hervor, Männer der Wissenschaft, der Vernunft und des Zweifels, als die meisten anderen. Doch es blieb bei einigen die bestimmende Einstellung. Und auch die Verehrer Jesu und die Nachfahren von Abrahams erstem Sohn, die sich viel später Gott zuwenden sollten, waren nicht besser; geradezu das Gegenteil war der Fall. Jesus hatte gesiegt, Luzifer vorerst verloren.

Während Jesus triumphierte, ärgerte sich Luzifer maßlos. Selbst seine Mutter konnte ihn nicht besänftigen und erst recht nicht die Beschwichtigungen seines Vaters. Dass Kain und seine Nachfahren bestraft worden waren, war schon ein erster Schlag gewesen, dass man dann die stolzen Turmbauer von Babylon boykottiert, die Sintflut geschickt und Sodom und Gomorrha von der Landkarte gestrichen hatte, hatte er nur zähneknirschend ertragen. Wie sollten die Menschen jemals aus freien Stücken zum Guten finden, wenn man sie wie kleine Kinder behandelte? Luzifer hielt Jesu Weg für einen völligen Irrtum und machte seinen Eltern bittere Vorwürfe, dass sie ihn nicht aufhielten. Er wandte sich von ihnen ab und verwandelte sich nach und nach in einen Feind Jesu. Als die einzige Möglichkeit, die Sache der Freiheit noch zu retten, erblickte er die systematische Sabotage seines Werks. Er begnügte sich nun nicht mehr damit, den Menschen freie Hand zu lassen, er verführte sie aktiv zum Bösen, nur um Jesus zu beweisen, dass er im Unrecht war und sein Plan, die Menschen durch Gehorsam zur Liebe zu zwingen, nicht funktionierte. Millionen und Milliarden starben sinnlos und die Nachkommen Isaaks waren Luzifer ein besonderer Dorn im Auge und wurden brutaler als alle gequält.

Jesu Triumph währte allerdings nicht lange. Er erkannte bald, dass auch er sich getäuscht hatte. Die Menschen dienten ihm nur oberflächlich, in ihrem Herzen misstrauten sie ihm. Überall regte sich Rebellion und Empörung, auch ohne das Zutun seines Bruders. Seine Anhänger zerstritten sich über die richtige Auslegung seiner Lehren und töteten sich gegenseitig in Massen. Er fragte sich manchmal, ob diese Wette um Abraham nicht eine List seines Bruders gewesen war. Er hatte sie ja nur gewinnen können: Hätte Abraham Isaak nicht getötet sowieso, doch gerade diese Geschichte war es, die viele vom Glauben abstieß und der Rebellion zuführte. Sie hatte in Wahrheit keine vertiefte Verbindung zwischen den Menschen und Gott bewirkt, sondern zu einer noch krasseren Entfremdung geführt. Auch in Jesus regte sich mehr und mehr der Zorn über die undankbaren und unverständigen Menschen und er ließ es mehr und mehr dabei bewenden, die schlimmsten Auswüchse der Schandtaten seines Bruders zu verhindern.

So blieben die Menschen jahrtausendelang ein Spielball des Kampfes der beiden ungleichen Brüder und dieser Geisterkrieg währt noch heute. Zu Freude und Jauchzen war wenig Grund, vielmehr zu Furcht und Zittern – vor einem strafenden Gott hier, vor den grausamen Werken Luzifers dort. Ob dieser Kampf je entschieden, ob diese verhängnisvolle Wette jemals ungeschehen gemacht werden kann? Und wäre die Geschichte anders und besser verlaufen, wenn Abraham bei seiner Weigerung geblieben oder die Wette gar nicht erst abgeschlossen worden wäre? Amordei allein weiß es, doch hüllt sich in lächelndes Schweigen. Gott versank in marternden Selbstzweifeln und beschloss, sich nie wieder in das Gezänk seiner Söhne einzumischen; der Heilige Geist offenbart einigen wenigen die Wahrheit und öffnet ihnen die Augen.

Fußnoten

Fußnoten
1 Diese Geschichte entstand als literarischer Anhang zu meinem Vortrag Kierkegaard – Für eine Ethik des kritischen Individualismus I, den man sich auf Youtube ansehen kann (Link). Ich habe dort den Ausschnitt, in dem ich diese Geschichte vorlese, auch nochmal als separates Video hochgeladen (Link).

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