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Authentizität als Idee und als Ideologie


von

Eine weitere Einreichung für den Eos-Preis von Hans-Joachim Schönknecht.

Authentizität als Idee und als Ideologie

Die HARP hat einen Aufsatzwettbewerb zum Thema der personalen Authentizität ausgeschrieben, und sie liegt mit dieser Idee – salopp gesprochen – goldrichtig, ist doch die Forderung nach bzw. die Prätention von Authentizität seit geraumer Zeit wenn nicht in aller, so doch in vieler Munde: im Internet finden sich zu diesem doch einigermaßen abstrakten Ausdruck angeblich mehr als 10 Millionen Einträge1)Vgl. J. Mai: Authentizität: Die Kunst [,] authentisch zu sein. www.karrierebibel.de/authentizitaet (Stand 2013) . Und da Philosophie, Hegel zufolge, die Aufgabe hat, ihre Zeit gedanklich zu erfassen, ist die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen nur folgerichtig.

Um die Erklärung dieser eigenartigen Konjunktur des Begriffs vorzubereiten, werfe ich, wie es guter methodischer Brauch ist, einen Blick auf seine

Etymologie und Verwendungsgeschichte

Die Lexika belehren uns darüber, dass das Adjektiv authentisch auf das griechische Nomen authéntes zurückgeht, das Herr bzw. Gewalthaber bedeutet. Es bezeichnet ursprünglich denjenigen, „der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch den Urheber“2)Röttgers/Fabian: Art. Authentisch. HWPh 1, Sp. 691. Der die Wurzel aut(os), ‚selbst‘ enthaltende Ausdruck kann auch, negativ konnotiert, den Täter, ja den Mörder bedeuten, und das zugehörige Verb authéntein bezeichnet das eigenmächtige Handeln. Speziell die letztgenannte Bedeutung ist im Gedächtnis zu behalten.

Ob die Griechen bereits über ein unserem Wort authentisch entsprechendes Adjektiv authéntikos verfügten, bleibt dahingestellt. Jedenfalls erscheint in den Texten der Kirchenväter die lat. Form authenticus als regelmäßiges Adjektiv zu auctoritas3)Vgl. ebd.; sie würde demnach ‚gültig‘ sowie ‚maßgebend‘ bzw., mit moderner deutscher Ableitung, ‚autoritativ‘ bedeuten4)Im Hinblick auf den Bedeutungsaspekt ‚maßgebend‘ ist nicht einsichtig, inwiefern die Verwendung des lateinischen Adjektivs für das Original einer Handschrift im Gegensatz zur Abschrift, dem exemplarium, eine zweite Bedeutung konstituieren soll, wie Röttgers/Fabian annehmen. Der ursprünglichen Handschrift, dem Original, kommen eben Autorität und Maßgeblichkeit bzw. Maßstäblichkeit zu, an denen die Qualität der Abschriften gemessen wird.. Auch auf Letzteres werde ich zurückkommen.

Beschränkt sich der Gebrauch des Begriffs authentisch in der älteren europäischen Geschichte im wesentlichen auf den juristischen und auf den theologischen Bereich, Letzteres in Form der biblischen Hermeneutik, der Frage nach dem authentischen, dem echten Sinn des biblischen Textes, tritt der Terminus mit der neuzeitlichen Entfaltung der Wissenschaften in weitere Kontexte ein. In der Archäologie steht der Terminus Authentizität für die tatsächliche Übereinstimmung der aufgefundenen Artefakte mit den Personen, Autoren oder Quellen, denen sie zugeschrieben werden und in der wissenschaftlichen Rhetorik steht er gar für das erfolgreiche Verhüllen der Konstruiertheit des Textes. Authentizität figuriert heute in Kontexten der Musik, des Rechts, der Informatik, ja sogar der Fachdidaktik, des Marketings und der Kulturwissenschaften5)Vgl. zu den genannten Verwendungen den Übersichtsartikel Authentizität in Wikipedia..

In all diesen Fällen geht es um die Verifikation von Authentizität, und deren Feststellung beruht auf der Prüfung des Gegenstands mittels bestimmter Kriterien. Hält das Objekt allen Prüfkriterien stand, wird es für authentisch befunden. Diese Art von Authentizität hat die Natur der Echtheit, der Ursprünglichkeit (Originalität) und der Maßgeblichkeit. Als Beispiel diene die Malerei: Nur das echte, also vom Künstler eigenhändig hervorgebrachte Gemälde ist Objekt des Begehrens, nicht gleichermaßen dessen manuell und noch weniger die typografisch erzeugten Kopien. Zugleich ist das Original Maßstab für deren Qualität; diese hängt ab vom Grad der Übereinstimmung mit dem Paradigma, dem ‚Vorbild‘. In einer Epoche nahezu unbegrenzter technischer Reproduktionsmöglichkeiten wie der unseren, in der sich jedermann Kopien der bedeutendsten Kunstwerke beschaffen und sie in seiner privaten Sphäre präsentieren kann, steigt demzufolge der Marktwert der Originale ins Unermessliche, in Proportion mit der zunehmend beliebigen der Zahl der Kopien.

Unter den Themenfeldern, auf denen Probleme der Authentizität verhandelt werden, findet sich schließlich noch ein sehr spezielles, nämlich der Mensch selbst. Was Menschen in Bezug auf den Menschen solcherart in die Frage stellen, erscheint unter dem Titel der

Authentizität der Person

Damit sind wir bei dem von der HARP gestellten Thema. Ich beginne mit der

Exposition der Frage

Dass die Anwendung der Authentizitätsfrage auf den Menschen ihre Besonderheit hat, liegt auf der Hand. In den genannten Sachzusammenhängen ist diese Frage prinzipiell entscheidbar, sofern nur die Kriterien des Authentischen sachgerecht definiert sind, die Objekte sorgfältig geprüft wurden und, idealerweise, alle relevanten Informationen vorliegen.

Das Spezifische der Authentizitätsproblematik bei Menschen liegt nun darin, dass der Mensch nicht, wie ein Gemälde oder ein altes Manuskript, einfach da ist – da ist er selbstverständlich auch –, sondern dass er sich in spezieller, auf in der Welt einzigartige Weise gegenwärtig ist, dass er ein Selbst ist und um sein eigenes Sein weiß, kurz, mit traditionellem Terminus, dass er Bewusstsein hat, Bewusstsein von sich und seinem Anderen, d.h. der Welt, den ‚anderen‘ Menschen.

Aus diesem Grund ist mit dem Begriff der Echtheit als Kriterium von Authentizität hier nichts anzufangen und ich wähle stattdessen in Bezug auf den Menschen heuristisch die Bestimmung, dass Authentizität sich manifestiert als Treue zu sich selbst, begrifflich schärfer formuliert als Festhalten an der eigenen Identität.

Doch über den Sinn wie über die Möglichkeit und die Notwendigkeit solcher Treue zu sich selbst ist mit dieser Definition noch nicht befunden. Denn diese Parameter variieren je nach dem Kontext, in den sie gestellt werden. Ich werde im folgenden drei solcher Kontexte unterscheiden: den metaphysischen, den ethischen und den sozialtheoretischen Kontext. (Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. J. Mai: Authentizität: Die Kunst [,] authentisch zu sein. www.karrierebibel.de/authentizitaet (Stand 2013)
2 Röttgers/Fabian: Art. Authentisch. HWPh 1, Sp. 691
3 Vgl. ebd.
4 Im Hinblick auf den Bedeutungsaspekt ‚maßgebend‘ ist nicht einsichtig, inwiefern die Verwendung des lateinischen Adjektivs für das Original einer Handschrift im Gegensatz zur Abschrift, dem exemplarium, eine zweite Bedeutung konstituieren soll, wie Röttgers/Fabian annehmen. Der ursprünglichen Handschrift, dem Original, kommen eben Autorität und Maßgeblichkeit bzw. Maßstäblichkeit zu, an denen die Qualität der Abschriften gemessen wird.
5 Vgl. zu den genannten Verwendungen den Übersichtsartikel Authentizität in Wikipedia.

Ich für mich: Authentizität und ihr Preis


von

Eine eher literarische Einreichung zum Eos-Preis für philosophische Essayistik von Shahab Sanjari.

 

Ich für mich: Authentizität und ihr Preis

Gibt es personale Authentizität? Wenn ja, ist sie erstrebenswert?

 

JEDES MAL, wenn sie über die Brücke geht, bleibt sie an der selben stelle stehen; neben dem zweiten Pylon genauer gesagt, mit Blick auf den Westhafen. Irgendwie ist es schön hier, findet sie, hier weht immer eine sanfte Brise; das gefällt ihr. Auf der anderen Flussseite ist das Steh-Café, wo sie mittwochs und donnerstags jobben geht.

Der Besitzer des Cafés hat am ersten Tag an dem Ruqayyah mit dem Kopftuch zur Arbeit kam, erst gar nichts angemerkt. Ruqayyah war besorgt, wie diese erste Begegnung wohl verlaufen wird. Sie wusste nicht wie er reagieren würde, wusste aber ganz genau, dass es ein Thema sein wird. Kurz vor Feierabend kam er zu ihr und wollte nur wissen, ob sie das Kopftuch langfristig behalten möchte. Mehr hat er nicht gesagt.

Ruqayyah ist neunzehn. Sie ist groß, hat schöne breite Augenbrauen, schminkt sich gerne und sieht immer sehr gepflegt aus. Nach der Trennung von ihrem Ex, den sie letztes Jahr in einem Nachtclub kennengelernt hatte, hat sie sich neulich dazu entschieden ein Kopftuch zu tragen. Das war keine einfache Entscheidung; ihr Freundeskreis, ihre Familie, die Menschen auf der Straße… wie sie sie alle anstarrten. Sie stammt aus einer muslimischen Familie, aber keiner sonderlich religiösen. Kopftuchträgerinnen gibt es kaum in der Verwandtschaft, selbst nicht ihre Mutter. Okay, ihre Oma trug Kopftücher, aber sie ist schon längst im Himmel. Zumindest stellt sie sich das so vor, dass irgendwie alle Omas in den Himmel kommen. (Weiterlesen)


Subjektivität und Diskontinuität


von

Eine Einsendung für den Eos-Preis von Emanuele Melcarne.

Subjektivität und Diskontinuität

Anmerkungen zum Authentischen

Die Frage nach der personalen Authentizität steht im Kontext zu der globalen Situation der Gesellschaften. Die moderne Arbeitsteilung spezifiziert die menschlichen Bedürfnisse. Der individualisierte Warenkonsum treibt die Produktion an, die ihre Lebensform als Kaufkraft bestärkt. Heute gilt es einen Authentizitätsbegriff zu formulieren, der aus der gegebenen historischen Situation eine neue Form des Selbstverhältnisses zur Gesellschaft begründet.

Die Etymologie führt den Begriff auf das Griechische authentikós, authéntēs zurück. In deutscher Übersetzung lautet das:

Mit eigener Hand vollbracht, glaubwürdig. […] Eine authentische Auslegung eines Gesetzes, einer Schrifstelle ist eine solche, die durch deren Gesetzgeber selbst, den Verfasser selbst, mit deren Worten oder in deren Geist gegeben ist. Authentisieren: Beglauben. Authentizität: Die urkundlich bezeugte Echtheit.1)Hofmeister, Johannes (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Felix Meiner 1955.

Die lexikalische Bestimmung beschreibt ein Verhältnis zwischen dem Glied autós, das Urheberschaft, Originalität bedeutet und der juridischen Instanz, die Urkunden, Verträge, Werke und Aussagen bezeugt. Im Begriff ist also ein Spannungsverhältnis eingeschrieben, das zwischen der positivistischen Beschreibung und einer ursprünglichen Spontaneität herrscht.

Aus dieser Perspektive betrifft die persönliche Authentizität immer zwei Seiten. Die innere Differenz des Authentizitäsbegriffs spiegelt sich auch in der Existenz selbst wider, wie im folgenden Sartres Essay über den Dichter und Dandy Baudelaire zeigen wird. Die Authentizität kommt nicht allein durch die Relation zwischen dem Selbst und dessen Anerkennung zu ihrem Begriff. Sie wird in einem Korrespondenz-Verhältnis von Selbst-und-Anerkennung-Verhältnis und Selbst-Verhältnis gedacht. Das Selbstverständnis des Renaissance-Künstlers veranschaulicht die einfachste Relation, die zwischen dem Selbst und dessen gesellschaftliche Annerkennung herrscht.

Mit Beginn der Neuzeit erlangen die bildenden Künstler ein intellektuelles Selbstverständnis, indem sie ihre Arbeit als eine geistige Schöpfung beschrieben und sich dadurch vom Handwerker unterscheiden. Da ihre Werke aus ihrem geistigem Entwurf stammen, verweisen sie auf den Urheber, welches das Werk mit eigener Hand vollbringt. In ihren Augen gelten die Werke als spontane und somit originelle Schöpfungen.

Die glorifizierenden Künstlerbiographien Vasaris bestätigten dann ihren mutmaßlichen Genius. Drei Aspekte geben die Bedingungen der mittleren Relation zwischen Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Anerkennung zu erkennen. Im Falle des Renaissancekünstlers liegt die spontane Seite des authentischen Werks in der geistigen Kreation. In allgemeinen Termini, zeichnet sich die spontane Seite der personalen Authentizität durch das disegno2)Disegno: Italienisch: Zeichnung. an sich selbst, dem Selbstentwurf, aus. Während der Renaissance-Künstler sein Werk erschafft, erfindet sich das Selbst eigenhändig.3)Der Satz: „Das Selbst erschafft sich selbst.“ zeigt bereits grammatikalisch, dass „selbst“ sowohl nominal als auch reflexiv genutzt wird. Bestimmtsein und Selbstbestimmung gleichen sich an. Ihr gesellschaftliches Bewusstsein entsteht durch die Distanzierung von der manuellen Arbeit. Zuletzt attestiert Vasari ihnen die Genialität, sodass ihnen endgültig Zugang zum intellektuellen Diskurs verschafft war.

In modernen Analysen, wie die von Georg Simmels Die Großstädte und das Geistesleben, Sartres und Benjamins Baudelaire und Nietzsches Genealogie der Moral lassen sich die genannten Relationen herausstellen in Bezug auf die Bedingungen der Authentizität setzen.

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Fußnoten

Fußnoten
1 Hofmeister, Johannes (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Felix Meiner 1955.
2 Disegno: Italienisch: Zeichnung.
3 Der Satz: „Das Selbst erschafft sich selbst.“ zeigt bereits grammatikalisch, dass „selbst“ sowohl nominal als auch reflexiv genutzt wird. Bestimmtsein und Selbstbestimmung gleichen sich an.

Digitale Analogie


von

Eine weitere Einsendung für den Eos-Preis für philosophische Essayistik – von Christoph Müller.

 

Digitale Analogie

 

Ein Klick und die Entscheidung ist getroffen. Die Bewegung selbst entschwindet der ihr eigenen Körperlichkeit.

Loops eröffnen das Materielle und entziehen es in die Subjektivität eines scheinbaren Perspektivwechsels.

Die Zeit drängt die Überbleibsel des Körpers in die Ausdehnung eines Vorher und Nachher, das die Gegenwart in ihrem Verlust ermöglicht.

 

Weiß-gelblich quillt der lauwarme Analogkäse aus dem von Fett glänzenden Brocken Leberkäse, der mit anderen fleischlich-glänzenden Köstlichkeiten in der Schaufensterauslage liegt. Der Imbiss ist schmuddelig, verkabelt, grell. Die Verkäuferin scheint osteuropäisch. Plastikstühle. Mein Gewissen kapituliert gegen den Sog in diese Zeitlosigkeit. Ich will mich geradezu fallenlassen, auflösen in dieser materialisierten Idealität fremdartiger Lebenswelt – meine Ankunft im Cyber der Zukunft. Paniertes Hähnchen in beliebigen Formen und Größen, verspeist von der Anonymität des Subjekts. Die Entwertung jeglicher Verantwortlichkeit ist hier mehr als reines Genussmittel, sie ist das Portal in den SciFi. Vorbei an der geradezu sinnlosen Stupidität der Nahrungsaufnahme zieht es mich in die Verknüpfungen unendlicher Perspektiven, die als Ausläufer jeweiligen Selbstbezugs in ihrer Selbstwidersprüchlichkeit die Realität dieses Ortes vollziehen. Der gesamte Imbiss wird zur Maschine, Ausdruck all der idealisierten Materialität seiner Einzelteile. Jede Nische, jede Ecke wird zum Ort im Ort, wird zur Geschichte in der Geschichte. Wenn ich die meine vergesse, scheint die Matrix fast sichtbar, wirkt das Alltägliche wie die Produktion eines entfremdeten Werdens. Mehr an Geschmack, der keiner sein kann – Verschlingen frittierter Reize, die ihre Vollkommenheit in ihrem Entzug entfalten. Essend, kauend – entzieht sich die Biologie in den Körper ihrer eigenen Produktion, sie entschwindet in die Zeitlichkeit einer Mechanik, sie wird Unbewusstheit und ermöglicht mir meine Digitalität. Meine Körperlichkeit ist nicht mehr die Geschichte außerhalb dieses Imbiss. Mein Körper beginnt jetzt – in seiner neuen, ermöglichten Verknüpfung mit all dem Chicken, Neonlicht, Plastik. Eingelassen in die Materialität der Straße, der Stadt, der globalen Fleischindustrie schafft sich mein Körper neu, ermöglicht er sich seine bisherige Unmöglichkeit, wird Cyborg, gliedert sich aus. Meine Digitalität ist Ausdruck dieser Ermöglichung, sie ist der Vollzug einer Grenzüberschreitung, die meinem Selbst eine erneute Perspektivität, eine Idealität aus der Unmöglichkeit in und als Selbstwiderspruch ermöglicht. (Weiterlesen)


Man Selbst Sein


von

Hier ein weiterer spannender Essay des Eos-Preises von Boris Hennig.

 

Man Selbst Sein

 

“He’s authentic.”

Justin Trudeau über Donald Trump

Eigentliches Selbstsein

Die Forderung, man selbst zu sein, kann sich nur an eine Person richten, die überhaupt für derartige Forderungen empfänglich ist. Eine solche Person muss ihr eigenes Sein bereits als Aufgabe begriffen haben, und also bereits das sein, was Heidegger als Dasein bezeichnet: ein Seiendes, dem es “in seinem Sein um dieses Sein selbst geht” (SuZ 12). Wenn die Forderung nach dem Selbstsein darüber hinaus noch etwas weiteres fordern soll, dann reicht die bloße Sorge um das eigene Sein offenbar nicht aus, um wirklich man selbst zu sein. Es muss einen Unterschied geben zwischen Dasein und wirklichem Selbstsein, so dass man sich auf zwei verschiedene Weisen zu sich selbst verhalten kann: erstens so, dass man die Forderung, man selbst zu sein, überhaupt als solche wahrnehmen kann, und zweitens so, dass man sie erfüllt.

Wenn Heidegger zu Beginn von Sein und Zeit sagt, das Dasein könne entweder es selbst sein oder nicht es selbst zu sein (SuZ 12), dann kann er also nicht einen Gegensatz zwischen einem Sein meinen, das sich zu sich selbst verhält, und einem Sein, das dies nicht tut. Er muss einen Gegensatz zwischen einem gelingendem und einem misslingendem Selbstsein im Sinn haben. Es kann, in Heidegger’s Worten, nicht darum gehen, erst zu einem Selbst zu werden, sondern nur darum, ein uneigentliches Selbstverhältnis in ein eigentliches zu überführen. In diesem Sinne beschreibt Heidegger das eigentliche Selbstsein dann auch als eine “existentielle Modifikation des Man” (SuZ 130). “Das Man” ist Heidegger’s Name für das uneigentliche Selbst. Das Man selbst soll zum Ich selbst werden.

Um zu verstehen, wie man das Selbstsein fordern kann, müssen wir also verstehen, wie sich ein eigentliches Selbstverhältnis von einem uneigentlichen unterscheidet. Das ist aus zwei Gründen nicht trivial. Erstens gleichen sich beide Verhältnisse darin, dass in ihnen etwas auf sein eigenes Sein abzielt. Zweitens kann man das uneigentliche Selbstverhältnis nicht einfach daran erkennen, dass es dieses Ziel verfehlt. Denn das Man, also das uneigentliche Dasein, kann sich durchaus so zu sich selbst verhalten, dass es sein eigenes Sein nicht im geringsten verfehlt. Es kann sich ganz echt und treffend zu genau dem uneigentlichen Sein verhalten, das es in der Tat selbst ist.

Heidegger beschreibt diesen Anschein von Eigentlichkeit als eine Verdeckung und Verfehlung (SuZ 130), mittels derer sich das uneigentliche Selbst in seiner Uneigentlichkeit beruhigt. Ich bin zunächst nicht wirklich “‘ich’ im Sinne des Selbst”, schreibt er, “sondern die Anderen in der Weise des Man” (SuZ 129). Eben das Man, das mir mein eigenes Selbst vorenthält, beruhige mich aber dadurch, dass es mir einrede, das Man selbst sei bereits mein Ich selbst (SuZ 177; 322). Es ist also alles andere als leicht zu sehen, wie sich das Man selbst vom Ich selbst unterscheidet. (Weiterlesen)


Das Ich als Spalt der Welt


von

Hier ein zweiter nicht preisgekrönter Beitrag des Eos-Preises 2019 als Gastbeitrag von Lukas Nagel.

Das Ich als Spalt der Welt. Über die Unmöglichkeit, man selbst zu sein

Als Antwort an HARP und die Thumm-Stiftung, ob es personale Authentizität geben kann und ob sie erstrebenswert sei

Das was ich weiß – das wie ich lebe – das Wesen unsrer Zeit – wie passt das zusammen (Denken als Verbindung der Welt(en))?!

Die Frage wurde danach gestellt, ob ich mich selbst kennen und danach ich sein kann, und ob das überhaupt wünschenswert ist. Ich führe in meine Position dazu ein, dass

  1. Ich mich selbst nicht kennen kann (danach also auch nicht leben kann), sogar diese Unkenntnis selber bin
  2. Diese Vorstellung politisch gefährlich ist und zur Unterdrückung der Kinder durch die Erwachsenen gehört
  3. Aber trotzdem diese Frage wichtig ist, mir den Anfang allen ernsthaften Denkens bedeutet – wie man jenseits des Identitätsprinzips leben könne – ob ich absolut frei sein kann, auch und gerade von mir selbst.

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Authentizität und Mode


von

Wir haben denjenigen Autoren, die an unserem diesjährigen Preisausschreiben teilgenommen haben, aber nicht mit dem Eos-Preis ausgezeichnet wurden, deren Texte wir jedoch trotzdem veröffentlichenswert fanden, angeboten, ihre Essays hier als Gastbeiträge zu veröffentlichen. Den Anfang macht folgender Beitrag von Daniela Takeva. Vielen herzlichen Dank!

 

Ein Drang, der sich in der Mode konstatieren lässt, ist der nach Differenz und Originalität; die Mode und derjenige, der sie benutzt, möchte nicht einheitlich sein, sondern seine individuelle Besonderheit darstellen. Die Einheitlichkeit oder gar Uniformität wird als negativ bewertet, sie steht dem Ausdruck von individueller Persönlichkeit entgegen. Wer seinen eigenen speziellen Kleidungsstil gefunden hat, der von selbstständiger und -bestimmter visueller Gestaltung ist, dem traut man auch zu, dass er in seinen sozialen Handlungen autonom ist. Wer sich dagegen im Einheitslook kleidet, weckt Assoziationen an Uniformität und damit an Beschränkung der Individualität und des selbstständigen Handelns.

Ein Großteil der modernen Kleidungsstücke und sogenannten Basics wiederum haben ihren Ursprung im Militär und somit in der Uniform. Die Uniform ist dabei ein Speicher von Bildern, Geschichten und ihrem ursprünglichem Verwendungszweck, sie lässt sich nicht neutral verwenden ohne auf ihren historischen und ökonomischen Rahmen zu verweisen. Der Begriff der Uniform als im Dienst getragene einheitlich gestaltete Kleidung soll hier nur als Hilfe für die Argumentation dienen. Vielmehr steht der Begriff der Uniformität im Mittelpunkt, welcher Einheitlichkeit oder Gleichförmigkeit geltend macht. Von Werner Sombart postuliert, führen die mechanisch-seriellen Herstellungsverfahren zu einem uniformen Geschmack, doch kann diese These am heutige Mode und Kleiderindustriegeschehen noch standhalten? Ist die uniforme Kleidung nicht vielmehr mit dem Drang nach einer vermeintlichen Authentizität verbunden? Wer sich ausschließlich neutral kleidet, der verkleidet sich angeblich nicht und lenkt die Aufmerksamkeit auf die „inneren Werte“. Auf der anderen Seite muss jedoch auch die Frage gestellt werden, ob diejenigen, die ihre „inneren Werte“ in einem modischen Nonkonformismus ausdrücken möchten, nicht selbst zu Konformisten (Uniformierte) werden?

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Abschiedsbrief an die IWW-Leipzig


von

Betreff: „Bitte nehmt mich aus dem Verteiler raus und der Mitgliederliste“

„Hallo!

Hiermit trete ich hochoffiziell aus der IWW aus und bitte darum, auch nichts mehr von euch per E-Mail zu hören. Außer Antworten auf die nun folgende Kritik.

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Rezension zu Alp Kayserilioğlu: „Subjekt und Widerstand im Spätwerk Adornos“ von Helen Akin


von

Rezension zu

Alp Kayserilioğlu: Subjekt und Widerstand im Spätwerk Adornos

von Helen Akin

mandelbaum verlag, wien · berlin 2018

20 €; 224 S.

ISBN 978-3-85476-3824-1

 

Mit dem Format der Rezension werden mir, so scheint es, bestimmte Fragen vorgegeben: Worin liegt der Ertrag der hier in Rede stehenden Schrift Subjekt und Widerstand im Spätwerk Adornos von Alp Kayserilioğlus? Warum soll das Buch gekauft werden?

Gerät aber diese Ausgangslage nicht in Zweifel angesichts eines Buches, in dem der Autor den Versuch unternimmt, ein starkes Subjekt zu denken, das zum Widerstand gegen diese – oder besser: gegen unsere Ausgangslage im Stande wäre? Ein starkes Subjekt, so Kayserilioğlu, würde sich dadurch auszeichnen, dass es über die Bedingungen der eigenen Tätigkeit verfügte (120 e. p.). Gemeint ist also nicht die Auswahl zwischen verschiedenen Tätigkeiten oder überhaupt die Übernahme von verfügbaren und angebotenen Möglichkeiten, sondern die Deutung und Erzeugung von Möglichkeiten, die den Bann des Gegebenen überschreiten. Nicht also das Wirkliche, sondern konkreter: die Bedingungen der Möglichkeit des Wirklichen zu ändern, heißt hier Widerstand. In der Negativen Dialektik fasst Adorno dies in die Worte: „Es ist das Mögliche, nie das unmittelbar Wirkliche, das der Utopie den Platz versperrt; …“ (ND 66).

Um die Möglichkeiten solchen Widerstandes aufzuzeigen, stellt Kayserilioğlu im Zuge der ersten beiden Kapitel seines Buches erstens das philosophische Grundvokabular für das Verständnis von Subjektivität in der Auseinandersetzung mit Kant und Hegel und zweitens die „Bedingungen und Formen der Herausbildung von Subjektivität im Kapitalismus“ (14) heraus. Kayserilioğlu skizziert hierfür die Entstehung des Kapitalismus, den Zwischenkriegskapitalismus und den auf Integration beruhenden Nachkriegskapitalismus sowie einige Vorüberlegungen Adornos zum Neoliberalismus  und stellt auf diesem Wege heraus, warum sich das Subjekt im Kapitalismus in einer strukturell bedingten Schwachheit befindet. Die Möglichkeiten eines starken Subjekts, denen Kayserilioğlu im dritten und abschließenden Teil seiner Arbeit nachgeht, folgen Adornos Einsicht: „[Der Mensch] ist aber nicht nur, was er war und ist, sondern ebenso, was er werden kann; keine Bestimmung reicht hin, das zu antezipieren.“ (ND 61) Wohl keine einzelne Bestimmung, aber – und dies zeigt Kayserilioğlus Arbeit – eine Hand voll Ansätze und Verweise erlauben es uns, dieses künftige Subjekt schon jetzt in den Blick zu nehmen. (Weiterlesen)


Darf uns der Staat zum Lügen zwingen?


von

Da der folgende Text wahrscheinlich mal wieder den Rahmen dessen sprengen wird, was man gemeinhin als Philosophie bezeichnet bzw. schlimmer noch, vielleicht diesen Rahmen gar nicht wirklich ausfüllt, weiß ich nicht, ob ich mit meinem Übermaß an Authentizität nicht wieder einmal auf Unverständnis stoßen werde. Um Authentizität bzw. Offenheit soll es jedoch auch dieses Mal gehen. (Vielleicht auch im Sinne der kommenden Narthex-Ausgabe.)

Unabhängig davon, ob man Greta Thunberg als quasi krankheitsbedingte Expertin in einem wichtigen Menschheitsproblem ernst nimmt oder von ihr genervt ist, fällt auf, dass ihre Beharrlichkeit und Unfähigkeit, „Widersprüche auszuhalten“ als Symptom gedeutet wird.

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