Rezension des Sammelbands Ästhetik der Unterwerfung, herausgegeben von Werner Seppmann (Laika-Verlag Hamburg, 2013; 244 S., 21 €)1)Erstveröffentlicht auf dem Blog Café Noir. Alle Bilder außer das Buchcover stammen von mir.
Mein Besuch der Documenta im August 2012 war ein erinnerungswürdiges und äußerst inspirierendes Erlebnis. Mit einem Zelt ausgestattet ermöglichte es mir die Integration des Occupy-Camps in den Ausstellungsbetrieb, dort einige recht sorglose Tage zu verbringen, die ich schlendern, betrachtend und reflektierend zubrachte. Eine Art Atempause im Alltagstrott, eine Gelegenheit, sich wirklich intensiv mit dem Stand der Kunst der Gegenwart auseinanderzusetzen. Einige Impressionen davon finden sich in der diesen Beitrag ergänzenden Photostrecke.
Von allen Fragen, die während dieser Zeit aufkamen, war die entscheidende – und dies sicherlich im Sinne des Ausstellungskonzepts –, wo eigentlich die Grenzen zwischen Kunst und ‚normaler Welt‘ verlaufen, wenn teilweise gar nicht mehr klar ist, ob ein gesehenes Objekt nun ein Werk oder nur ein ‚gewöhnliches Ding‘ ist, wenn selbst die Grenzen zwischen künstlichen und intendierten Gegenständen brüchig werden und zerfließen. Das Occupy-Camp selbst ist dafür vielleicht das beste Beispiel: Wurde es durch seine Duldung durch die Kuratorin zum ‚ready-made‘ gemacht, also zum Kunstwerk? Und was wurde unter dieser Prämisse zu seinem eigenen Selbstverständnis, ein zunächst politisches Projekt zu sein? Kann man in diesem Sinne mit Guy Debord nicht von einer gelungenen „Rekuperation“ sprechen – also der Integration und dadurch Unschädlichmachung eines ursprünglichen radikalen Impulses durch die Herrschenden?
Noch drängender wird diese Frage durch den oft geradezu provozierend banalen Charakter vieler ‚Werke‘. Dahingekritzeltes und Flüchtiges dominierte weite Teile der Ausstellung. Ein Komposthaufen, ein Hund mit rosa angemaltem Bein (diese Bemalung das einzige, was ihn als Teil des Kunstwerks kenntlich machte), ein Lufthauch mit dem Titel „I Need Some Meaning I Can Memorise (The Invisible Pull)“, der einem am Eingang des Fridericianums entgegenwehte (dieser freilich technisch sehr aufwändig realisiert vom Künstler Ryan Gander) … Ein ‚Werk‘ war etwa nichts als der Brief eines Künstlers, in dem er sich bei der Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev dafür entschuldigte, in diesem Jahr keine Arbeit zur Documenta beisteuern zu können. Ein anderer Ausstellungsraum war ein vom Physikprofessor Anton Zeilinger gestaltetes Infocenter zu Problemen der gegenwärtigen Physik. Man musste auch in dieser Hinsicht an Guy Debord und seiner Diagnose vom „Ende der Kunst“ denken: In der Gesellschaft des Spektakels funktioniert Herrschaft durch eine umfassende Ästhetisierung der Lebenswelt – umgekehrt verliert die Kunst als abgetrennte Sphäre in dem Augenblick ihre Existenzberechtigung, in dem historisch die Verwirklichung der Kunst in einer befreiten Gesellschaft, dem Kommunismus, anstehen würde. Die Documenta hatte in diesem Sinne etwas Ernüchterndes, geradezu Enttäuschendes: Es gibt keine Kunst mehr und einem guten Teil der Ausstellung merkte man nur allzu sehr an, dass es um nichts als Kulturtourismus für das genug betuchte und gebildete Bürgertum ging. Ganz in diesem Geist schaffte es sogar der erklärte Anti-Künstler Francesco Matarrese in das so definierte ‚Herz‘ der Ausstellung, das „Brain“ im Fridericianum mit einem programmatischen Manifest, das aus einer durchaus marxistischer Perspektive die Absage an jedes künstlerische Schaffen unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen ausspricht.
Diese Tendenz könnte man mit Debord nun freilich sogar gut heißen: Es wird kenntlich gemacht, dass an der ‚hohen Kunst‘ nichts zu retten ist, dass es sich dabei um eine überkommene Form handelt. Selbst wenn diese Kenntlichmachung in einer selbst „spektakulären“ Form geschehen mag, verweist sie so doch auf eine utopische Gesellschaft, in der Kunst und Leben nicht mehr entfremdet, sondern vereint wären. Eine Gesellschaft, wie sie im postmodernen, spektakulären Kapitalismus bereits in negativer Form realisiert ist.
An Adorno anknüpfend könnte man diesen Gedanken sogar dahin gehend zuspitzen, dass sein Diktum, alle Kultur nach Auschwitz sei Müll, der Leitsatz der Documenta 2012 gewesen sein könnte: Die natürlich gewachsenen Müllberge und die von Künstlern geplante unterscheidet nichts als die Auflistung der letzteren im Ausstellungskatalog. Und auch die Beiträge in diesem nehmen sich mitunter – im Falle der Statements der Kuratorin ist dies oft bemerkt worden – wie freie Assoziationsübungen aus, die den Namen ‚Theorie‘ kaum verdienen, soll damit irgendwas Substantielles gemeint sein.
Ist es also vergebens, sich weiterhin überhaupt um die Kunst zu bemühen – sollte man endlich anfangen zu leben? Doch wie, wenn, nach Adorno, nicht einmal das Leben lebt?
Diese und ähnliche Überlegungen werfen zahlreiche Fragen und so war ich geradezu begeistert, als ich durch puren Zufall beim Herumstöbern auf der Internetseite des Laika-Verlags auf den zu besprechenden Band stieß. Auf eine umfangreiche kritische Analyse der Documenta, zu der ich mich selbst außerstande sah, hatte ich schon lange gewartet und hier schien sie nun endlich vorzuliegen.
Es ist nun immer so eine Sache mit allzu großen Erwartungen. Ich kann bereits im Vorhinein erklären, dass sie sich auch in diesem Fall nicht erfüllten. Doch beginnen wir mit einer Inhaltszusammenfassung: Der Sammelband enthält vier Beiträge, wobei das Schwergewicht auf den Beiträgen des Herausgebers Werner Seppmann und dem Essay von Thomas Metscher liegt. Beide sind jeweils um die 100 Seiten lang, der Sammelband hat insgesamt 241. Die restlichen 40 Seiten füllen ein Beitrag von Heike Friauf, in der sie die Documenta aus feministischer Perspektive beleuchtet, und ein Interview mit dem Künstler Thomas J. Richter.
Die Beiträge von Seppmann verhandeln direkt die Documenta. In ihnen zeigt er auf, was auch mein Eindruck war, nur in einem anderen theoretischen Rahmen: Aus einer dezidiert kulturkonservativen Perspektive kritisiert Seppmann die Documenta als Verfallsphänomen, gegen das er jedoch nicht die Forderung nach einer Aufhebung der Kunst wie Debord in Anschlag bringt oder der Geschichtsphilosophie Adornos folgt, sondern das Ende der großen Kunst als Verlust beklagt. Genauer: Die Documenta 2012 markiere einen Gipfelpunkt des seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Kulturzerfalls, den er mit dem Stichwort ‚Irrationalismus‘ betitelt. Urheber dieser irrationalistischen Bewegung in Kunst und Philosophie sei Friedrich Nietzsche, gegen sie sei die von Marx in der Tradition der Aufklärung entwickelte historisch-materialistische Weltanschauung und der ihr korrespondierende sozialistische Realismus hochzuhalten. Es verwundert so nicht, dass für Seppmann große Teile der Kunst der Moderne als Zerfallsprodukte zu interpretieren sind. Dieser fortschreitende Zerfall im Geistigen reflektiert den im Sozialen: Seppmann rekurriert hier auf Lenins Imperialismus-Begriff, nach dem der Imperialismus das letzte Stadium des Kapitalismus vor seinem Ende darstelle, seine letzte Fäulnis-Stufe.
Seppmann gelingt es in seinem sehr gut lesbaren polemischen Stil hervorragend, die Schwächen der Documenta 2012 zu entlarven und auf die Oberflächlichkeit gerade der dort präsentierten ‚politischen Kunst‘ aufzuzeigen. Diese beschränkt sich nämlich in der Tat oft darauf, bloße Verweise auf irgendwelche ‚Probleme der Zeit‘. Kaffeebohnen aus Afrika sollen auf die Ausbeutung der ‚Dritten Welt‘ verweisen, Kondome auf die AIDS-Krise, Geldnoten aus aller Welt auf die Finanzkrise etc. pp. Zum Nachdenken angeregt oder in seinem Weltbild erschüttert wird durch diese Art der Referenzialität niemand. Nicht zuletzt dieses Phänomen arbeitet Seppmann sehr klar und scharf heraus.
Metscher bläst in seinem Essay in dasselbe Horn, wenn auch – was doch etwas verwundert angesichts des Titels und Anspruchs des Sammelbands – nicht mit Bezug auf die Documenta: Er analysiert ganz allgemein aus der gewählten marxistischen Perspektive die Kulturgeschichte der Moderne als Kulturgeschichte des Imperialismus. Als positives Gegenbeispiel führt er das Werk Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss an, dass er sehr ausführlich vorstellt. So interessant gerade diese Vorstellung ist, so irritiert sie doch wiederum angesichts des Anspruchs des Sammelbands: Es handelt sich schließlich um ein literarisches Werk. Zudem wird es als exemplarisches Werk „unserer Zeit“ (S. 197) eingeführt, das Metschers Kriterium einer realistischen, Erkenntnisse über die gesellschaftliche Lage produzierenden und zum Widerstand gegen den Kapitalismus anregenden Kunst gerecht wird. Nun ist der dritte Band der Ästhetik des Widerstands 1981 erschienen. Ob ein mehr als 30 Jahre altes Buch noch als Exempel einer progressiven Kunst „unserer Zeit“ herhalten kann, erscheint mir fraglich.
Die Texte der beiden sind jeweils sehr lesenswert und beinhalten viele wichtige Gedanken, die man heutzutage kaum anderswo findet. Postmoderne wie Moderne werden einer minutiösen und begrifflich scharf fundierten Fundamentalkritik unterzogen. Während Seppmann eher die Rolle des polemischen Haudegens zukommt, bietet Metscher eine umfangreiche, sehr nüchtern geschriebene theoretische Darstellung seines ästhetischen Ansatzes.
Dennoch bleiben sie unbefriedigend. Der Hauptgrund dafür ist der Dualismus, der ihr Denken leitet, insbesondere der zwischen Rationalismus und Irrationalismus. So sehr sich beide auch um Differenzierungen bemühen, halten sie diesen Gegensatz, verbunden mit einer klaren zugleich politischen, moralischen, theoretischen und ästhetischen Wertung, doch ganz dezidiert aufrecht. Dagegen wäre zunächst zu argumentieren, dass zumindest zwischen einem positiven und einem negativen Irrationalismus zu differenzieren wäre. Dieser muss seiner eigenen Verfahrensweise nach nicht ‚irrationalistisch‘ sein, sondern als strikt immanente Kritik des Rationalismus auftreten: Mit den Mitteln der Vernunft werden ihre Grenzen kritisch ausgewiesen. (Man denke hier etwa an Husserls oder Merleau-Pontys Arbeiten zur Wissenschaftskritik.) Im positiven Irrationalismus würde es darum gehen auszuloten, inwiefern ein Denken oder Handeln jenseits der Grenzen der Vernunft denkbar wäre. Hier wäre ein Abdriften in einen haltlosen Mystizismus tatsächlich möglich. Und bei all dem gälte es zu bedenken, was man überhaupt unter ‚Vernunft‘ versteht.
Der Komplexität dieser Problemlage werden Seppmann und Metscher nicht gerecht und ersetzen die Reflexion durch letztendlich bloß moralisch-politische Stellungnahmen für ‚die Vernunft‘ oder ‚die Humanität‘. Die eigentlich interessante Frage wäre jedoch, inwiefern die, etwa durch Nietzsche, aber auch viele andere, geübte Kritik an der westlichen Lebens- und Denkform nicht Wahrheitsmomente beinhaltet, denen man sich erst einmal stellen müsste, anstatt sie unter dem Verweis auf vermeintliche Evidenzen vom Tisch zu wischen.
Nietzsche und viele andere Denker und Künstler versuchen aufzuzeigen, dass sich die moderne Lebenskultur durch entscheidende Pathologien auszeichnet, die gerade in der allgegenwärtigen Rationalität liegen. Unter ‚Rationalität‘ wird dabei eine Denk- und Praxisform verstanden, in der sich der Mensch als Subjekt der äußeren wie der inneren Natur distanzierend entgegenstellt, um sich als Herrscher über sie zu konstituieren. Diese Form kann man auch als ‚metaphysisch‘ bezeichnen. Die tiefere Einheit von Mensch und Natur, Seele und Leib, werde dabei verkannt und das menschliche Leben verarme. Die Menschen werden zu Arbeits- und Denktieren erzogen und um den Genuss ihrer Sinnlichkeit gebracht. Nicht nur ihr Leben, sondern auch das Denken entleere sich dadurch und werde unwahr: Nietzsche etwa versucht aufzuzeigen, dass die herrschende naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt nur einen bestimmten Aspekt derselben zeige, die Natur in Wahrheit viel reicher sei, wenn man sich nur wirklich sinnlich-leiblich auf sie einlasse. Für Nietzsche und viele andere bietet die Kunst eine Möglichkeit, diese pathologischen Tendenzen auszugleichen und ein konkretes Jenseits der Vernunft leb- und erkennbar zu machen. In diesem Sinne wäre ein großer Teil der modernen und postmodernen Kunst auch in der Tat zu interpretieren – und die Kuratorin verortet sich ja selbst in diesem Denkstrang.
Man kann den Gegensatz zuspitzen in der Frage, ob das grundsätzliche Problem unserer Lebenswelt ein ‚zu viel‘ oder ein ‚zu wenig‘ an Rationalisierung sei. Jede simple Antwort auf diese so entscheidende Frage scheint sich mir um die wahre Reichweite der Problematik herumzudrücken, so auch die von Seppmann und Metscher. Das Problem für diese ist allerdings, dass die Vernunftkritik auch eine Herausforderung für den Marxismus darstellt: Ist nicht etwa der Traum von einer großen Revolution, in der sich der Mensch endgültig von allen naturgegebenen Fesseln befreit, nicht nur die extreme Fortsetzung der abendländischen Metaphysik? Haben nicht alle großen Revolutionsversuche, die an diesem Paradigma anknüpfen, nicht genau sein Scheitern gezeigt – nicht zuletzt die bürgerlichen Revolutionen?
Demgegenüber könnte man einer „Ästhetik der Unterwerfung“ sogar etwas Positives abgewinnen. Sicherlich nicht Unterwerfung im Sinne der Unterwerfung unter diese oder jene Macht, sondern im Sinne einer bejahenden Anerkennung der Grenzen des Subjekts. Diese Unterwerfung scheint sogar der genau richtige Gegenbegriff zum allgegenwärtigen Männlichkeits-, Herrschafts- und Souveränitätswahn zu sein, mit dem sich die Menschheit seit Jahrtausenden von einer Sackgasse in die nächste peitscht. Ist in jeder gelungenen Kunstrezeptions und –produktionserfahrung, so bewusst und subjektiv kontrolliert sie sich auch vollziehen mag (und muss), nicht immer ein Moment der Unterwerfung enthalten? Ich gebe meine eigenen Projektionen, Wünsche, Erwartungen etc. auf, ich verliere mich im Gegenstand. Ich lasse mich im Produzieren nicht mehr von meiner eigenen Willkür lenken, sondern es gibt etwas im Material selbst, das mich zieht, das mir bestimmte Nuancen diktiert. Ist diese Erfahrung nicht grundlegend für einen gelingenden Weltbezug (zur Natur, zu mir selbst, zu anderen) überhaupt?
Andererseits ist klar, dass es eine alltäglich erfahrene gesellschaftliche Irrationalität gibt, die es zu bekämpfen gilt und eine Unterwerfung unter die nur neue Pathologien erzeugt, nicht die Lösung des Problems sein kann. Es kann jedoch gerade vom Standpunkt einer sich unter dem Anderen öffnenden Haltung der ‚Unterwürfigkeit‘ etwa nicht akzeptabel sein, wenn etwa zahlreiche Menschen in Hunger und Elend leben, während gleichzeitig unglaubliche gesellschaftliche Ressourcen für luxuriöse Großprojekte verschwendet werden. Die Sensibilität für solche simplen Einsichten zu verstopfen scheint gerade der ‚Verdienst‘ der ‚Vernunft‘, nicht der Unvernunft zu sein, sofern es sich bei der ‚Vernunft‘ eben um ein von allen konkret-leiblichen Bedürfnissen abgetrenntes isoliertes Reich handelt.
Vielleicht muss sogar die Revolution, sofern dieser Begriff im Zeitalter permanenter Umwälzungen der Lebenswelt im Interesse internationaler Konzerne, nicht als Akt der Ermächtigung der Subjekte, sondern vielmehr als Unterwerfung gedacht werden. Eine Unterwerfung, die sich aus der durchaus vernünftigen Einsicht speist, dass es zwecklos ist, gegen Leib und Natur anzukämpfen, dass das Projekt der ‚Befreiung‘ der Menschheit einen Punkt erreicht hat, an dem die Mittel dieser Befreiung in Mittel der Unfreiheit umschlagen. Wirkliche Freiheit wäre gerade die Freiheit, sich unterwerfen zu können (womit die subjektive Fähigkeit und die objektive Möglichkeit gemeint ist!).
Es ist so wenig verwunderlich, dass die Autoren des Sammelbands eine Kunstrezeptions und –produktionspraxis favorisieren, in dem jenes Moment des kontingenten Gelingens, das nicht zuletzt Nietzsche in seiner Ästhetik so betont, getilgt ist. Der bürgerliche Geniebegriff mag aus anderen Gründen zu kritisieren sein – er bewahrte zugleich jenes Naturmoment im künstlerischen Schaffen, das, was in der Kunst mehr als bloße Arbeit ist wie im Alltag sonst auch. Er ist genau falsch, weil ‚das Genie‘ dem ‚Normalmenschen‘ als Ausnahme gegenüberstellt und so einen eigenartigen Aristokratismus im Reich des Ästhetischen etabliert. Es wäre demgegenüber genau daran zu erinnern, dass jeder Mensch ein ‚Genie‘ ist und jeder menschlichen Praxis jenes Moment des kontingenten Gelingens innewohnt. Die Kunst, umfassender gedacht, wäre somit das Muster eines gelungenen Verhältnisses von planhaftem Tun und kontingentem Gelingen: Beides muss vorhanden sein, wobei dem kontigentem Gelingen ein gewisses strukturierendes Primat zukommt. In der Erfahrung der Kunst wird so ein alternatives Subjektmodell sichtbar, dass die Extreme von Rationalismus und Irrationalismus gleichermaßen vermeidet: Sowohl die Ratio als auch die Sinnlichkeit haben ihr Recht. Doch erst die sinnliche, d.h.: die sich an den Sinnen orientierende, sich den Sinnen unterwerfende und hingebende, nicht vergebens entgegenstemmende Ratio kann ihr volles Potential entfalten – ein ‚Potential‘ nicht im Sinne eines besonders hohen ‚Outputs‘, sondern einer gelingenden Praxis. So, wie ein gelungenes Kunstwerk nicht deshalb gelungen, weil es besonders effektiv oder brauchbar ist, sondern weil es in sich die konkrete Vermittlung eines authentischen Impulses und einer diesen Impuls aufbewahrenden technischen Ausführung ist. Das Leben müsste demgemäß wie die Kunst sein – erst dann kämen die Kunst wie auch das Leben zu ihrem Recht.
Die Lösung muss also sein, in irgendeiner Form eine Vermittlung von ‚Rationalismus‘ und ‚Irrationalismus‘ aufzuzeigen, nicht in dieser Dichotomie zu verharren. Von Guy Debord und Adorno – die der ästhetischen Moderne auf je unterschiedliche Art und aus unterschiedlichen Gründen sehr positiv gegenüberstanden – wurden etwa wichtige Schritte in dieser Richtung unternommen. Während jener in dem Sammelband trotz seiner zentralen Stellung, die mittlerweile selbst von bürgerlichen Theoretikern anerkannt wird, kein einziges Mal erwähnt wird, dient Adorno zwar oft aus positiver Bezugspunkt – was angesichts der großen inhaltlichen Differenzen zwischen den Thesen der Autoren und Adornos jedoch sehr verwundert. Hier soll wohl eine Einheit der verschiedenen marxistischen Denkschulen suggeriert werden, die es de facto nicht gibt, gerade im Bereich der Ästhetik.
Eine zentrale Differenz ist hierbei die Stellung zur ästhetischen Moderne. Wie erwähnt wird diese von den Autoren des Sammelbands in weiten Teilen verworfen und als Dekadenzphänomen abgetan. Sie vertreten quasi die genaue Gegenposition zu dem gegenwärtig hegemonialen Kunstdiskurs, in dem die zunehmende Abstraktion als entscheidender Grundzug der modernen Kunst herausgearbeitet wird, quasi als Höhepunkt der künstlerischen Entwicklung des Abendlands. Dieser Diskurs ähnelt in der Tat der Abstraktheit der von ihm favorisierten Werke: Entgegenläufige realistische Strömungen werden gar nicht erst zur Kenntnis genommen oder als irgendwie naiv oder rückschrittlich abgetan. In der Gegenwart wird letztendlich nur Kunst anerkannt, die in irgendeiner Weise in das Narrativ der Zerstörung und Grenzüberschreitung der Kunst passt.
Dies führt nun direkt auf die eingangs gestellte Ausgangsüberlegung: Soll die Kunst abgeschafft oder gerettet werden? Und wenn letzteres: Welche? Seppmann und Metscher verweisen zu Recht darauf, dass die einzige wirkliche Daseinsberechtigung von Kunst als Kunst in ihrer Erkenntnisfunktion liegt. Hier muss man nun freilich fragen, was man jeweils unter Erkenntnis versteht und welche Rolle man der Kunst dabei zubilligt. Für Seppmann und Metscher soll Kunst, etwas polemisch formuliert, Erkenntnisse generieren, die der marxistischen Theorie und der sozialistischen Politik und Moral entsprechen. Kunst wird so antimodernistisch zur Magd von Moral, Politik und Theorie degradiert. Die Kunst wird in ihrem eigentlich radikalen Potential so gar nicht ernst genommen – dieses Potential liegt genau darin, dass sich die Kunst in einem relativen ‚Jenseits‘ von Geschichte, Theorie, Politik, Moral etc. bewegt. Sie geht auf Tuchfüllung mit dem, was nicht im rationalen Treiben aufgeht, dieses jedoch konstitutiv fundiert: Materie, Natur, Leib, Sinnlichkeit … Die Erkenntnisse, oder vielleicht besser: Erfahrungen, die gelungene Kunstwerke aufzeigen, verweisen auf genau jenen „Urgrund“ (Schelling), zeugen vom „Unbehagen in der Kultur“ (Freud). Gute Teile der modernen und postmodernen Kunst lassen sich genau in diesem Sinne verstehen: In der Malerei etwa wird seit den Impressionisten eine Welt der Farben aufgezeigt, die die rationale Welt der Formen und Inhalte transzendiert, die ursprünglicher ist als jene. Es ist ein Schwelgen in den Farben, das wie der utopische Vorschein eines kommenden Schwelgens in der Sinnlichkeit wirken kann.
Allerdings führt eine allein ‚irrationalistische‘ Kunst in diesem Sinne in der Tat in eine Sackgasse: Die Kunst mündet genau in eine platte Mystik der Farben, die zwar oft inspirierende und fast schon quasi-religiöse, sprachlich kaum vermittelbare Erfahrungen generieren kann, in dieser Einseitigkeit jedoch auch seltsam leer, nivelliert und langweilig wirkt. Monets Gartenbilder etwa sind in ihrer Hingabe an Farbe und Licht wirklich sehr radikal – gelungener wirken jedoch etwa die Arbeiten Manets, der die impressionistische Technik mit der Darstellung konkreter Menschen und historischer Situationen kombiniert. Während Monet aus der Geschichte in seinen Garten flieht, stellt sich Manet seiner Gegenwart – er macht Kunst in der Geschichte, die die Geschichte zugleich jedoch auch transzendiert.
Worauf es ankäme, wären also Kunstwerke, die weder vor der Geschichte in ein ungreifbares Nichts fliehen noch sich dieser willenlos hingeben, sondern die Treue zur Sinnlichkeit bewahren. Oder genauer: Der Zwiespalt zwischen Ratio und Emotio, Geschichte und Materie drückt genau den Zwiespalt unserer Lebenswelt aus. Kunstwerke sind umso gelungener, umso authentischer, je genauer sie sich auf diesen Zwiespalt beziehen und eine Position in ihm zu ihm entwickeln. Genauso, wie sich jeder Mensch in seinem Leben auf diesen Zwiespalt beziehen und in ihm zu ihm verhalten muss. Eine Versöhnung dieses Zwiespalts ist in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht als dauerhafte denkbar (selbst wenn es Momente der Versöhnung im Naturerlebnis oder gelungener intersubjektiver Interaktion geben mag) – sie kann jedoch unter Umständen in ästhetischer Praxis antizipiert werden. Genau das ist die Aufgabe der Kunst, um die es gehen sollte. Metschers und Seppmanns Position kommt in diesem Rahmen ein relatives Recht zu genauso wie den Verfechtern der Abstraktion – dennoch ist festzuhalten, dass die Verfechter der Abstraktion das Eigentliche der Kunst, die Sinnlichkeit, besser greifen als Metscher und Seppmann. Ein Kunstwerk vereinigt stets Sinnliches und Geistiges, doch das Sinnliche ist das Primäre. Ein Werk, das das Geistige gänzlich abwirft und sich in der Sinnlichkeit verliert mag noch immer eine interessante Arbeit sein – eines ohne Sinnlichkeit ist kein Kunstwerk mehr. Metscher und Seppmann verfallen dem alten Problem jeder rationalistischen Ästhetik, warum es der Kunst überhaupt bedarf, wenn sich doch theoretische Einsichten ohne die störende Sinnlichkeit viel direkter vermitteln ließen. Wozu bedarf es des Umwegs der Kunst?
Die Kunst beweist so geradezu die Unwahrheit des Rationalismus – und die Wahrheit des Sinnlichen, die diesem ein Gräuel ist. Die Kunst ist ein Stachel im Fleisch der metaphysischen Zivilisation – und genau als solche brauchen wir sie. Es gibt eben nur solche, die als Trost fungiert, als Ausgleich von der Pein des praktischen Rationalismus – und solche, die wirklich auf eine Weltveränderung, auf eine Verschiebung des Verhältnisses von Geist und Materie hinweist. Die etwas im Subjekt aufbricht und ihm Impulse dazu gibt, sein Welt- und Selbstverhältnis in Frage zu stellen. Die es zur ‚Unterwerfung‘ animiert. Nur letztere ist gültig und wird auch weiterhin eine Zukunft haben. Vom Standpunkt der ‚großen Kunst‘ wie Seppmann und Metscher sie unkritisch affirmieren, die in ihrer ‚Größe‘ stets Komplizin der Ratio war (Kult des ‚großen Künstlers‘, einengende Kompositionsprinzipien, Ästhetik der Macht …) aus gesehen mag sie eine Verfallsform sein – und sie muss aus sich selbst heraus auf ihr eigenes Ende, ihre eigene Unwahrheit hindeuten, um wahr sein zu können.
Arbeiten, die sich an diesem Anspruch messen lassen, gab es auf der Documenta durchaus zuhauf. Wenn etwa ein lebendiges, eigengesetzlich handelndes Wesen wie ein Hund Teil eines Werks wird, wenn dieses Werk zudem aus eigenmächtig wuchernden Pflanzen besteht, bricht das den traditionellen Kunstbegriff auf und verweist auf ein anderes Verhältnis zwischen Produzent, Rezipient und Werk, in dem der Zufall bei aller Planung ein konstitutives Eigengewicht erhält. Ich fand diese Arbeit des Künstlers Pierre Huyghe durchaus eine der gelungensten der Ausstellung.
Sicher ist die Tendenz zum reinen Schwelgen in der Kontingenz nicht einseitig positiv zu bewerten. Doch, wie eingangs angedeutet, ließe sie sich etwa mit Guy Debord, aber auch mit Adorno, der den Zerfall des Werk-Charakters der ‚Werke‘ ja keinesfalls nur negativ sah, sondern in ihm auch die Möglichkeit eines Besseren erblickte, auch nuancierter interpretieren als es Seppmann und Metscher tun. Bei aller notwendigen Kritik enthält das Anliegen der Documenta 2012 so ein wichtiges Wahrheitsmoment bezüglich der Kernprobleme unserer Lebenswelt, das es anzuerkennen gilt.
Der kurze Beitrag von Heike Friauf nimmt sich demgegenüber sehr bescheiden aus. Sie macht in ihrem Aufsatz jedoch einen wichtigen und klar am empirischen Material herausgearbeiteten Punkt, in dem sie auf die weiterhin bestehende Diskriminierung der Frauen nicht zuletzt im Kunstbetrieb hinweist, die auch in dieser, zum ersten Mal von einer Frau, die sich zumal dezidiert als Feministin versteht, geleiteten Documenta reproduziert wurde. Dies macht sie nicht nur an der statistischen Unterrepräsentation der Frauen fest, sondern auch an der inhaltlichen Ausrichtung der Ausstellung. In der Tat wurde trotz des feministischen Anspruchs der Kuratorin das Thema Feminismus auf der Documenta trotz seiner nach wie vor ungebrochenen lebensweltlichen Relevanz kaum behandelt. Wen nimmt das Wunder, wenn diese tatsächlich davon schwadroniert, dass Hunde „die neuen Frauen“ seien (SZ 31. 5. 2012; zit. nach S. 184)?
Allerdings muss man dem Sammelband an dieser Stelle eines performativen Widerspruchs bezichtigen: Alle anderen Autoren sind Männer, in ihren Essays wird das Thema Feminismus nur in Randnotizen erwähnt. Einer Frau werden ein paar Seiten eingeräumt, um auch noch auf dieses Thema hinzuweisen. Und das, obwohl Heike Friauf etwa auch einige sehr interessante Anmerkungen zur auf der Documenta so weit verbreiteten Gartenkunst macht, über deren Vertiefung man sich gefreut hätte.
Die vertiefte Auseinandersetzung mit Patriarchat, Sexismus, Heteronormativität etc. und dem Zusammenhang dieser Formen mit Kapitalismus, Ausbeutung der Natur etc. hätte dem Sammelband nicht zuletzt deswegen gut getan, weil gerade in der Verschränkung dieser Probleme die Relevanz der Rationalismuskritik besonders kenntlich wird. Die Rationalität konstituierte sich schließlich stets als männliche, eine dem Sinnlichen näher stehende Lebensweise wurde als weiblich diffamiert und abgespalten (gleichzeitig auch zum Objekt des Begehrens und der Verehrung gemacht – was die Spaltung jedoch eher festigt als wirklich in Frage stellt). Eine nicht verkürzte Kritik am Patriarchat scheint ohne eine Kritik am westlichen Rationalitätsmodell überhaupt nicht zu haben zu sein. Die randständige Rolle des Feminismus in dem Sammelband dürfte also als mehr als nur ein Zufall zu bewerten sein, sondern verweist ein weiteres Mal auf die Unfähigkeit des von den Autoren gewählten Ansatzes, sich den drängenden Problemen unserer Lebenswelt adäquat zu nähern. Sie fallen hinter Nietzsche zurück.
Das schließlich mit dem Maler Thomas J. Richter geführte Interview wirkt gegenüber den anderen Beiträgen wie angeklebt. Bemühen sich die anderen Beitragenden bei aller Polemik doch um eine gewisse Ausgewogenheit, scheint es dem Künstler erlaubt zu sein, alle Hemmungen fallen zu lassen und sich einfach mal seinen politischen Frust von der Seele zu reden. Es bleibt denn auch beim bloßen Meinen – eine Besprechung dieses höchst kuriosen Beitrags ist der Mühe nicht wert.
Der Sammelband enttäuscht so vor allem dadurch, dass von dem eigentlichen Gegenstand, der Documenta 2012, kaum die Rede ist. An die Stelle sachhaltiger Analysen am Material treten politische Stellungnahmen, das Ausbreiten der eigenen Theoriegroßentwürfe. Das kann man machen, dann hätte man den Sammelband freilich anders etikettieren müssen. Anstatt sich auf die Documenta wirklich einzulassen, haben die Autoren diese größtenteils, in sehr rationalistischer Manier, nur als Anlass genommen, ihr schon von vorneherein feststehendes Gedankengebäude ein weiteres Mal zu bestätigen.
Mir sind die Schwächen des herrschenden Kunstbetriebs von dem Sammelband durchaus vor Augen geführt worden und ich habe bei der Lektüre einiges dazugelernt. Trotzdem fand ich die Leitlinie zu einseitig und bin im Ergebnis unbefriedigt. Ihre Kritik an der Documenta hat nur ein relatives Recht. Sie übersehen das in einem durchaus wahren Sinn Radikale, das Kurationskonzept wie einer Vielzahl der Werken innewohnt. Zu Recht weisen sie jedoch auf die Tendenz zum Abgleiten in einen letztendlich gefälligen Mystizismus hin. Wenn etwa, wie in den diversen Statements der Kuratorin zu dem Thema, der Begriff des Menschen nivelliert und Tieren und Pflanzen gleichgestellt wird, verweist das zu Recht auf die Gleichheit allen Lebens, die der rationale Mensch verdrängen muss. Falsch wird diese Einsicht freilich, wenn sie absolut gesetzt wird. Vermöge seiner Ratio unterscheidet sich der Mensch schließlich von Tier und Pflanze durchaus und diese Ratio ist nicht einfach nur das Schlechte, sondern ermöglicht es dem Menschen erst, auf dieser Welt zu leben. Der Verherrlichung der Irratio wohnt zudem tatsächlich die Gefahr inne, in eine Akzeptanz der herrschenden Irrationalität umzuschlagen. Diese Paradoxien gilt es zu reflektieren, nicht, sie durch das Schlagen auf die eine oder die andere Seite scheinhaft aufzulösen. Genau daran hat es ebenso auf der Documenta wie in dem Sammelband gemangelt.
Allerdings hat mir – wovon diese Rezension zeugen sollte – die Auseinandersetzung mit dem Sammelband wenigstens geholfen, meine eigenen Position zu den Fragen der Ästhetik der Gegenwart zumindest etwas zu klären. Die starken Thesen des Bandes lassen schließlich kaum eine indifferente Haltung zu, sie laden zur eigenen Positionierung und Reflexion geradezu automatisch ein. Ein Text, der das vermag, ist nicht der schlechteste.
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