Skip to content

Ein frühes Fragment Nietzsches über das Gelehrtentum

Geschrieben 1873, als Nietzsche noch als Professor in Basel angestellt war.

Man könnte daraus einen Persönlichkeitstest für Akademiker und deren Nachwuchs machen: Welcher Typ von Gelehrte bist Du?

Allerdings würden die wenigsten das Ergebnis bei Facebook posten. (Das wären dann jedenfalls in Sachen Ehrlichkeit sehr konsequente Gelehrte, die Nietzsche wahrscheinlich schätzen würde.)

 

Der Gelehrte.

 

1. Eine gewisse Biederkeit, fast nur Ungelenkigkeit zur Verstellung, zu der einiger Witz gehört. Überall wo dialektische Advocatenmanier da ist, mag man auch in Betreff dieser Biederkeit Zweifel haben und auf seiner Hut sein. Es ist bequemer, in adiaphoris die Wahrheit zu sagen, es entspricht einer gewissen Trägheit. Gegen das copernikanische System z.B. machte gerade die Biederkeit Opposition, weil es dem Augenschein widersprach: Augenschein und Wahrheit fällt aber für die trägen Geister zusammen. Auch der Hass gegen die Philosophie bei den Gelehrten ist vor allem Hass gegen die langen Schlussketten und die Künstlichkeit der Beweise: die Bewunderung des Scharfsinns ist mit Furcht verbunden, und im Grunde hat jede Gelehrtengeneration ein Maass für den erlaubten Scharfsinn: was darüber hinaus ist, wird abgelehnt.

2. Scharfsichtigkeit in der Nähe mit grosser Myopie in die Ferne und in das Allgemeine. Das Gesichtsfeld sehr klein und die Augen werden sehr nahe heran gehalten. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem neuen, so rückt er den ganzen Sehapparat zu jenem Punkte: er zerlegt ein Bild, wie durch Anwendung eines Opernglases, in lauter Flecke. Sie alle sieht er nie verbunden, sondern berechnet nur ihren Zusammenhang: deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurtheilt z.B. eine Schrift, die er im Ganzen nicht zu überschauen vermag, nach einem Flecken aus dem Bereiche seiner Studien: er würde nach seiner Art zu sehen zuerst behaupten müssen, ein Oelgemälde sei ein wilder Haufen von Klexen.

3. Normalität seiner Motive, Nüchternheit, insofern zu allen Zeiten die gemeineren Naturen und somit die Masse von gleichen Motiven geleitet worden ist. Diese wittert er heraus. In einem Maulwurfsloch findet sich der Maulwurf am besten zurecht. Er ist behütet vor vielen künstlichen und abnormen Hypothesen und vor allem Ausschweifenden und gräbt, wenn er beharrlich ist, alle gemeinen Motive der Vergangenheit, durch seine eigne Gemeinheit, auf. Freilich ist er deshalb unfähig, das Seltne Grosse und Abnorme, d.h. das Wichtige und Wesentliche zu verstehen.

4. Gefühlsarmut befähigt sie selbst zu Vivisectionen. Er ahnt das Leiden nicht, das manche Erkenntniss mit sich führt und fürchtet sich deshalb nicht auf gefährlichstem Bereiche. Das Maulthier kennt den Schwindel nicht. Sie sind kalt und erscheinen deshalb leicht grausam, ohne es zu sein.

5. Geringe Selbstschätzung, ja Bescheidenheit. Sie fühlen, im dürftigsten Studienbezirk, nichts von Vergeudung, selbst nichts von Aufopferung, sie wissen es im tiefsten Grunde, dass sie kriechendes, nicht fliegendes Gethier sind. Darin sind sie oft rührend.

6. Treue gegen ihre Führer und Lehrer; diesen wollen sie helfen und sie wissen wohl, dass sie ihnen am besten mit der Wahrheit helfen. Gegen diese sind sie dankbar gestimmt, weil sie nur durch sie Einlass in die würdigen Hallen der Wissenschaft bekommen haben, in die sie, auf eignem Wege, nie hineingekommen wären. Wer in Deutschland ein Gebiet zu erschliessen weiss, auf dem die geringen Köpfe arbeiten können, ist ein berühmter Mann: so gross ist alsbald der Schwarm. Freilich ist Jedermann aus diesem Schwarm zugleich die Caricatur des Meisters, in irgend einem Sinne: selbst dessen Gebresten erscheinen karikirt, nämlich unmässig gross und übertrieben, an einem viel kleineren Individuum: während die Tugenden des Meisters an eben demselben Individuum proportional verkleinert erscheinen. In so fern ist es eine Missgestalt, und wirkt als solche, wenn sie es aus Treue ist, rührend-drollig.

7. Gewohnheitsmässiges Fortlaufen auf der Bahn, in die man ihn gestossen hat: Wahrheitssinn aus Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit in der einmal angenommenen Gewöhnung. Dies gilt besonders von dem Lernen, das Viele von ihrer Übung im Gymnasium her, wie im Bann einer unentrinnbaren Noth, betreiben. Solche Naturen sind Sammler, Commentatoren, Verfertiger von Indices, Herbarien etc. Der Fleiss derselben entsteht beinahe aus Trägheit, ihr Denken aus Gedankenlosigkeit.

8. Flucht vor der Langeweile. Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss. Seine Tröster sind die Bücher: d.h. er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art unterhalten und über den langen Tag hinweg — unterhalten. Besonders wählt er Bücher, bei denen sein Interesse, sein persönlicher Wille irgendwie aufgeregt wird, wo er ein wenig, durch Neigung oder Abneigung, in Affect gerathen kann: Schriften, wo er in Betracht kommt, oder sein Stand, seine politische oder ästhetische oder grammatische Meinung: hat er erst eine eigne Wissenschaft, so hat er auch ein Mittel, immer wieder interessirt zu werden.

9. Broderwerb. Der Wahrheit wird gedient, wenn sie im Stande ist, zu höheren Stellungen und Gehalten zu verhelfen, wenn durch sie Beförderung bei Höheren erreicht werden kann. Aber eben auch nur dieser Wahrheit wird gedient: weshalb sich eine Grenze für die erspriessliche Wahrheit und die unerspriessliche W<ahrheit> finden lässt. Letztere wirkt nicht zu Gunsten des Broderwerbs und, da sie Mühe und Zeit braucht und diese der ersteren wegnimmt, sogar gegen den Broderwerb. Ingenii largitor venter. Die „Borborygmen eines leidenden Magens“.

10. Achtung bei andern Gelehrten, Furcht vor ihrer Missachtung. Sie Alle überwachen sich eifersüchtig, damit die Wahrheit, an der so viel hängt, Ehre, Broderwerb, Beamtungen, wirklich auf den Namen des Erfinders lautet. Die Achtung vor der Wahrheit, die ein Andrer gefunden, wird gezollt, weil man sie wieder fordert, bei der, die man selbst findet. Die Unwahrheit wird schallend explodirt, damit sie nicht als Wahrheit gelte und Ehren und Titel an sich reisse, die nur der unwiderstehlichen Wahrheit gegönnt werden. Gelegentlich wird auch die wirkliche Wahrheit explodirt, damit wenigstens Platz für andre Wahrheiten, die Anerkennung wollen, geschafft werde. „Moralische Idiotismen, die man Schelmenstreiche nennt.“ „Ausnahmen vom allgemeinen Gewissen.“

11. Der Gelehrte aus Eitelkeit, schon eine seltnere Spielart. Er will etwas ganz für sich haben, wählt deshalb die Curiositäten als sein Forschungsfeld und freut sich, wenn er selbst als Curiosität neugierig betrachtet wird. Er begnügt sich meistens mit dieser Art Ehrbezeigung und gründet nicht seinen Lebensunterhalt auf einen solchen Wahrheitstrieb.

12. Der Gelehrte aus Spieltrieb. Seine Ergötzlichkeit ist, Knötchen zu suchen und sie zu lösen: wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, damit er das Gefühl des Spiels nicht verliert. Deshalb dringt er nicht gerade in die Tiefe, doch sieht er oft etwas, was der Brodgelehrte in seiner stumpfen und mühsam kriechenden Befangenheit des Auges nicht wahrnimmt: er hat doch wenigstens ein Vergnügen an der Wahrheit und ist Dilettant, bildet in sofern sogar den Gegensatz des unlustigen Brodgelehrten, der nur gezwungen und gleichsam unter dem Joche des bezahlten Berufs oder dem Peitschenschlag seiner Beförderungssucht seine Arbeit thut.

(Nachgelassene Fragmente 1873, 29, 13)

Posten Sie ein Kommentar.

Ihre Email-Adresse wird niemals veröffentlicht oder geteilt. Erforderliche Felder sind mit * markiert.
*
*