Es gibt Schlimmeres als Corona!
Politisch-philosophische Überlegungen
Wir sind gegenwärtig mit Entwicklungen konfrontiert, die das Denken nicht mehr nur überholen, sondern geradezu an ihm vorbeirasen. Das betrifft nicht nur den vereinzelten Theoretiker, sondern, so scheint es, die Gesellschaft als Ganze. Wir haben es mit einer kollektiven Überforderung in jeglicher Hinsicht zu tun und genau das macht die Lage so gefährlich: Dass jetzt vorschnelle Maßnahmen getroffen werden, die zu Konsequenzen führen könnten, die schlimmer sind als das, was sie zu bekämpfen suchen. Es wurde ein wissenschaftlich legitimierter Ausnahmezustand erzeugt – ähnlich den vielen anderen „alternativlosen“ Situationen in der Vergangenheit –, der diesmal besonders perfide ist, weil die Möglichkeit aktiven Protests und Einspruchs nahezu vollkommen ausgeschlossen ist. Die Möglichkeiten sich zu versammeln tendieren gegen Null, selbst Parlamente haben keine Möglichkeit des Einspruchs und ihre Arbeit wird behindert. Scheinbar – in Wahrheit existieren entsprechende Tendenzen ja schon seit längerem – aus dem Nichts heraus verwandelt sich unser Gemeinwesen in eine Expertokratie, regiert von Männern (Expertinnen melden sich ja in der Tat kaum zu Wort oder finden jedenfalls kein Gehör), die das Unvermeidliche diktieren. Wer die Expertokratie in Frage stellt, wird der Unmoral geziehen und der Verantwortungslosigkeit oder gar der „Verschwörungstheorie“.
Dabei ist klar: In unserer arbeitsteiligen Welt haben Ärzte keinen objektiven Blick auf die Dinge, sie betrachten sie eben aus der Perspektive ihrer Disziplin heraus. Politische, moralische, juristische etc. Erwägungen müssen sie gemäß dem herrschenden beschränkten Wissenschaftsverständnis gerade ausblenden, um „objektiv“ (in Wahrheit aber eben gerade nicht objektiv, sondern perspektivisch verengt) urteilen zu können.1)Das gilt – wie die alltägliche Erfahrung ja immer wieder zeigt – umso mehr für Ärzte, die mitunter eine extrem verengte Spezialisierung aufweisen und eben wirklich Fachidioten im schlechtesten Sinne sind. Aber natürlich gilt es für alle anderen Wissenschaftler genauso, Philosophen (insofern auch sie Wissenschaftler sind) nicht ausgenommen. Wenn man etwa in Betracht zieht, dass in Deutschland kulturelle Veranstaltungen wie die Buchmesse abgesagt wurden, während Fußballspiele noch tagelang stattfinden konnten und nun alles getan wird, um die großen Industriebetriebe am Laufen zu halten, während sonst das gesamte öffentliche Leben stillgelegt wird, dann sieht man klar: Hier ist keine Objektivität am Werk und auch keine wirkliche Solidarität, sondern hier ist Politik im Spiel und eine bewusste Prioritätssetzung zu Gunsten ganz bestimmter sozialer Interessen, nämlich von denen der Großkonzerne. Die Krise war von vorneherein nur interessant, weil sie eben in der „Werkbank der Welt“ ausbrach – wäre sie „nirgendwo in Afrika“ passiert, abseits der für relevant gehaltenen, weil zur Profitmaximierung beitragenden, Menschen- und Warenströme, dann hätte sich kaum jemand für sie interessiert und man hätte sie leicht eindämmen können, indem man die Grenzen zum globalen Süden einfach nochmal ein wenig stärker abschottet. Nun muss man die Menschenströme notgedrungen unterbrechen – die heiligen Warenströme, die gilt es jedoch mit aller Macht nicht versiegen zu lassen, so, als drohte sonst eine Hungersnot.
Auch eine von anderen, wirklich humanen, Interessen gesteuerte Gesellschaft müsste auf den Virus wahrscheinlich mit relativ drastischen Maßnahmen antworten, wenn sie nicht wollte, dass zahllose alte und vorerkrankte Menschen sterben und das Gesundheitssystem überlastet wird. Auch eine wirklich dem Allgemeinwohl verpflichtete Gesellschaft hätte wohl nicht so viele Intensivbetten auf Reserve zur Verfügung, um für einen Fall wie diesen hinreichend gewappnet zu sein. Aber man würde eben nicht so eindeutig die Interessen der Großkonzerne priorisieren und die Freiheitsrechte der Breite der Bevölkerung so leichtfertig einschränken wie im Augenblick. Eine solche bessere Gesellschaft würde zudem nicht derart überhitzt sein wie die jetzige, deren allgemeines Grundtempo sich von demjenigen des natürlichen Rhythmus’ nahezu völlig entkoppelt hat. Die enorme Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus ist kein natürliches Phänomen, sondern unseren Lebensbedingungen geschuldet, die aber auch vollkommen unabhängig von solchen Ereignissen unnatürlich und krankmachend sind. Der Pandemie ist in der Tat, ähnlich wie die drohende Klimakatastrophe, eine Folge unseres aktuellen Lebenswandels, unserer Gesellschaftsform, und darüber sollten wir jetzt eigentlich diskutieren, nicht darüber, mit welchen autoritären Maßnahmen wir die Welt, wie sie ist, am besten am Laufen halten und ihren (auf lange Sicht unvermeidlichen) Zusammenbruch am besten hinauszögern. Das hektische Agieren auf die Krise zeigt sinnbildlich das Wesen gegenwärtiger Politik: Die Apokalypse verhindern um jeden Preis – und dabei Maßnahmen beschließen, von denen schon jetzt klar ist, dass sie wieder neue Krisen und entsprechende neue Maßnahmen erheischen werden etc.
Die Frage cui bono muss jedenfalls erlaubt sein und darf nicht leichtfertig und in offensichtlich demagogischer Manier als „Verschwörungstheorie“ abgetan werden. Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie bewegte sich alles in Richtung Krise zu: China hatte mit es in Hongkong mit massiven Protesten zu tun, die Situation an der griechisch-türkischen Grenze eskalierte und der „Ausnahmezustand“ von 2015 (ebenso „alternativlos“ wie der jetzige2)Womit kein Werturteil hinsichtlich der damals getroffenen Entscheidungen verbunden sein soll!) drohte sich zu wiederholen – von den Protesten in zahlreichen anderen Staaten ganz zu schweigen. Und dass ein Wirtschaftscrash, wie wir ihn gegenwärtig erleben, früher oder später kommen würde, war ohnehin jedem Beobachter klar – verwunderlich war es eher, dass er nicht schon viel früher kam.
Der Crash erscheint nun nicht als systemimmanentes Scheitern, sondern als etwas, das von außen kommt, die Grenzen können, „wissenschaftlich legitimiert“ und moralisch erforderlich, nun endlich geschlossen werden, von den Unruhen in Honkong oder der Lage an der EU-Außengrenze spricht nun niemand mehr. Die Welt ist wie stillgestellt und niemand kann mir sagen, dass das im Augenblick nicht im eminenten Sinne der Mächtigen läge. Sicherlich gibt es keine systematische Verschwörung und damit soll nicht gesagt werden, dass die gegenwärtigen Maßnahmen ausschließlich einem bestimmten Machtkalkül entspringen, doch die Mächtigen haben ihre Chance eben gewittert und genutzt. Und wie war das nochmal mit dem Klimawandel und den Protesten für mehr Klimagerechtigkeit? Die Bevölkerung ist in Panik versetzt und bereit, auch die massivsten Eingriffe in ihre Rechte als „weise Vorsichtmaßnahme“ zu ertragen – eine Gewöhnung an den Ausnahmezustand setzt ein, die angesichts der sich zuspitzenden globalen sozialen Widersprüche nur erwünscht sein kann.
Es ist davon auszugehen, dass wenigstens manche der nun beschlossenen Maßnahmen einer gerichtlichen Prüfung auf ihre Verhältnismäßigkeit nicht standhalten werden – doch diese Prüfung wird eben erst in einigen Monaten erfolgen, wenn – hoffentlich (insofern der Normalzustand besser ist als jetzige Ausnahmezustand – ideal wäre natürlich eben keine Rückkehr zur gewohnten Normalität, sondern ein echter sozialer Paradigmenwechsel) – alles wieder normalisiert sein wird. Sinnvoll kann es jedenfalls schon hier und heute sein, Grenzen bewusst auszutesten und vorübergehende Sanktionen in Kauf zu nehmen, um dann entsprechende Gerichtsprozesse führen zu können, die dann zumindest im Nachhinein die Willkürmaßnahmen als solche demaskieren werden. Einschlägige Experten halten jedenfalls Maßnahmen wie eine allgemeine Ausgangssperre für dezidiert nicht verhältnismäßig und Politiker werden sich dafür rechtfertigen müssen, warum sie auf jenen und nicht diesen Experten vertrauten.
Sorgen bereitet mir jedenfalls, dass ein mehrwöchiger oder gar -monatiger Stillstand von großen Teilen der Bevölkerung psychisch nicht bewältigt werden wird, gerade für diejenigen, die ohnehin in beengten Verhältnissen leben und die meiste Zeit des Tages daher nicht zu Hause verbringen. Absurde Panikreaktionen sind schon jetzt weltweite Normalität – wie viele Leute werden erst durchdrehen, wenn sie für längere Zeit das Haus nicht verlassen dürfen? Wie viele Selbstmorde, Nervenzusammenbrüche oder gar Amokläufe wird es geben? Wie viele ökonomische Existenzen werden zerstört werden? Wie viele Beziehungen in die Brüche gehen? Wie viele Menschen sich radikalisieren (was gut, aber oft auch schlecht sein kann)? Was sind die psychischen Auswirkungen von einer möglicherweise wochenlangen Isolation, ohne draußen spielen zu können für Kinder – und gerade für solche, die ohne Balkon oder eigenen Garten aufwachsen? Wie gesagt: Je nachdem, wie lang der gegenwärtige Ausnahmezustand andauern wird, werden seine sozialen Kosten womöglich höher sein als diejenigen einer weitgehend ungehinderten Ausbreitung mit nur moderaten Schutzmaßnahmen – die ja eben durch das Entstehen einer massenhaften Immunität ohnehin zu einem Ende der Pandemie führen würde. Ich fürchte, es gibt einfach zu viele Menschen, die nicht an einen selbstverantwortlichen Umgang mit ihrer Zeit gewöhnt sind und die durchdrehen, wenn ihr gewohnter Bezugsrahmen plötzlich zusammenbricht – an sich könnte das eine Chance sein, über das eigene Leben nachzudenken, doch wahrscheinlicher wird wohl leider die massenhafte Verwahrlosung und Orientierungslosigkeit sein, die autoritären Tendenzen und den Ruf nach einem „starken Mann“, der endlich für Ordnung sorgt, nur Vorschub leisten. Heute ist es noch der nette Arzt im weißen Kittel – der Fachidiot, der zum inoffiziellen Führer berufen wird – morgen vielleicht schon der Macho mit der Basecap …3)Und ich will mich hier gar nicht ausnehmen! – Paranoia, Panik etc. bedrohen uns gegenwärtig alle und sind vielleicht sogar die allerschlimmste Gefahr.
Die Losung der Stunde kann also eigentlich nur sein, das Handeln der Regierung und ihre uns alle in eine vermeintliche „Schicksalsgemeinschaft“ einbeziehende Rhetorik mit dem größten Misstrauen und der größten Skepsis zu beobachten. Das ist unsere demokratische Bürgerpflicht und nicht das besinnungslose Mittun. Wenn sogar schon die Rhetorik des „Burgfriedens“, wie in Frankreich, beschworen wird, dann können echte Demokraten nur alarmiert sein. Solidarität muss natürlich auch den Alten und Kranken gelten, aber nicht auf Kosten der Freiheitsrechte und teilweise auch der Zukunftsperspektive der Jungen, auf Kosten von Flüchtlingen und Menschen, die nun irgendwo festsitzen, weil sie nicht über die richtige Staatsangehörigkeit verfügen, und auf Kosten von prekär Beschäftigen und kleinen Selbstständigen. Und das gilt erst recht, wenn nun ersichtlich der Schutz der Alten und Kranken als Vorwand herhalten muss, um eine forcierte Umverteilungspolitik zu Gunsten der Großkonzerne durchzuführen oder jedenfalls die Kosten der Krise von ihnen abzuwälzen – obwohl die wahre Ursache der Krise ja ohnehin schon eine Politik zu ihren Gunsten ist (intensive Handelskontakte mit Diktaturen, offene Grenzen für Waren und nützliche Arbeitskräfte, allgemeine Überhitzung des sozialen Lebens …).
Wer noch Zweifel hegt und hier eine „Verschwörungstheorie“ wittert, der soll sich doch einfach mal überlegen, wie sonst mit vergleichbaren Risiken umgegangen wird: Wie viele nur für wenige Menschen gefährlichen Krankheiten es gibt, zu denen kaum Forschungen finanziert werden, wie wenig man gegen die saisonale Grippe unternimmt oder mit Krankheiten, die „nirgendwo in Afrika“ ausbrechen. Und wie wenig man bspw. gegen den Klimawandel unternimmt, der vermutlich weitaus desaströsere Folgen haben wird selbst als eine völlig ungebremste Ausbreitung des Corona-Virus. Diese simple Überlegung macht eindeutig klar: It’s not science, it’s politics, stupid.
Ich rufe daher nicht dazu auf, sich nun verantwortungslos zu verhalten und unsolidarisch im Sinne echter Solidarität. Doch man sollte eben nicht jede nun für zwingend erklärte Schutzmaßnahme auch als eine solche behandeln – und im Ernstfall eben zivilen Ungehorsam gegen illegitime Eingriffe in die persönlichen Grundfreiheiten leisten. Insbesondere sollte man bereit sein, im Notfall auf die Straße zu gehen und gegen unverhältnismäßige Willkürmaßnahmen zu demonstrieren oder eben an politischen Versammlungen teilzunehmen, die kritisch über solche Willkürmaßnahmen diskutieren. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass alle Institutionen des demokratischen Staates, insbesondere die Gerichte und Parlamente, weiterhin ungehindert und vollumfänglich arbeiten können – und nicht nur die Exekutivgremien und die entsprechenden Gremien der großen Konzerne. – Das Risiko, sich unter freiem Himmel zu infizieren ist ohnehin überschaubar, und es droht sonst eben Schlimmeres als Corona: Nämlich die Abschaffung der Demokratie durch die technokratische Hintertür – und noch nicht einmal die Hintertür, denn es passiert ja gerade ganz offen und von Teilen der Bevölkerung sogar bejubelt. Eher marschiert gerade das Weiße-Kittel-SEK mit Vollkaracho zur Haustür ein …
Vielleicht gibt es auch andere Strategien, die der im Technokratenjargon (bzw.: schlechter Übersetzung aus dem Englischen) vorgebrachten Forderung nach „sozialer Distanzierung“ eher gerecht werden. Doch geläufige Mittel wie Facebook-Kampagnen oder Online-Petitionen erweisen sich eben regelmäßig als nur bedingt wirksam. Wenn, dann gälte es, sich über ganz neue Formen der Vernetzung und des Widerstands online Gedanken zu machen oder aktiver von Formen wie der gezielten Lahmlegung bestimmter Websites durch massenhafte koordinierte Anfragen Gebrauch zu machen.
Fußnoten
↑1 | Das gilt – wie die alltägliche Erfahrung ja immer wieder zeigt – umso mehr für Ärzte, die mitunter eine extrem verengte Spezialisierung aufweisen und eben wirklich Fachidioten im schlechtesten Sinne sind. Aber natürlich gilt es für alle anderen Wissenschaftler genauso, Philosophen (insofern auch sie Wissenschaftler sind) nicht ausgenommen. |
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↑2 | Womit kein Werturteil hinsichtlich der damals getroffenen Entscheidungen verbunden sein soll! |
↑3 | Und ich will mich hier gar nicht ausnehmen! – Paranoia, Panik etc. bedrohen uns gegenwärtig alle und sind vielleicht sogar die allerschlimmste Gefahr. |
8 Comments
Nachtrag:
Mittlerweile gibt es eine unterstützenswerte Petition gegen die Corona-Diktatur: https://www.openpetition.de/petition/online/sofortige-aufhebung-aller-in-der-corona-krise-verfuegten-einschraenkungen-buergerlicher-freiheiten
Und auch an der juristischen Front bewegt sich etwas:
https://www.tag24.de/nachrichten/regionales/sachsen/coronavirus-prozess-saechsische-rechtsanwaelte-reichen-klagen-gegen-ausgangssperre-ein-1470733
Schweden bleibt unterdessen aufrecht:
https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-krise-schweden-verfolgt-sonderweg-im-kampf-gegen-die-pandemie-a-be9a5aef-8f7e-4d68-9448-58681f1d92f1
Die Protestbewegung formiert sich:
https://www.heise.de/tp/features/Wenn-Demonstranten-zu-Gefaehrdern-erklaert-werden-4692869.html
https://www.nichtohneuns.de/regional/
Für mich liest sich das wie ein Plädoyer für eine krisenbedingte Alterseuthanasie!
1. Du legst plausibel dar, dass der Abbau demokratischer Freiheiten einer autoritäre-politischen Strategie zur Bewältigung der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise in die Hände spielt. Auch Deutschland kann sich nun, trotz Auschwitz, mit gutem Gewissen einem rechten rollback hingeben, weil die Krise nun als Naturkatastrophe erscheint. Soweit, so richtig.
2. Kritische Stimmen gegen diesen Abbau demokratischer Freiheiten wird entsprechend mit der Moralkeule begegnet, man sei rücksichtslos gegenüber den Alten und Schwachen unserer Gesellschaft. Ist auch erstmal nicht falsch.
3. Du fasst nun trotz dieser als bigott gebrandmarkten Moral heldenhaft den Mut und spricht aus, was im Namen der Freiheit ausgesprochen werden muss: „Solidarität muss natürlich auch den Alten und Kranken gelten, aber nicht auf Kosten der Freiheitsrechte und teilweise auch der Zukunftsperspektive der Jungen […] und auf Kosten von prekär Beschäftigten und kleinen Selbstständigen.“ Damit spielst Du die Alten und Kranken gegen die Jungen aus. Wir müssen baldigst zum Status Quo übergehen, denn: „Je nachdem, wie lang der gegenwärtige Ausnahmezustand andauern wird, werden seine sozialen Kosten womöglich höher sein als diejenigen einer weitgehend ungehinderten Ausbreitung mit nur moderaten Schutzmaßnahmen“.
Du argumentierst also kurz gesagt, dass der derzeit einzig vernünftige Weg darin besteht, die Ausgangsbeschränkungen aufzuheben, wodurch mehr Menschen erkranken und dadurch für alte und schwache Menschen kein Intensivbett bereitsteht, wenn die Ärzte gezwungenermaßen anhand der Triage selektieren müssen. Doch sei dadurch die Gesamtsumme gesellschaftlichen Leids eben geringer, als wenn man die Ausgangsbeschränkungen länger beibehielte. Die Alten und Schwachen müssen daher der Vernunft gemäß im Zweifelsfall geopfert werden. Aber ist der hier aufgemachte Gegensatz wirklich so alternativlos? Schauen wir uns doch mal das gesellschaftliche Leid an, das Du abwenden willst:
a.) „Wie viele ökonomische Existenzen werden zerstört werden?“- Gegen Armut würden auch soziale Umverteilung, soziale Kämpfe helfen.
b.) „Wie viele Selbstmorde, Nervenzusammenbrüche oder gar Amokläufe wird es geben?“ Man könnte die psychische Beratung und Seelsorge ausbauen. Eine Psychologen-„task-force“ könnte finanziert werden, die hier Lösungen suchen, möglichst schnell Strukturen schaffen usw. usf. Ähnliches gilt etwa auch für die Gefahr des Anstiegs häuslicher Gewalt. Es könnte eine breite Aufklärungskampagne in den Medien gestartet werden: „Haltet 2 Meter Abstand, wascht eure Hände und achtet auf häusliche Gewalt bei euren Nachbarn. Männer rasten gerne aus wenn sie zuhause bleiben müssen, sensibilisert euch deshalb dafür und handelt in einer gegebenen Situation!“
Das mögen naive Alternativideen sein von mir aber sie zeigen, dass man die von Dir gesehene Gefahr sozialen Leids keineswegs so unausweglich verstehen muss wie Du es tut.
4. Besonders unplausibel finde ich dies Behauptung, „[a]uch eine wirklich dem Allgemeinwohl verpflichtete Gesellschaft hätte wohl nicht so viele Intensivbetten auf Reserve zur Verfügung, um für einen Fall wie diesen hinreichend gewappnet zu sein.“ Mit anderen Worten: Selbst im Kommunismus müssten wir Alte und Schwache jetzt dem Gemeinwohl opfern, es ist schlicht unausweichlich! Wie kommst Du denn zu dieser Einschätzung? Die Katastrophenmodelle für eine fiktive Sars-Pandamie liegen doch seit Jahren in den Schubladen der politischen Entscheidungsträger. Warum würde eine vernünftig eingerichtet Gesellschaft sich es nicht genug kosten lassen, für den Ernstfall entsprechend aufgestellt zu sein? Aber als kleine Notlüge, um die möglichen Todesurteile vor sich selbst rechtfertigen zu können, funktioniert diese Behauptung sicherlich…
Fazit: Ich kann da beim besten Willen keine Alternativlosigkeit erkennen und finde es bemerkenswert, wie leichtfertig Du im Grunde genommen der Alterseuthanasie das Wort redest. Im Grunde zeigt sich hier die gängige utilitaristische Moral, dass wer keinen Nutzen für die Gesellschaft hat, im Zweifelsfall auch sein Lebensrecht verlieren können soll. Aber das kann ich Dir jetzt leider nicht vorwerfen lieber Paul, weil dann käme ich ja mit der Moralkeule, was Du ja klugerweise vorweg argumentativ verunmöglicht hast. Da bleibt mir dann nurmehr die Bewunderung deines Mutes, im Ernstfall auch moralisch unangenehme Entscheidungen treffen zu wollen. (Obwohl Du ja das Euthanasievorhaben eigentlich doch eher feige durch die Hintertür eingebracht hast, statt es deutlich auszusprechen. Aber immerhin! Einer musste ja mal den Anfang machen…)
Danke für deine Ausführungen, die mir die Möglichkeit geben, klar zu sagen, dass ich absolut gegen jede Form von Euthanasie bin. Ich lehne bspw. auch Sterbehilfe ab.
Ich bin für eine Gesellschaft, in der *alle* Menschen ein würdiges Leben führen können. – Aber was nützt eine solche abstrakte Forderung heute? Es ist doch bequem und erfordert sehr wenig Mut, sich auf dieser edlen Haltung auszuruhen.
Das Problem ist aus meiner Sicht, dass wir uns eben in einer Notsituation befinden und da andere moralische Regeln gelten als im Normalzustand. Das war schon immer so und ist ganz menschlich und moralisch vollkommen akzeptabel. „Frauen und Kinder zuerst.“
Wobei wir ja auch im Normalzustand – mit guten Gründen – Prioritäten setzen, etwa bei der Verteilung von Spenderorganen. Und auch bei der jährlichen Grippewelle habe ich noch niemanden sagen gehört, dass wir es nicht in Kauf nehmen können, dass da jedes Jahr Tausende alter vorerkrankter Menschen sterben.
Und was machen all unsere „schönen Seelen“ bspw. gegen den Welthunger, der jedes Jahr 10 Mio. hinwegrafft?
Es ist einfach kein Gerücht, sondern es ist ein Fakt: Die Lockdown-Politik tötet.
Schau dir mal an, was jetzt im globalen Süden abgeht, wo die Menschen in weniger privilegierten Verhältnissen leben:
https://taz.de/Covid-19-in-Afrika/!5671067/
https://www.tagesschau.de/ausland/indien-folgen-ausgangssperre-101.html?fbclid=IwAR2IWoxG-cscn4nGDzyOa0guEcmQTfeV3–92df4dnFqpue2nHdL57EcnFo
Wir sind wirklich Heuchler gerade. Man kann den Lockdown natürlich einigermaßen gut überstehen, wenn man jung und gesund ist und vor allem ein gesichertes Einkommen, eine große Wohnung und keine Kinder hat. Aber was ist mit all anderen anderen Leuten?
Hier auch nochmal ein Video von einem medizinischen Experten dazu:
https://youtu.be/d6MZy-2fcBw
Nein, mir Euthanasiephantasien zu unterstellen, ist wirklich daneben und ich fordere dich auf, diesen Vorwurf zurückzunehmen.
Lieber Paul. Ich habe eng an Deinem Text ausgeführt, was meine Kritik ist, aber ich versuche es nochmal etwas deutlicher zu machen. Deine Überlegungen sind m.E. an den neuralgischen Punkten eines Sinnes mit jener Ideologie, auf die man sich grade in Deutschland zu einigen scheint; z.B. mittels Christiane Hoffmanns aktuellem Leitartikel im Spiegel:(https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-wirtschaftsschaeden-gegen-menschenleben-diese-debatte-muss-gefuehrt-werden-a-00000000-0002-0001-0000-000170213656):
„Ja, man darf […den wirtschaftlichen Schaden gegen Menschenleben abwägen]. Man muss sogar. Die freiheitliche Demokratie lebt von der offenen Debatte, von der Abwägung von Gütern, und gerade in einer existenziellen Krise darf sie das nicht aufgeben. Gerade die schwierigsten Entscheidungen dürfen nicht getroffen werden, ohne dass klar ist, was auf dem Spiel steht. Es ist weder unmoralisch noch zynisch, zu benennen, was gegeneinander abgewogen werden muss.Das ist: die kurzfristige Katastrophe einer Ausbreitung des Virus gegen die langfristige einer Rezession und der politischen Verwerfungen, die mit ihr verbunden sein könnten. Menschenleben heute gegen das soziale Elend von morgen. Denn es steht ja zu befürchten, dass die Folgen eines wirtschaftlichen Niedergangs die Bedürftigsten besonders hart treffen werden. Abzuwägen ist auch das Risiko für viele Ältere gegen die Belastung der jungen Generation durch Wirtschaftseinbruch und Schulden. Und wenn Europa in eine schwere Rezession geriete, könnte das die Populisten und die Autoritären stärken, vielleicht sogar die Demokratie gefährden, nicht in Deutschland, aber anderswo in Europa.“
Hoffmann inszeniert sich ebenso wie Du als mutige Tabubrecherin im Namen des Allgemeinwohls. Scheint wohl grade der richtige Ton zu sein, aber der scheinbare Tabubruch von Dir und Hoffmann ist keiner, sondern eine Eskamotage, um utilitaristische Ethik als Fackel der Aufklärung getarnt vertreten zu können. Ich finde es erschreckend, wie leichtfertig Du Dich überhaupt erstmal an der gegenwärtig betriebenen Rechnerei mit potentiellen Todesurteilen anschließt. Bist Du mittlerweile bei der praktischen Ethik von Peter Singer gelandet, oder was? Und dann rechnest Du auch noch, ohne auch nur eine Denkanstrengung in Richtung der Frage zu unternehmen, ob Deine Rechnung wirklich so alternativlos ist. Deine Argumente zur Behauptung einer scheinbaren Alternativlosigkeit sind nämlich halbgar und undurchdacht. Dennoch stellst Du Überlegungen über das gesellschaftlich geringere Leid an. Das habe ich ebenfalls kurz angerissen und damit eine Richtung eingeschlagen, wie sie derzeit glücklicherweise auch vertreten wird, z.B. von Margarete Stokowski, auch im Spiegel (https://www.spiegel.de/kultur/corona-krise-gewalt-und-depressionen-wo-die-maske-nicht-schuetzt-kolumne-a-7d0c9550-caec-4c75-be8b-f3478a00a318?fbclid=IwAR01_VxS8IWDn3bb9GuCV6KzCMdipUFL60IbYc3bh5g6_8ATVvNlFQg-KTk).
Im Sinne einer gelingenden Diskussion entlaste ich Dich hiermit von dem sowieso nie behaupteten Vernichtungsphantasievorwurf.
Hier ein programmatisches Zitat aus dem Stokowski-Artikel, das als Kernargument gegen Deine leichtfertige Beteiligung am Aufrechnen von Menschenleben mit dem Allgemeinwohl funktioniert:
„Es ist allerdings kein Naturgesetz, dass es in Pandemien zu einem Anstieg der Gewalt kommen muss. Auch wenn man erst mal eine gewisse Hilflosigkeit fühlt, wenn man von den Gefahren und bereits geschehenen Fällen hört, gibt es unzählige Maßnahmen, die man treffen kann, im politischen wie im privaten Bereich, falls man das überhaupt trennen will.“
Ich beziehe mich vor allem auf das letztgenannte Video. Sein Kernargument: Wir können die voraussichtlichen Folgen der Corona-Pandemie zwar nur bedingt abschätzen im Augenblick, doch es zeichnet sich ab, dass sie nicht so verheerend sein werden, wie manche glauben, wenn wir sinnvolle Maßnahmen ergreifen.
Die Folgen eines Lockdown über mehrere Wochen sind aber völlig unbekannt und alles, was wir sagen können, ist, dass sie verheerend sein werden in jeder Beziehung – und den Virus werden wir so nicht einmal wirklich stoppen können, da sich keine Herdenimmunität herstellt.
Ich denke, es ist ganz normal, in einer Situation wieder dieser eine Abwägung zu treffen und vollkommen moralisch angebracht.
Ich schreibe gerade einen längeren Text, in dem ich das alles genauer ausführe und herleite.
Peter Singers Positionen finde ich auch hochproblematisch, aber ich denke eben, dass der derzeitige Fall ganz anders gelagert ist. Es geht mir um Regeln für einen Ausnahme- und nicht für den Normalzustand.
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[…] dem Blog der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie habe ich inzwischen einen längeren Artikel zu Corona sowie einen Nachtrag dazu […]
[…] Weise auf diese vier Argumentationen eingehen und aufzeigen, warum sie mich nicht von meiner u. a. dort[6] dargelegten Meinung abgebracht haben, dass wir es im Augenblick mit einer massiven autoritären […]
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