Eine weitere Einreichung für den Eos-Preis von Hans-Joachim Schönknecht.
Authentizität als Idee und als Ideologie
Die HARP hat einen Aufsatzwettbewerb zum Thema der personalen Authentizität ausgeschrieben, und sie liegt mit dieser Idee – salopp gesprochen – goldrichtig, ist doch die Forderung nach bzw. die Prätention von Authentizität seit geraumer Zeit wenn nicht in aller, so doch in vieler Munde: im Internet finden sich zu diesem doch einigermaßen abstrakten Ausdruck angeblich mehr als 10 Millionen Einträge1)Vgl. J. Mai: Authentizität: Die Kunst [,] authentisch zu sein. www.karrierebibel.de/authentizitaet (Stand 2013) . Und da Philosophie, Hegel zufolge, die Aufgabe hat, ihre Zeit gedanklich zu erfassen, ist die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen nur folgerichtig.
Um die Erklärung dieser eigenartigen Konjunktur des Begriffs vorzubereiten, werfe ich, wie es guter methodischer Brauch ist, einen Blick auf seine
Etymologie und Verwendungsgeschichte
Die Lexika belehren uns darüber, dass das Adjektiv authentisch auf das griechische Nomen authéntes zurückgeht, das Herr bzw. Gewalthaber bedeutet. Es bezeichnet ursprünglich denjenigen, „der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch den Urheber“2)Röttgers/Fabian: Art. Authentisch. HWPh 1, Sp. 691. Der die Wurzel aut(os), ‚selbst‘ enthaltende Ausdruck kann auch, negativ konnotiert, den Täter, ja den Mörder bedeuten, und das zugehörige Verb authéntein bezeichnet das eigenmächtige Handeln. Speziell die letztgenannte Bedeutung ist im Gedächtnis zu behalten.
Ob die Griechen bereits über ein unserem Wort authentisch entsprechendes Adjektiv authéntikos verfügten, bleibt dahingestellt. Jedenfalls erscheint in den Texten der Kirchenväter die lat. Form authenticus als regelmäßiges Adjektiv zu auctoritas3)Vgl. ebd.; sie würde demnach ‚gültig‘ sowie ‚maßgebend‘ bzw., mit moderner deutscher Ableitung, ‚autoritativ‘ bedeuten4)Im Hinblick auf den Bedeutungsaspekt ‚maßgebend‘ ist nicht einsichtig, inwiefern die Verwendung des lateinischen Adjektivs für das Original einer Handschrift im Gegensatz zur Abschrift, dem exemplarium, eine zweite Bedeutung konstituieren soll, wie Röttgers/Fabian annehmen. Der ursprünglichen Handschrift, dem Original, kommen eben Autorität und Maßgeblichkeit bzw. Maßstäblichkeit zu, an denen die Qualität der Abschriften gemessen wird.. Auch auf Letzteres werde ich zurückkommen.
Beschränkt sich der Gebrauch des Begriffs authentisch in der älteren europäischen Geschichte im wesentlichen auf den juristischen und auf den theologischen Bereich, Letzteres in Form der biblischen Hermeneutik, der Frage nach dem authentischen, dem echten Sinn des biblischen Textes, tritt der Terminus mit der neuzeitlichen Entfaltung der Wissenschaften in weitere Kontexte ein. In der Archäologie steht der Terminus Authentizität für die tatsächliche Übereinstimmung der aufgefundenen Artefakte mit den Personen, Autoren oder Quellen, denen sie zugeschrieben werden und in der wissenschaftlichen Rhetorik steht er gar für das erfolgreiche Verhüllen der Konstruiertheit des Textes. Authentizität figuriert heute in Kontexten der Musik, des Rechts, der Informatik, ja sogar der Fachdidaktik, des Marketings und der Kulturwissenschaften5)Vgl. zu den genannten Verwendungen den Übersichtsartikel Authentizität in Wikipedia..
In all diesen Fällen geht es um die Verifikation von Authentizität, und deren Feststellung beruht auf der Prüfung des Gegenstands mittels bestimmter Kriterien. Hält das Objekt allen Prüfkriterien stand, wird es für authentisch befunden. Diese Art von Authentizität hat die Natur der Echtheit, der Ursprünglichkeit (Originalität) und der Maßgeblichkeit. Als Beispiel diene die Malerei: Nur das echte, also vom Künstler eigenhändig hervorgebrachte Gemälde ist Objekt des Begehrens, nicht gleichermaßen dessen manuell und noch weniger die typografisch erzeugten Kopien. Zugleich ist das Original Maßstab für deren Qualität; diese hängt ab vom Grad der Übereinstimmung mit dem Paradigma, dem ‚Vorbild‘. In einer Epoche nahezu unbegrenzter technischer Reproduktionsmöglichkeiten wie der unseren, in der sich jedermann Kopien der bedeutendsten Kunstwerke beschaffen und sie in seiner privaten Sphäre präsentieren kann, steigt demzufolge der Marktwert der Originale ins Unermessliche, in Proportion mit der zunehmend beliebigen der Zahl der Kopien.
Unter den Themenfeldern, auf denen Probleme der Authentizität verhandelt werden, findet sich schließlich noch ein sehr spezielles, nämlich der Mensch selbst. Was Menschen in Bezug auf den Menschen solcherart in die Frage stellen, erscheint unter dem Titel der
Authentizität der Person
Damit sind wir bei dem von der HARP gestellten Thema. Ich beginne mit der
Exposition der Frage
Dass die Anwendung der Authentizitätsfrage auf den Menschen ihre Besonderheit hat, liegt auf der Hand. In den genannten Sachzusammenhängen ist diese Frage prinzipiell entscheidbar, sofern nur die Kriterien des Authentischen sachgerecht definiert sind, die Objekte sorgfältig geprüft wurden und, idealerweise, alle relevanten Informationen vorliegen.
Das Spezifische der Authentizitätsproblematik bei Menschen liegt nun darin, dass der Mensch nicht, wie ein Gemälde oder ein altes Manuskript, einfach da ist – da ist er selbstverständlich auch –, sondern dass er sich in spezieller, auf in der Welt einzigartige Weise gegenwärtig ist, dass er ein Selbst ist und um sein eigenes Sein weiß, kurz, mit traditionellem Terminus, dass er Bewusstsein hat, Bewusstsein von sich und seinem Anderen, d.h. der Welt, den ‚anderen‘ Menschen.
Aus diesem Grund ist mit dem Begriff der Echtheit als Kriterium von Authentizität hier nichts anzufangen und ich wähle stattdessen in Bezug auf den Menschen heuristisch die Bestimmung, dass Authentizität sich manifestiert als Treue zu sich selbst, begrifflich schärfer formuliert als Festhalten an der eigenen Identität.
Doch über den Sinn wie über die Möglichkeit und die Notwendigkeit solcher Treue zu sich selbst ist mit dieser Definition noch nicht befunden. Denn diese Parameter variieren je nach dem Kontext, in den sie gestellt werden. Ich werde im folgenden drei solcher Kontexte unterscheiden: den metaphysischen, den ethischen und den sozialtheoretischen Kontext. (Weiterlesen)
Fußnoten
↑1 | Vgl. J. Mai: Authentizität: Die Kunst [,] authentisch zu sein. www.karrierebibel.de/authentizitaet (Stand 2013) |
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↑2 | Röttgers/Fabian: Art. Authentisch. HWPh 1, Sp. 691 |
↑3 | Vgl. ebd. |
↑4 | Im Hinblick auf den Bedeutungsaspekt ‚maßgebend‘ ist nicht einsichtig, inwiefern die Verwendung des lateinischen Adjektivs für das Original einer Handschrift im Gegensatz zur Abschrift, dem exemplarium, eine zweite Bedeutung konstituieren soll, wie Röttgers/Fabian annehmen. Der ursprünglichen Handschrift, dem Original, kommen eben Autorität und Maßgeblichkeit bzw. Maßstäblichkeit zu, an denen die Qualität der Abschriften gemessen wird. |
↑5 | Vgl. zu den genannten Verwendungen den Übersichtsartikel Authentizität in Wikipedia. |