Und dennoch, unter all den Versuchungen, denen ich heute werde widerstehen müssen, gibt es auch die der Erinnerung: zu erzählen, was das für mich und meine Generation gewesen ist, die Erfahrung des Marxismus, die wir ein ganzes Leben lang geteilt haben, die gleichsam väterliche Figur Marx, seine Auseinandersetzung mit anderen Abstammungen in uns, die Lektüre der Texte und die Interpretation einer Welt, in der das marxistische Erbe durch und durch bestimmend war, noch ist und also bleiben wird. Man muß nicht Marxist oder Kommunist sein, um sich dieser Evidenz zu öffnen. Wir bewohnen alle eine Welt, manche würden sagen eine Kultur, die in unauslotbarer Tiefe, ob direkt sichtbar oder nicht, das Mal dieses Erbes bewahrt.
Unter den Zügen, die eine bestimmte, meiner Generation eigene Erfahrung charakterisieren, eine Erfahrung, die wenigstens vierzig Jahre gewährt haben wird und die noch nicht zu Ende ist, möchte ich zuerst ein verwirrendes Paradox herausgreifen. Es handelt sich um die Störung eines „déjà vu“, und sogar eines gewissen „toujours déjà vu“. Ich erinnere an diese Malaise der Wahrnehmung, der Halluzination und der Zeit mit Rücksicht auf das Thema, das uns heute abend hier zusammengeführt hat: „Whither marxism?“ Für viele unter uns ist die Frage genauso alt wie wir. Vor allem für jene, die sich, wie auch ich, dem real existierenden „Marxismus“ oder „Kommunismus“ entgegenstellten […], die es aber wenigstens verstanden, das niemals ausgehend von konservativen oder reaktionären Motivationen zu tun, ja noch nicht einmal von gemäßigt rechten oder republikanischen Positionen aus. Für viele unter uns hat ein bestimmtes (ich sage wohlweislich: ein bestimmtes) Ende des marxistischen Kommunismus nicht auf den jüngsten Zusammenbruch der UdSSR und alles dessen gewartet, was in der Welt von ihr abhängig war. All das hat zweifellos schon zu Beginn der fünfziger Jahre angefangen – und war selbst das „déjà vu“. Seither erklingt die Frage, die uns heute abend hier versammelt hat („Whither marxism?“), wie eine alte Wiederholung. Sie drängte sich schon, wenn auch auf eine ganz andere Weise, vielen der jungen Leute auf, die wir damals waren. Dieselbe Frage war bereits erklungen. Dieselbe, gewiß, aber auf ganz andere Weise. […]
Warum? Es war bereits dieselbe Frage, dieselbe finale Frage. Viele junge Leute von heute (vom Typ „Leser-Konsumenten von Fukuyama“ oder vom Typ „Fukuyama“ selbst) wissen es zweifellos nicht mehr genug: Die eschatologischen Themen vom „Ende der Geschichte“, vom „Ende des Marxismus“, vom „Ende der Philosophie“, vom „Ende des Menschen, vom „letzten Menschen“ usw. waren in den fünfziger Jahren, vor vierzig Jahren, unser tägliches Brot. Dieses apokalyptische Brot nahmen wir bereits ganz natürlich in den Mund, ebenso natürlich wie das, was ich nachträglich, im Jahr 1980, den „apokalyptischen Ton in der Philosophie“ genannt habe.
Welche Konsistenz hatte es? Wie schmeckte es? Einerseits war es die Lektüre der Analyse jener, die wir die Klassiker des Endes nennen können. Sie bildeten den Kanon der modernen Apokalypse (Ende der Geschichte, Ende der Menschheit, Ende Philosophie, Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger, mit ihren Zusätzen à la Kojève oder den Zusätzen von Kojève selbst). Andererseits – und untrennbar davon – war es das, was wir über den totalitären Terror in allen Ländern des Ostens wußten […]; was wir wußten über alle sozioökonomischen Desaster der sowjetischen Bürokratie, über den vergangenen Stalinismus und den gegenwärtigen Neo-Stalinismus […]. Zweifellos war es dieses Element, worin sich das entwickelt hat, was man Dekonstruktion nennt – und es ist, besonders in Frankreich, unmöglich, in diesem Moment etwas von der Dekonstruktion zu begreifen, wenn man diesen historischen Zusammenhängen nicht Rechnung trägt. Seither erscheint jenen, mit denen ich diese einzigartige Zeit, diese doppelte und einmalige (gleichzeitig philosophische und politische) Erfahrung geteilt habe, seither erscheint uns, wage ich zu sagen, die mediale Parade des aktuellen Diskurses über das Ende der Geschichte und den letzten Menschen zumeist als langweiliger Anachronismus. 1)Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main 1996, S. 32 ff.
Auf was ich in diesem längeren, in typisch Derridascher Geschwätzigkeit (man muss es leider so bezeichnen) dargelegten Zitat hinausmöchte ist der vorletzte Satz, der überrascht: Gemeinhin wird die Dekonstruktion ja als Lektüreweise verstanden, die gerade vom Kontext abstrahiert und sich auf den reinen Text konzentriert und entsprechend wird die Dekonstruktion auch selbst rezipiert. Dekonstruktion ist wesentlich Dekontextualisierung, insbesondere in ihrer akademische-entpolitisierten Variante (die von Derridas eigenem Verständnis von Dekonstruktion, wie diesem Zitat – er spricht hier ja sogar von der der Dekonstruktion zu Grunde liegenden Erfahrung als zugleich philosophischer und politischer – unschwer entnommen werden kann, durchaus zu unterscheiden ist).
Wenn Derrida nun selbst verkündet, dass die Dekonstruktion nur vor dem Hintergrund ihres historischen Entstehungskontexts adäquat verstanden werden kann, ist das durchaus bemerkenswert und widerspricht den meisten gängigen Aneignungsweisen seiner Philosophie. Zugleich ist jedoch die Art, in der er das sagt, höchst eigenartig: Die Dekonstruktion scheint nicht universell nur aufgrund ihres Entstehungsmilieus zu verstehen zu sein, sondern nur in einer ganz partikularen Situation, nämlich „besonders in Frankreich“ und „in diesem Moment“. Bedeutet diese Aussage zumindest eine gewisse Relativierung der Notwendigkeit der Kenntnis ihres Entstehungsmilieus zu ihrem Begreifen, stellt jene sie völlig in Frage: Denn was ist das für eine seltsame Notwendigkeit, die „in diesem Moment“ gilt, im nächsten jedoch womöglich nicht mehr. Warum ist die Dekonstruktion „besonders in Frankreich“ und „in diesem Moment“ nur mittels ihres Entstehungskontexts zu verstehen?
Offenbar hat sich Derrida hier mal wieder einen kleinen Scherz erlaubt. Denn mit der Formulierung „in diesem Moment“ spielt er klar auf seine Kritik eines präsentischen Zeitverständnisses an, das Zeit primär als Augenblick versteht, die Zeit selbst als Abfolge von Augenblicken. „In diesem Moment“ kann sich auf die allgemeine Zeit, zu der der Vortrag gehalten wurde beziehen, auf den exakten Zeitpunkt des ursprünglichen Aussprechens der Aussage, auf den Zeitpunkt der Niederschrift des Texts, der auf dem Vortrag basiert, auf den Augenblick der Lektüre des Textes (womit der Moment freilich immer wäre) – oder es könnte sich sogar um einen Augenblick auf der Ebene des Textes handeln, der einen Absatz später zurückgenommen wird. Die Fixierung dieses einen einmaligen Moments, in dem die Dekonstruktion nur unter bestimmten Bedingungen verstanden werden kann, ist überhaupt nicht möglich und genau auf diese Unmöglichkeit scheint Derrida an dieser Stelle ironisch anzuspielen.
Wieso soll es auch genau „jetzt“ (wann immer das sei) notwendig sein, die Dekonstruktion aus ihrem Entstehungskontext heraus zu verstehen und zu irgendeinem späteren Zeitpunkt nicht mehr? Es ließe sich über mögliche Gründe spekulieren (vielleicht, weil der Kontext jetzt besonders unverständlich ist, später vielleicht nicht mehr; vielleicht, weil jede Theorie ab einem bestimmten Augenblick ohnehin einen Klassikerstatus besitzt, die ihre vollständig dekontextualisierte Betrachtung erlaubt etc.), doch alle Erwägungen dieser Art führen zu nichts und Derrida erklärt diesen Satz auch nicht weiter. Jedenfalls scheint klar zu sein, dass eine Theorie entweder immer nur vor dem Hintergrund ihres Entstehungskontextes verstanden werden kann oder – je nachdem, welche Lektüreperspektive man wählt – niemals, weil dieser immer uninteressant ist.
Dieser unscheinbare Satz befindet sich also in einer – sicherlich gewollten – eigenartigen, geradezu gespenstischen Schwebe, die letztendlich eine Entscheidung des Lesers erheischt: Fühlt er sich jenem „Moment“ zugehörig oder nicht? Hält er ihn für immer noch gegenwärtig oder bereits vergangen? Ist die Dekonstruktion unpolitisch oder ist sie es nicht? Vermutlich will Derrida genau darauf hinaus, dass sie weder das eine noch das andere noch beides zugleich ist. Die Frage wäre, ob man genau das wiederum als politische Positionierung verstehen könnte.
Konkret verweigert Derrida in diesem Text jede konkrete politische Zuordnung. Er sagt in diesem Abschnitt genau, dass er sich selbst (was freilich wiederum eine seltsame Wendung ist – denn welche Bedeutung hat ein derartiges Bekenntnis schon?) vom Marxismus distanziert, jedoch nicht aus einer bürgerlichen, liberalen oder sonstwie gemäßigten Position heraus, sondern aus einer, die nicht weiter positiv bestimmt und offen gelassen wird. Im ersten zitierten Abschnitt spricht er immerhin eindeutig aus, dass er sich innerhalb dessen verortet, was Marx und Engels in der Deutschen Ideologie als Ideologie bezeichnen würden: Nämlich innerhalb der Philosophie als Interpretation der Welt, die die Interpretationen der Welt zugleich künstlich von der Welt abtrennt und abgesondert für sich betrachtet. Ideologiekritik wäre in diesem Sinne genau die Rückführung einer bestimmten Interpretation der Welt auf eine bestimmte politische Haltung – womit Derrida am Ende der zitierten Passage wiederum kokettiert.
Der Text markiert so die grundsätzliche Doppeldeutigkeit jedes Texts und jeder Theorie, zugleich dekontextualisierbar und kontextualisierbar zu sein. In einem bestimmten Kontext (zu einer bestimmten Zeit und zu einem bestimmten Ort) mag diese eine Theorie nur kontextuell zu verstehen sein – an einer anderen schon nur dekontextualisiert. Insofern zumindest eine Kritik all jener Lesarten der Dekonstruktion, die die Kontextualisierung von Texten strikt aus der Dekonstruktion ausschließen – sie scheint genauso gut mit ihr vereinbar zu sein wie ihr Gegenteil. Alles andere wäre eine Vereindeutigung, die dem Gespenst Derridas bei all seiner Uneindeutigkeit ganz eindeutig doch untreu werden würde.
Fußnoten
↑1 | Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main 1996, S. 32 ff. |
---|
Posten Sie ein Kommentar.