Als Reaktion auf sein Streitgespräch mit Marc Jongen, dem inoffiziellen „Parteiphilosophen“ der AfD, kontaktierte ich Ende 2016 den Kulturwissenschaftler Jörg Scheller von der Zürcher Hochschule der Künste. Wir kannten uns bereits von einer Nietzsche-Konferenz, die er 2015 mit seinem Kollegen Martin Jaeggi ebendort organisiert hatte, und zu welcher ich einen Vortrag über Nietzsches Rausch-Begriff und seine popkulturelle Relevanz gehalten habe. Es entspann sich ein E-Mail-Dialog über Links- und Neoliberalismus, die ökonomische Dimension des Rechtsrucks, mögliche Ansätze aus Resonanztheorie, Mythologie und Naturästhetik für eine (tatsächlich) alternative, progressive Politik, und das irgendwie ja doch verständliche Bedürfnis nach Action … Wir veröffentlichen den Dialog hier in voller Länge.
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Paul Stephan: Seit langem verfolge ich deine auf unterschiedlichen Medien geübten Beiträge zum gegenwärtigen Erstarken der Neuen Rechten mit großem Respekt. Insbesondere fand ich es immer wieder gut, dass Du eine entschiedene eigene Positionierung mit einer Offenheit zur Diskussion mit dem politisch Andersdenkenden zu verknüpfen verstehst – das ist eine Liberalität, die ja heutzutage leider selten geworden ist und ich stimme mit Kommentatoren wie Christopher Kriese vollkommen darin überein, dass genau diese Bereitschaft zur Diskussion auch mit politisch in fundamentaler Weise Andersdenkenden heute wichtiger ist denn je.
Ich selbst habe mich intensiv mit den Positionen Marc Jongens beschäftigt – und einer deiner Artikel hat mich dabei darauf aufmerksam gemacht, mir doch einmal seine Texte vor dem Beginn seines politischen Engagements anzusehen und seine „Konversion“ so besser nachvollziehen zu können – und dann war da zuletzt der Email-Dialog zwischen Jongen und Dir, den ich mutig und zugleich richtig fand.
Eines fällt mir jedoch an dem Gespräch und auch an den von Dir generell vertretenen Positionen auf: Du scheinst mir – und daraus machst Du ja auch keinen Hehl – eine dezidiert linksliberale Position zu beziehen, der es vor allem um Werte wie kulturelle Offenheit und Vielfalt, um Integrationsbereitschaft und die Verteidigung des Geistes der Aufklärung geht. Gerade im Gespräch mit Jongen schienst Du mir aus dieser, prinzipiell natürlich sehr sympathischen, Perspektive heraus sehr defensiv zu argumentieren: Es ging letztendlich nur mehr um eine kulturelle Differenz, die es Jongen sehr leicht machte, sein kulturalistisches Lob der Identität anzustimmen – auf das dann nur noch die Reaktion eines Lobes der Nicht-Identität erfolgen kann. Die Debatte artet so schnell in einem fruchtlosen Ping-Pong-Spiel aus. Eine ähnliche Tendenz sehe ich etwa auch in dem jüngsten Buch von Carolin Emcke, Gegen den Hass, die ja ganz ähnliche Ideen wie Du vertritt.
Dabei finde ich das Interessante an Jongen gerade, dass er ein recht explizites Verständnis von der ökonomischen Dimension der verhandelten kulturellen Fragen zu haben scheint. In seinem „AfD-Manifest“ etwa beginnt er mit der Variation des Beginns des Manifests von Marx und Engels und weist der AfD explizit eine ökonomisch fundierte Kernzielgruppe zu: Die vom Abstieg bedrohte „bürgerliche Mittelschicht“, die es vor der Globalisierung zu beschützen gälte. Und Analysen zeigen ja immer wieder, dass es genau diese Gruppe ist, die hinter den Wahlerfolgen von Trump, AfD und Co. steht.
„Für zentrale wirtschaftliche Probleme hat der Linksliberalismus keine Antwort.“
(Paul Stephan)
Hinter der kulturalistischen Rhetorik von Jongen steht so recht unverhohlen ein wirtschaftspolitisches Anliegen: Die Verteidigung der Privilegien des heterosexistischen weißen Kleinbürgertums. Durch die Globalisierung wurden diese Privilegien in den letzten Jahrzehnten immer mehr abgebaut – nun kommt die Reaktion darauf. Der Linksliberalismus hat in den letzten Dekaden diesen Abbau mitgetragen und ideologisch flankiert – und auch wenn sie sicherlich nicht die „Elite“ bilden haben zahlreiche Linksliberale von diesem Abbau auch selbst ökonomisch profitiert und sind aufgestiegen. Ökonomische Verluste wurden dabei nicht unbedingt geleugnet, jedoch gewissermaßen mit kulturellen Gewinnen verrechnet: Wir mögen ärmer werden, doch dafür werden wir sexier. Zukunftsängste wurden als engstirnige Ängstlichkeit vor dem Neuen abgetan. Diese Rechnung geht heute für viele jedoch nicht mehr auf angesichts ganz realer massiver Bedrohungen der eigenen ökonomischen Stellung. Für zentrale Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit, drohende Altersarmut, sinkende Löhne und den Abbau von sozialen Rechten hat der Linksliberalismus anscheinend keine Antwort.
Was helfen mir die geilen Lokale aus fünfzig Staaten um die Ecke, die hippen Queer-Partys, die interessanten Nachbarn aus allen Kontinenten und die Freiheit, als Mann auch mal mit einem Mann zu knutschen in der Öffentlichkeit wenn ich mir schon bald die Miete im In-Viertel nicht mehr leisten kann? Ich bin 28. Wenige aus meiner Generation würden Trump und Co. wählen – dafür sind wir viel zu sehr auch Profiteure der Globalisierung und im linksliberalen Geist erzogen worden. Doch viele werden im Privaten sehr konservativ und ziehen sich aus der Politik zurück, weil es in ihr nicht mehr um ihre Interessen, sondern nur noch um oberflächliche Symbolpolitik im Namen von irgendwelchen exotischen Minderheiten zu gehen scheint – mittelfristig ein durchaus gefährliches kulturelles Klima.
Schreit diese Situation nicht nach einer verstärkten Pointierung des „links“ in der Wortkombination „linksliberal“? Müsste man nicht nur über Vielfalt, Kreativität und Selbsttransformation sprechen – sondern auch über Jugendarbeitslosigkeit, Altersarmut und die Schwäche der Gewerkschaften? Anders ausgedrückt: Wäre Sanders nicht doch die bessere Option als Clinton gewesen? Bräuchten wir nicht ein neues Bündnis aus Linken und Linksliberalen? Und was verhindert dieses Bündnis genau?
Schwierige Fragen. Teilst Du meine Einschätzung? Und was ist deine Position zu diesem Komplex?
Jörg Scheller: Besten Dank für Deine Antwort! Ich möchte zunächst genauer auf den Begriff „linksliberal“ zu sprechen kommen. Es ist interessant und auch amüsant, wie schnell man dieses Label angeheftet bekommt. Ich persönlich wüsste nicht, wann und wo ich ein Loblied auf „kulturelle Offenheit“, „Vielfalt“, „Kreativität“, „Integrationsbereitschaft“ oder ein Lied „gegen den Hass“ gesungen hätte – Selbstentlastungsphrasen, Parolen und Slogans sind mir zuwider, egal ob sie aus der linken oder der rechten Ecke kommen. Auch möchte ich darauf hinweisen, dass die Neoliberalisierung in Deutschland nicht primär von Linksliberalen, sondern von Linkskonservativen wie Gerhard Schröder intensiviert worden ist. Der AfD den Boden bereitet hat wiederum der Linkskonservative Thilo Sarazzin. Den philosophischen Anstrich der AfD lieferte Peter Sloterdijk – in der Partei wird er rauf- und runterzitiert –, der sich ebenfalls als linkskonservativ bezeichnet. Wer hat uns verraten? Genau…
Verbirgt sich hinter der modischen Kritik am „Linksliberalen“ nicht eine Nähe zwischen ganz links und ganz rechts? Und ist die „Symbolpolitik für irgendwelche exotischen Minderheiten“ – ich gehe jetzt einfach einmal davon aus, dass Du darunter nicht Frauen oder Ausländer subsumierst! – wirklich in der Realität angekommen, wie AfDler zu unterstellen belieben? Sprich, wo sind sie denn, die queeren Kanzlerinnen, die transsexuellen Präsidenten, die veganen Alt-Porn-Staatssekretärinnen? Gibt es Gesetze, die ganzkörpertätowierte Multikulti-Crossfit-Hipster-Dykes, etwa durch tiefere Steuern, unbefristete Jobs oder niedrigere Mietpreise, besser stellen als Mehrheitsgesellschaftsphilosophen? Haben Schwule bessere soziale Rechte als Heterosexuelle, genießen sie sonstige Privilegien? Und gibt es ein Menschenrecht auf einen Wohnsitz in In-Vierteln? Meines Wissens nicht, aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren!
Ob last but not least die Politik pauschal für alle ökonomischen Kalamitäten in Haftung genommen werden kann,
wage ich zu bezweifeln – alleine die Entwicklungen in den Technologien erzeugen, wie Günther Anders schon bemerkte, Eigenlogiken und Eigendynamiken, hinter denen Recht und Politik, aber auch Ethik und Philosophie hinterherhinken. Wir haben es mit unterschiedlichen Eigenzeiten und Eigengeschwindigkeiten zu tun, die wir noch nicht zu koordinieren gelernt haben. Hinzu kommt, dass nicht nur die Digitalisierung als solche, sondern auch die Im-Netz-alles-umsonst-bekommen-und-alles-frei-teilen-wollen-Haltung vieler Linksprogressiver die letzten halbwegs einträglichen und stabilen Beschäftigungsverhältnisse zerstört.
Mit dem Begriff „Aufklärung“ indes kann ich gut leben, insofern Aufklärung nichts genuin Europäisches ist, sondern gerade in Europa gegen viele Widerstände durchgefochten und seitdem immer wieder verteidigt werden musste.
„Glaubwürdiger Konservatismus ist rar – weil er ziemlich anstrengend ist.“
(Jörg Scheller)
Was mich in meiner Kritik an der neuen Rechten umtreibt, ist das klientelistische und kryptoelitäre Scheuklappendenken, das sich derzeit ausgerechnet unter den selbsternannten Aufklärern und Elitekritikern breit macht, frei nach dem Motto: Die Lüge meines Freundes ist Wahrheit. Die Lüge meines Feindes ist Lüge. Mit der Wendehalsigkeit und dem Zynismus eines Donald Trump hat die neue Rechte kein Problem. Wenn Merkel die Positionen wechselt, gilt sie als Opportunistin. Wenn Merkel, wie in der Flüchtlingskrise, dezisionistisch agiert, wirft man ihr Machtmissbrauch vor. Gleichwohl beruft man sich gerne auf den konservativen Dezisionisten Carl Schmitt. Wenn Kritik an dieser Doppelmoral „linksliberal“ genannt werden soll, nun gut. In meinem Essay für Die Zeit vom Januar 2016, in welchem ich die Positionen Jongens und der AfD kritisiere, schlage ich jedoch gerade nicht linksliberale, sondern sogar konservative Denker wie Eric Voegelin als Gegenpole zu denjenigen ‚Konservativen‘ vor, die meiner Ansicht nach eben nicht konservativ, sondern regressiv sind. Mit dem Bedächtigen und Bewahrenden des Konservativismus als solchem habe ich kein Problem. Doch glaubwürdiger, ethisch kohärenter Konservatismus ist rar – weil er ziemlich anstrengend ist. Bei der AfD etwa wird das Christliche und Ökologische, das man doch eigentlich zum Konservatismus des ‚Abendlandes‘ rechnen dürfte, dezent ausgeblendet…
Nun zu Deinem eigentlichen Punkt: „Hinter der kulturalistischen Rhetorik von Jongen steht so recht unverhohlen ein wirtschaftspolitisches Anliegen: Die Verteidigung der Privilegien des heterosexistischen weißen Kleinbürgertums.“ Hier stimme ich Dir im Grunde zu. Für Jongen war laut eigener Aussage die – in der Tat nicht demokratische legitimierte – Einrichtung des European Stability Mechanism (ESM) ausschlaggebend, sich politisch zu betätigen – sprich, er wurde aktiv, als es wirklich ans Eingemachte ging: nicht an die viel gepriesenen „kulturellen Werte“, sondern ans Geld. Aber ganz zufriedenstellend finde ich die marxistische Basis-Überbau-These dann doch nicht. Ressentiments sind, wie man heute etwa an Österreich sieht, nicht nur an die ökonomische Situation gekoppelt – das zeigten ja schon Adornos Studien zum autoritären Charakter in den 1950er Jahren. Oft dienen Verlustängste – als könne und müsse es ewig linear bergauf gehen! – als billiger Vorwand für eine Neuauflage von Stolz und Vorurteil…
Deine letzten Fragen bejahe ich, mit einer Einschränkung: Es darf nicht darum gehen, „links“ auf Kosten von „liberal“ stark zu machen. Das Linke wie das Rechte sind nichts ohne Freiheit. Sobald Bevormundung ins Spiel kommt, ist es ziemlich egal, ob von linker oder rechter Seite – das Resultat ist in beiden Fällen Unmündigkeit. Aus meiner Sicht gilt es, nicht nur den Dialog zwischen Rechtskonservativen und Linksprogressiven, sondern den Dialog zwischen Linken und Liberalen, weniger also zwischen Linken und Linksliberalen, zu intensivieren. In den letzten Jahren ist das Liberale ja nachgerade synonym mit „marktliberal“ gebraucht worden. Man müsste den Begriff sehr viel weiter fassen, vielleicht ja mal hegelianisch – Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit? Ansonsten hast Du schon Recht, so manche „Linksliberale“ haben sich tatsächlich in akademische oder sonstige Komfortzonen zurückgezogen, von wo aus sie die „Buntheit“ der Welt kontemplieren wie ein Gemälde Kandinskys in der Zahnarztpraxis. Kurz, es muss nun darum gehen, das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, von Vielfalt und den Grenzen derselben neu zu denken, und zwar ohne ideologische Scheuklappen. Hast Du einen Vorschlag – idealerweise gleich eine Zauberformel?
„Der Liberalismus ist bereit, für die Freiheit des Marktes politische Freiheiten einzukassieren.“
(Paul Stephan)
Paul Stephan: Nun ja, insbesondere nach der Lektüre deines Dialogs mit Marc Jongen entstand bei mir doch der Eindruck, für dich wäre „Liberalismus“ ein sehr positiv besetztes Label, gegen dessen Vereinnahmung durch die AfD Du dich vehement verwehrst. Ich habe den Dissens zwischen Jongen und Dir denn auch so aufgefasst, dass es bei euch im Wesentlichen um ein unterschiedliches Verständnis von Liberalismus ginge – auf der einen Seite eben links-, auf der anderen rechtsliberal. Dabei würde ich selbst der AfD eine in gewisser Weise „liberale“ Grundhaltung gar nicht gänzlich absprechen – wir beobachten hier nur eine Dialektik von Liberalismus und Konservativismus bzw. Autoritarismus, wie sie Herbert Marcuse bereits in den 30er Jahren konstatierte: Insofern es dem Liberalismus im Kern darum geht, die Freiheit des Marktes sicherzustellen, ist er bereit, politische Freiheiten, demokratische Teilhaberechte und soziale Rechte in Krisenzeiten auch jederzeit wieder einzukassieren. Das sieht man ja deutlich an der Entwicklung der FPÖ – und auch an entsprechenden Tendenzen innerhalb der FDP. Insofern ist „Liberalismus“ für mich kein unbedingt positives Etikett – jedenfalls nicht, sofern es ihm nicht gelingt, seine prokapitalistische Grundorientierung in Frage zu stellen. Wenn Du es dir also nicht anhängen lassen willst: umso besser. Aber wir sollten darüber nicht streiten, sondern um die Sache.
Die Dialektik von Liberalismus und Konservativismus bezeugen nun die von Dir selbst angeführten Beispiele sehr gut: Gerade der Neoliberalismus als reinste Ausprägung eines extrem wirtschaftsorientierten Liberalismus mag sich zwar der Ideologie nach geradezu anarchistisch und radikalindividualistisch gerieren, bedarf jedoch spätestens bei seiner realen politischen Umsetzung immer einer autoritär-konservativen Flankierung, am besten noch (wie im Falle Schröders) eines „linken“ Anstrichs.
Ja, vielleicht ist das aktuelle Problem gerade, dass sich alle drei klassischen politischen Lager vor den Karren des Neoliberalismus haben spannen lassen in den letzten Jahrzehnten – es scheint nun nurmehr die Alternative zu geben zwischen Neoliberalismus pur oder mit je nach Geschmack ein wenig konservativem oder sozialem heimeligen Antlitz. Die AfD (und ihre Schwesterparteien) geben nun vor, dazu eine echte Alternative darstellen zu können – doch ich glaube eben, dass es sich bestenfalls um eine effektivere autoritäre Flankierung des Neoliberalismus handeln kann, da von einer echten wirtschafts- und sozialpolitischen Kehrtwende ja überhaupt keine Rede ist, im Gegenteil soziale Rechte sogar noch weiter abgebaut werden sollen.
Eine wirkliche andere Politik könnte dagegen wirklich nur erfolgen unter einer Abkehr vom marktradikalen Kurs der letzten Dekaden. Und genau: Da wäre ich wiederum auch der Ansicht, dass alle drei politischen Lager gefragt wären (denn auch ich sehe den Konservativismus nicht nur als Hort von blindem Autoritarismus und borniertem Traditionalismus, ebenso wie ich den Liberalismus als Verteidiger von Freiheit und Individualismus durchaus wichtig finde).
„Abhängigkeiten sind nicht nur Hindernisse, sondern auch Ermöglichungsbedingungen von Freiheit.“
(Paul Stephan)
Das eigentliche Problem, auf das ja auch deine Frage abzielt, hängt nun am Freiheitsbegriff: In den Denkmodellen der liberalen Tradition setzt man stets den Menschen als vereinzelten Einzelnen voraus, dessen Freiheit in der möglichst großen Realisation seiner Willkür liege. Diese Denkweise ist nun zutiefst kapitalistisch: Sie geht vom individualisierten Privateigentümer aus, der vorm Recht allen anderen absolut gleichgestellt ist. Er ist zwar aller tradierten Bindungen ledig, doch dafür umso mehr den blinden Gesetzen des Marktes ausgeliefert. Das hat ja schon Marx sehr deutlich erkannt. Auch die wohlmeinenden Liberalen scheinen mir zu sehr von diesem einseitigen Freiheitsverständnis auszugehen und machen sich so zu (sicherlich unfreiwilligen) Komplizen des Neoliberalismus.
Eine sinnvolle konservative und eine linke Perspektive eint nun in der Tat, dass sie Frage aufwerfen, wie eine positive Bestimmung der liberalen Freiheit aussehen kann. Die erste Operation zu dieser Bestimmung muss darin bestehen, bereits die Prämisse des Liberalismus zurückzuweisen: Wir sind in Wahrheit nie völlig freie Willkürsubjekte, sondern unsere Entscheidungen sind immer schon in diverse Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden, ja, dass wir uns selbst überhaupt als Willkürsubjekte begreifen können, ist schon Resultat von selbst nicht willkürlich gesetzten Entwicklungen. Diese Abhängigkeit besteht zu der Tradition, in die ich eingebettet bin, der Gesellschaft, in der ich lebe, aber auch ganz allgemein der Natur in und außer mir. Das sind alles nicht nur Hindernisse, sondern zugleich immer auch Ermöglichungsbedingungen meiner Freiheit.
Dies wäre so in etwa die philosophische Fundierung meiner zugegebenermaßen selbst etwas vereinfacht vorgetragenen Linksliberalenschelte: Dass immer nur von Befreiung aber eben überhaupt nicht von den wirklichen Bedingungen der Befreiung die Rede ist. Folgt man diesem Narrativ, ist ja überhaupt nicht mehr viel zu tun: Was sind, auf der rechtlich-formalen Ebene, schon noch große Einschränkungen der Willkürfreiheit? Und es würde auch nicht ausreichen, die Willkürfreiheit einfach nur zu universalisieren und allen ausreichende Mittel zu ihrer Ausübung zur Verfügung zu stellen: Die Frage bleibt stets, wie sie positiv bestimmt werden kann in Anerkennung ihrer grundlegenden Situiertheit.
Einen sehr vielversprechenden, vielleicht tatsächlich am ehesten als „linkskonservativ“ zu charakterisierenden Ansatz hat dafür aus meiner Sicht jüngst Hartmut Rosa vorgelegt mit seiner Resonanztheorie, der zu Folge menschliches Leben nur glücken kann, wenn es in Beziehungen der innigen Wechselseitigkeit mit anderen Subjekten, der Gesellschaft, dem eigenen Körper und der Natur eingebettet ist. Selbst wenn wir alle vollkommen frei und gleichberechtigt wären, wären wir ohne Resonanzerfahrungen todunglücklich – und eine bestimmte Auslegung des modernen Freiheitsverständnisses führt geradewegs dazu, Resonanzräume zu zerstören, da Resonanzerfahrungen nur möglich sind durch eine gewisse Preisgabe an das oder den Anderen, mit dem ich jeweils in ein Resonanzverhältnis trete.
Jedenfalls scheint sich mir der linke, von Marx her tradierte Glaube daran, kapitalistische Modernisierung und linke Emanzipation bildeten letztendlich eine Bewegung gründlich desavouiert zu haben – dies sieht man nicht zuletzt an der Entwicklung des neoliberalen Projekts. Statt dazu eine – vielleicht eben linkskonservative – Alternative zu erproben, hat man einfach versucht, es mit ein wenig sozialem Zierrat auszustatten. Und tatsächlich haben auch gar nicht mal so exotische Minderheiten wie Frauen und Homosexuelle in Teilen von der Neoliberalisierung ja profitiert – nur leider zu einem vielleicht allzu hohen Preis.
„Ein Mangel an liberalem Denken verstärkt die negativen Seiten sowohl konservativer wie auch progressiver Mentalitäten.“
(Jörg Scheller)
Jörg Scheller: Was Deine Ausführungen zum Liberalismus betrifft, so könnte man, um diesen in seiner ganzen Ambivalenz zu erfassen, noch hinzufügen, dass der deutsche Liberalismus im 19. Jahrhundert die Aristokratie stützte. Insofern stimme ich zu, dass Liberalismus, genauer: liberales Denken an sich, weder positiv noch negativ, weder progressiv noch konservativ ist. Darin ähnelt es dem Kapitalismus als solchem, kann dieser doch fast beliebig mit linken, rechten, progressiven, regressiven Systemen kombiniert werden. Aber mehr noch gilt aus meiner Sicht, wie bereits erwähnt, dass ein Mangel an liberalem Denken die negativen Seiten sowohl konservativer wie auch progressiver Mentalitäten und Handlungen verstärkt.
Nimmt man die Grundgedanken des klassischen Liberalismus ernst, also jene aus der Zeit und Feder John Stuart Mills, so trifft es zwar zu, dass hier das Phantasma des souveränen Individuums als Privateigentümer Gestalt annimmt. Aber das ist längst nicht alles. Für Mills ordoliberalen Freiheitsbegriff, der natürlich noch stark vom Autoritarismus und vom hierarchischen Klassendenken seiner Zeit geprägt war, spielten auch der Fortschrittsprimat und die Rechtsgleichheit eine große Rolle; unter anderem setzte er sich ja aktiv für das Wahlrecht für Frauen ein. Überdies kann Privateigentum auch als Bollwerk gegen absolutistische oder totalitäre Kontrolle interpretiert werden, wie John Locke argumentierte – Herbert Marcuse hin oder her… Sein Liberalismusbegriff ist doch recht reduktionistisch.
Weite Teile der neuen Rechten wie auch die Neoliberalen sind indes allenfalls passive Errungenschaftsverwalter – vertreten also anders als Stuart Mill keine neue, mutige, kontroverse, emanzipatorische Agenda – oder schlagen gar eine andere Richtung ein: Sie torpedieren das für wahren Liberalismus essentielle Prinzip der Rechtsgleichheit. So suggeriert die AfD: Ein Verbrechen, begangen von einem Syrer, wiegt schwerer als ein Verbrechen, begangen von einem Deutschen. Die Schweizer SVP sagt: Kriminelle Ausländer müssen ausgeschafft werden. Kriminelle Schweizer dürfen bleiben. Da könnte man polemisch fragen: Wiegen nicht Verbrechen von Menschen, die in einer bestimmten Kultur aufgewachsen sind und deren Normen, Gesetze, Grundsätze kennen, schwerer als Verbrechen von Menschen, die mit dieser Kultur weniger gut vertraut sind? In Polen ignoriert die PiS die Urteile des Verfassungsgerichts, weil sie sagt: Das Wort des Volkes ist wichtiger als das Wort des Gesetzes – willkommen in den 1920er und 30er Jahren! Und immer so weiter. Der Neoliberalismus schließlich verficht implizit das Recht des Stärkeren, schlägt also einen sozialdarwinistischen Weg ein. Auch das hat mit klassischem Liberalismus allenfalls auf oberflächliche Weise etwas zu tun.
Die AfD ist nun tatsächlich keine Alternative, was den Neoliberalismus betrifft. Andererseits bin ich mir nicht sicher, inwiefern die Partei diesbezüglich eine herausragende Stellung einnimmt. Viele neoliberale Ideen kamen und kommen ja im Gewand des Fortschritts und der Emanzipation daher: empowerment! Wir hatten bereits darüber gesprochen, dass ausgerechnet die SPD den Neoliberalismus befeuert hat, von der FDP ganz zu schweigen.
Im Grundsatzprogramm der AfD vom April/Mai 2016 findet man einerseits erwartungsgemäß viele neoliberale, also meritokratische, unternehmerfreundliche und privatisierungsbefürwortende Inhalte, andererseits stößt man auf viele Passagen, die man, nüchtern betrachtet, sogar aus linker Sicht als ziemlich vernünftig und keinesfalls als neoliberal bezeichnen würde – leider steht das obskure Personal der Partei ihren hehren Grundsätzen bislang im Weg. Ein Gesetz ist eben immer nur so gut wie die, die es anwenden… Carl Schmitt lässt grüßen!
Die AfD beruft sich nicht auf die Wiener Schule um Friedrich August von Hayek, das große Vorbild der Neoliberalen, sondern auf die soziale Marktwirtschaft im Geiste Ludwig Erhards – den sie allerdings, ein wunderbarer freud’scher Verschreiber, im thymotischen Überschwang als „Ludwig Ehrhard“ aufführen. Zitat aus besagtem Programm: „Dabei gilt für uns wie für die Väter der Sozialen Marktwirtschaft: Wirtschaft ist immer Mittel zum Zweck, niemals Selbstzweck.“ Wer wollte da widersprechen? Auch andere Passagen bieten Anknüpfungspunkte an linke Anliegen, wobei man natürlich stets vor Augen haben sollte, dass es auch viele Übereinstimmungen zwischen den Parteiprogrammen der Faschisten und der Sozialdemokraten Anfang des 20. Jahrhunderts gab. Rechtskonservative US-amerikanische Autoren wie Jonah Goldberg haben sichtliche Freude daran, diese Parallelen herauszuarbeiten, etwa in Liberal Fascism (Goldberg 2008). Zudem ist es ein gängiges Muster von Demagogen, immer gerade so viel Vernünftiges anzubieten, dass im selben Zuge das Unvernünftige auch von der – eigentlich – vernünftigen Mehrheit mit in Kauf genommen wird. Einen Tod muss man sterben…
„Im AfD-Grundsatzprogramm steht viel Vernünftiges – das macht den Umgang mit der Partei zu einer echten Herausforderung.“
(Jörg Scheller)
Hier noch ein paar Beispiele aus dem AfD-Grundsatzprogramm, die den Umgang mit der Partei zu einer echten Herausforderung machen und nahelegen, dass der Neoliberalismus, zumindest hierzulande, nicht nur auf flankierende (rechts)autoritäre, sondern auch linkskonservative Maßnahmen angewiesen ist:
„Jegliche Übertragung von Souveränitäts- und Hoheitsrechten in Freihandelsabkommen auf Sonderschiedsgerichte ist abzulehnen.“
Das deckt sich in weiten Teilen mit der Kritik der Linken an TTIP, CETA & Co.
„Über Privatisierungen sollen Bürgerentscheide auf der jeweiligen staatlichen Ebene entscheiden, insbesondere bei der öffentlichen Daseinsvorsorge und in Bezug auf öffentliches Wohn- und Grundeigentum“ und „Eine Privatisierung und damit Kommerzialisierung der Grundversorgung mit Trinkwasser lehnen wir ab.“
Damit könnten sich auch die Anhänger von ATTAC anfreunden.
„Entgegen anderer Bestrebungen [ist] dem Datenschutz ein hoher Stellenwert einzuräumen und sein Wirkungsbereich auf alle personenbezogenen Merkmale auszuweiten. Die freie Meinungsäußerung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit brauchen einen starken Datenschutz.“
Willkommen im Chaos Computer Club!
„Den Versuchen einzelner Hersteller, die Lebensdauer ihrer Produkte zum Nachteil des Kunden künstlich zu verkürzen (geplante Obsoleszenz), ist durch unabhängige Produkttests und der zeitnahen Veröffentlichung der Ergebnisse entgegenzuwirken“ und „Europäische oder internationale Harmonisierung von Standards [im Verbraucherschutz] darf zu keiner Abschwächung erreichter Schutzniveaus führen.“
Wer wollte hiergegen etwas einwenden?
„Die in Deutschland im größeren Umfang in Verkehr gebrachten Lebensmittel müssen mit genauen Angaben zu Herkunft, Inhaltsstoffen und Qualität besser und verständlicher gekennzeichnet werden.“
Diese Praxis hat sich in der Schweiz bewährt, wo die Herkunftsländer aller Fleischprodukte, auch auf den Speisekarten der Restaurants, angegeben werden müssen.
„Mindestlöhne verhindern … die Privatisierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Sozialisierung der Kosten. Die Alternative für Deutschland befürwortet es daher, den gesetzlichen Mindestlohn beizubehalten.“
Das tönt nun gar nicht nach Marktradikalität…
Kurz: Auf dem Papier ist die AfD über weite Strecken ein Papiertiger. Allerdings steht zu befürchten, dass die genannten vernünftelnden, im positiven Sinne linkskonservativen Inhalte als Einfallstore für den völkisch-irrationalen Flügel um Höcke, Gauland, Storch & Co. missbraucht werden (sollen). Moderatere Vertreter der Partei wie Jörg Meuthen und Jongen tun sich jedenfalls bislang nicht durch glaubwürdige Kritik an den Hasardeuren in ihren Reihen hervor, ja sie äußern explizit Verständnis für deren irrlichternde Tiraden. Aus Machtkalkül oder Parteiräson? Aufgrund stiller Übereinstimmung? Oder üben sie nur hinter verschlossenen Türen Kritik? Wer weiß…
Die neurechten und reaktionären Bewegungen profitieren im Allgemeinen von jenem modernen und postmodernen Partikularismus, Relativismus und Korrelationismus, den Quentin Meillassoux – neben vielen anderen – kritisiert, hier ein Zitat aus seinem Buch Nach der Endlichkeit: „Seine Wirkmacht in heutiger Zeit scheint uns dennoch direkt an der Immunität gegenüber dem konzeptuellen Zwang ablesbar, von der heutzutage der religiöse Glaube profitiert. Welcher Philosoph würde noch unter dem Vorwand, dass er einen Widerspruch aufgedeckt hätte, glauben, die Möglichkeit der christlichen Trinität widerleget zu haben?“
Sprich, die nunmehr curricular verankerte Relativierung des Absoluten, Rationalen, Positivistischen, und die institutionalisierte Kritik hegemonialer Wahrheiten, ein unbestreitbares Verdienst der Postmoderne, hat nicht nur dazu geführt, dass sich, wie es in Foucaults Dispositive[n] der Macht heißt, „Irre … und Kranke, Frauen und Kinder, Gefangene, Gemarterte und Tote“ erhoben haben. Sondern auch dazu, dass sich die ihrer Diskursmacht beraubten Hegemonialen wiederum als Minoritäten inszenieren – der dem Untergang geweihte weiße Mann, der missverstandene und pauschalverurteilte Konservative, die marginalisierte Kirche, etc. – und ihre je eigenen Wahrheiten als allen anderen Wahrheiten ebenbürtig verteidigen dürfen. Ob Papst, Gender-Aktivist, AfD-Politiker, Rhizom-Philosoph, Ordoliberaler, Großer Vorsitzender oder Chemtrail-Warner – alle haben Recht. So prallt die geläufige Kritik, er verbreite Lügen, zwangsläufig an Donald Trump ab. Nicht Lügen verbreite er, so könnte man ihm auf die Zunge legen, vielmehr generiere er Wahrheiten, denen sich die Welt schon fügen werde.
„Meinungsfreiheit ist kollektive Selbstbefriedigung – jede(r) ejakuliert vor sich hin. Aus der ‚Meinung‘ muss eine ‚Wirung‘ werden.“ (Jörg Scheller)
Kommen wir noch einmal zum einseitigen, ideologischen Freiheitsverständnis vieler Liberaler. Völlig zurecht monierst Du dieses. Vor allem in Teilen der USA scheint es mir stark ausgeprägt zu sein. Da geht es weiterhin um den modernistischen Topos „Kultur = Naturüberwindung“ und darum, „sich selbst zu verwirklichen“. Wenn man so will, ist das eine Form soziopolitisch organisierter Masturbation: Friede soll dann herrschen, wenn alle, mit Verlaub, zusammen wichsen. Das nennt man dann „Meinungsfreiheit“. Als Idealweg der Verständigung gilt der „freie Wettstreit der Meinungen“. Was im Klartext bedeutet: Der eine ejakuliert, die andere ejakuliert, alle ejakulieren freiheitlich vor sich hin. Aber anders als beim Sex entstehen daraus keine neuen, eigenständigen, mündigen Wesen. Weniger schlüpfrig formuliert: Wenn eine idiotische Einzelmeinung auf eine andere idiotische Einzelmeinung trifft, dann können sie noch so lange debattieren – am Ende steht doch nur wieder die Idiotie; insbesondere dann, wenn sie, wie etwa in Johann Gottfried Herders Kultur-als-Kugel-Konzept, nur aneinanderklacken und dann wieder zurückschwingen. Kurz, ein freier Wettstreit der Meinungen ist nur dann produktiv, wenn in diesem Wettstreit das „mein“ aus „Meinung“ verschwindet und ein „wir“, also eine Wirung tritt. Sex statt Onanie. So ganz kommt man vielleicht doch nicht um Kant und Habermas herum…
Hartmut Rosas Resonanz-Theorie und sein zentrales Symbol der Stimmgabel, die eine andere dazu bringt, in ihrer jeweiligen Eigenfrequenz mitzuschwingen, mag in diesem Zusammenhang interessante Perspektiven bieten. Leider kenne ich sie nur aus der Sekundärliteratur, wo unter anderem kritisiert wird, dass Rosa Konflikte und prinzipielle Unvereinbarkeiten nicht ausreichend berücksichtigt und dergestalt die Kritische Theorie romantisiert. Konflikte und Widersprüche aber sind es, die, wenn sie nicht der bloßen Durchsetzung je eigener Halbwahrheiten dienen, zur Vitalität und Selbstaufklärung von Gesellschaften beitragen. Leszek Kołakowski schrieb dazu in den 1970er Jahren sehr treffend: „Der Vollzug der Synthese wäre ebenso der Tod der Kultur wie der Verzicht auf den Willen zur Synthese.“ Wir kämen nicht umhin, „zwei Herren zugleich dienen müssen.“ Genau das wollen die „America First“-Rufer, verbohrte Linke oder die neuen völkischen Scheinriesen Europas nicht (mehr); genau das wollten auch die Naturüberwinder und -beherrscher der Moderne nicht. Dabei übersehen sie genau die von Dir beschriebenen Zusammenhänge: unser existentielles Eingebettet- und Verbundensein, unser Bedürfnis nach Resonanz, das, wenn es unerfüllt bleibt, in Ressentiment, Verachtung, Hass umschlägt. Wenn man schon kein sinnvoll-sinnliches Verhältnis zur Umwelt aufbauen kann, will man sie wenigstens hassen.
Um Resonanz im umfassenden Sinne zu ermöglichen, sollte man sich auch von einseitigen, in akademischen Kreisen noch immer modischen sozialkonstruktivistischen Vorstellungen lösen, etwa davon, dass das Geschlecht nur ein Produkt sozialer Verhältnisse ist. Wenn das Geschlecht das Produkt des Sozialen und nicht des Biologischen ist, woraus ist dann wiederum das Soziale entstanden? Vielleicht aus dem Biologischen? Oder ist das Soziale eine neue Letztbegründung, weicht die Performanz letztlich doch wieder der Essenz? Wir müssen somit noch komplexer denken lernen, sprich, die Interdependenzen zwischen unseren biologischen, seelischen, sozialen, politischen, usf. Seiten, zwischen unserem Willen und unserem Müssen, unserer Bedingtheit und unserer Freiheit noch tiefer und ernsthafter erkunden. Die etwas in die Jahre gekommene Akteur-Netzwerk-Theorie und die von der mittelalterlichen Scholastik, Nietzsche und Deleuze kommenden Überlegungen zur Dividualität sind in diesem Zusammenhang noch immer inspirierend. Auch möchte ich auf die Naturästhetik Hartmut Boehmes hinweisen. Boehme argumentiert, die bisherigen Appelle an das ökologische Gewissen der Menschen hätten versagt, weil sie von einem instrumentell-technischen oder aber romantisch-naiven Verständnis der Umwelt geprägt seien. Solange der Mensch die Umwelt – oder die Natur – als Objekt verstehe und seine eigene leibliche Teilhabe an ihr, der als physis gegebenen wie der technisch modifizierten Natur, ausblende, könne kein Antidot zum Raubbau gefunden werden. Die Sicht auf die Natur als nützliches und nur deshalb schützenswertes Objekt-für-das-Subjekt verkenne, dass die Naturdinge über Charaktere und nonverbale Sprachen verfügten, dass die Natur von sich aus an die Wahrnehmung, und damit an die Ästhetik als sinnliche Erkenntnis, appelliere, dass wiederum in der Wahrnehmung Wahrgenommenes und Wahrnehmendes unauflöslich ineinander verschränkt seien. Dies zu wissen genüge nicht. Es müsse gespürt und erfahren werden. Für Böhme ist Ästhetik somit kein nice to have, sondern Bedingung der Möglichkeit gelingender Naturethik. Hier nehme ich viele Resonanzen mit der Resonanztheorie wahr…
Brechen wir das Experiment der Komplexitätssteigerung ab, dann taumeln wir bald wieder von Ismus zu Ismus, glauben mal an die Macht der Gene, mal an die Macht der Nation, mal an die Macht des Klimas, mal an die Macht der Gesellschaft, mal an die Macht der Vitamine, mal an die Macht Gottes, mal an die Macht der Psychotherapie… Voegelin nannte das moderne Gnosis. Und genau in dieser Tradition sehe ich die neuen populistischen Bewegungen weltweit, so unterschiedlich ihr jeweiliges ideologisches Rüstzeug auch beschaffen sein mag. Die Welt ist, zumindest in signifikanten Teilen, offenbar ihrer Komplexität müde geworden. Sie möchte wieder zurück zum lonesome action hero, sie möchte wieder Spaß an der enthemmten Handlung verspüren, sie möchte mal wieder durchgreifen, durchlüften, klare Luft atmen, sich Luft verschaffen. Genau das leben Typen wie Trump und Erdogan vor. Das ermüdende Ringen mit der vielköpfigen Hydra des Globalen, Transkulturellen oder Dividuellen kann da nicht mithalten. Und ist dieses Bedürfnis nach Action nicht auch irgendwie verständlich?
„Die aufgeklärte Vernunft erkennt subjektive Fakten eigenen Rechts an – doch nicht auf Kosten allgemeinverbindlicher Fakten.“
(Paul Stephan)
Paul Stephan: Ja, das wäre ein schönes Schlusswort, auf das wir uns denke ich beide einigen könnten. Doch zur Wahrheitsfrage – die ja meine Kernkompetenz berührt – möchte ich doch noch etwas loswerden: Ich denke, Trumps Wahrheitsverständnis hat sich sehr gut anlässlich seiner Inaugurationsfeier gezeigt. Natürlich ist für jeden Präsidenten von der Bühne aus betrachtet und aufgrund der persönlichen Wichtigkeit dieses Ereignisses seine Inaugurationsfeier die jeweils größte, tollste und beste aller Zeiten. Genauso, wie für jeden der jeweils eigene Schulanfang der alleraufregendste war, die jeweils eigene Fahrprüfung die allerschwierigste, die Verleihung des eigenen Doktortitels die allerfeierlichste … Nur würde man eben vom Standpunkt aufgeklärter Vernunft neben dieser subjektiven Ebene (die ja durchaus eine Faktizität eigenen Rechts impliziert) noch eine zweite Ebene akzeptieren, die der für alle zugänglichen, allgemeinverbindlichen Fakten, die keine „alternativen Fakten“ zulassen. Bzw., genauer: Ja, es ist anzuerkennen, dass Trump seine ganz persönliche Sicht auf die Ereignisse hat – doch er begeht einen Kategorienfehler, wenn er diese persönliche Sicht als „Fakten“ im gewöhnlichen Sinne zu behaupten versucht.
Der entscheidende Unterschied zwischen der infantilen und der aufgeklärten Perspektive ist eben nicht, ob man bestimmte Fakten akzeptiert oder nicht. Sondern dass man überhaupt akzeptiert, dass es einen Unterschied zwischen meiner Wahrnehmung der Welt und der Welt, wie sie wirklich ist, gibt und dass es einen Wert hat, über das wirkliche Wesen der Welt möglichst gut informiert zu sein, um möglichst wenige falsche Entscheidungen zu treffen.
Unterstützt durch einflussreiche Strömungen in der Philosophie wird diese im Grunde doch recht banale realistische Weltsicht, auf der die moderne Wissenschaft fußt, derzeit immer mehr ausgehöhlt in einem Maß, wie es kaum zu fassen ist. Es ist kaum zu fassen, weil wir ja in einer völlig von der modernen Wissenschaft und ihrer Rationalität beherrschten Welt leben und eigentlich so gut wieder jeder an der Schule in diesem Denken geschult worden ist, in seinem Alltag es ja auch mehr oder weniger gut hinbekommt, danach zu handeln.
Das Problem ist leider, dass die moderne Weltsicht den Einzelnen und seine infantilen Phantasien immer wieder kränken muss. Man bekommt, gerade in der bürgerlichen Kleinfamilie, immer wieder gesagt, wie toll man ist und dann bekommt man schlechte Noten in der Schule, fällt durch die Fahrprüfung, scheitert im Studium, das Geschäft geht aufgrund eigener Fehlentscheidungen bankrott … Es gibt niemanden, dem es immer gelänge, angesichts solcher Erfahrungen immer in einem strikt rationalen Weltverhältnis zu verharren.
„Trump ist der zynische Vollender von Clintons linksliberaler Minderheitenpolitik.“
(Paul Stephan)
Wie ich schon andeutete, ist es ja auch nicht so, dass die infantile Weltperspektive einfach die Unwahre ist. Vielmehr ist erst sie es (wie etwa keinesfalls irrationalistische Denker wie Merleau-Ponty zeigen), die der rationalen erst ihr Fundament gibt: Auch wenn wir uns als Wissenschaftler von unserem Leib lösen und eine immer umfassendere Perspektive auf die Welt anstreben (wie es auch Nietzsche als Ziel proklamiert), müssen wir doch anerkennen, dass der Leib und mit ihm unsere kindlichen Bestrebungen immer den Hintergrund dieser Bemühungen bilden, dass eine völlige Ablösung von unserer Verwurzelung eben auch in geistige Verwirrung führen würde. Es gibt da eine Dialektik zwischen Hyperrationalismus und Irrationalismus, die da ja auch in deinen Ausführungen angedeutet wird: Gerade besonders progressive und avancierte philosophische Theorien führen in ihrer Infragestellung alles Unmittelbaren in einen universellen Skeptizismus, der dann wieder durch einen irrationalen Sprung in irgendein Unmittelbares kompensiert werden muss. Trump ist insofern der Vollender der postmodernen Philosophie und ihres Relativismus, das würde ich auch so sehen, in gewisser Weise gar der zynische Vollender von Clintons linksliberaler Minderheitenpolitik: Er macht nun eben konsequent Interessenpolitik für die größte Minderheit. Genauso wie ja auch Marc Jongen mit postmodernen Theoremen durchaus sehr gut vertraut ist und sie immer wieder zitiert. Wenn Geschlecht völlig konstruiert ist – warum dann nicht einfach das Konstrukt als Konstrukt bejahen und sich gegen Kritik so immunisieren?
Dieses Problem betrifft insbesondere Nietzsche, zu dem ich gerade viel arbeite: Nietzsche versucht ja eigentlich genau eine Vermittlung von infantiler (dionysischer) und erwachsener (apollinischer bzw. sokratischer) Perspektive zu denken – ein Versuch, der mir nach wie vor die beste Konzeptualisierung dieses Problems zu sein scheint, weil Nietzsche es in all seinen Dimensionen bedenkt. Zugleich vermag aber auch er keinen Ausweg daraus aufzuzeigen und verliert sich zum Ende hin zu sehr im reinen, unsublimierten Dionysischen. Dies hängt für mich damit zusammen, dass er keine wirklich soziale Lösung des Problems aufzeigt: Eine Überwindung des Gegensatzes von „kalter“ Marktökonomie und Eigensinn des Einzelnen in einer anderen Form des Wirtschaftens und der Politik. Diese „andere Form“ kann uns sicher nicht vom prinzipiellen Gegensatz von Ich und Welt erlösen (das kann wohl nur der liebe Gott), doch diesen vielleicht in eine etwas weniger dramatische Verlaufsform als die gegenwärtige Ordnung bringen, die immer wieder den Faschismus als ihren regressiven Gegenpol erzeugt.
Vielleicht wäre eine solche etwas utopische Vision (freilich im Sinne einer realistischen Utopie) auch ein Schlussakkord, mit dem Du leben könntest?
Jörg Scheller: Vielen Dank auch für diese Antwort! Ich möchte mit einer kleinen Akkorderweiterung schließen. Jongen mag, infolge seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule für Gestaltung, ein Kenner postmoderner Diskurse sein. Umso erschreckender aber ist es, dass er, wohl aus politisch-ideologisch-gesinnungsethischem Kalkül, seine in der Konservativen Revolution der 1920er und 30er Jahre wurzelnde Kulturkritik nur gegen einen grotesk verstümmelten Begriff der Postmoderne in Stellung zu bringen vermag, sich also einen Gegner zurechtzimmert, den es so nicht gibt.
So schreibt Jongen in der Einleitung zu seiner Dissertation von der „glücklich überwundenen, kurzatmigen und frivolen Verlegenheitslösung der sogenannten ‚Postmoderne‘, die politisch ein endloses Weiterprozessieren selbstläufig gewordener Verhältnisse, epistemologisch ein unendliches referenzloses Flottieren von Signifikanten postulierte“. Das ist, schlicht und ergreifend, unwissenschaftlich, vulgo falsch, und auf eine Weise tendenziös, die das unvermeidliche Maß – natürlich ist keine Wissenschaft „rein“ oder „interesselos“ – überschreitet. Nur eine Kommission, welche dieselbe gesinnungsethische Haltung vertritt, kann eine auf solchen Prämissen gründende Arbeit akzeptieren.
Die Postmoderne war mal ein Gedankenstrich. Heute ist sie ein Punkt.
(Jörg Scheller)
Damit sind wir wieder bei der „Wahrheitsfrage“, die Du zu Recht gestellt hast. Besagter Passus ist symptomatisch für eine (unterschwellige) Ideologisierung und (offene) Politisierung der (universitären) Wissenschaft, die wir auch im linken, derzeit vor allem im poststrukturalistischen Spektrum beobachten können – zumindest habe ich diese Erfahrung in meiner bisherigen Lehrtätigkeit an diversen Hochschulen gemacht. Poststrukturalistisches Denken gilt implizit als politisch progressiv. Damit komme ich noch einmal auf meinen vorigen Punkt zurück, die Verkrustung und Fossilierung der Postmoderne als (mögliche) Möglichkeitsbedindung der Renaissance des Reaktionären: Gerade an Kunsthochschulen ist die Postmoderne institutionalisiert, normalisiert, ja folklorisiert worden. Da – so erlebe ich es – herrscht mittlerweile ein paradoxer Postmodernismus-als-Positivismus, da existiert ein Kanon von postmodernen Meisterdenkern, der mich irritiert. Die Postmoderne war mal ein Gedankenstrich. Heute ist sie ein Punkt. Aber das ist hier nicht der Punkt…
Was Jongen unterschlägt, ist, dass postmodernes Denken und Handeln nicht zuletzt eine mehr als nur verständliche Reaktion, natürlich oft auch eine Überreaktion, auf totalitäres und autoritäres Denken und Handeln waren und dies weiterhin sind – alleine in dieser Hinsicht stellen sie sicherlich kein „Weiterprozessieren“ politischer Verhältnisse dar. Er unterschlägt, dass es viele unterschiedliche postmoderne Theorien und Haltungen gibt, und dass gerade aus den queeren Strömungen der Postmoderne etwas entstanden ist, das so gar nicht zum unterstellten „referenzlosen Flottieren“ passt: identity politics. Er unterschlägt, dass weite Teile der Postmoderne gerade nicht „frivol“ sind, sondern sich aus genuin ethischen Überlegungen speisen. Wenig überraschend also, dass der Frivolität unverdächtige Themen wie „Verantwortung“ im Spätwerk von Jacques Derrida eine zentrale Rolle spielen. Kurz: Die Dämonisierung des Gegners oder Feindes, welche die demagogischen politischen Rhetoriken am Bosporus, an Elbe und Rhein, am Potomac und am Rio Guaire kennzeichnet, findet ihre Entsprechung in der pseudowissenschaftlichen Dämonisierung der Postmoderne, welcher allerdings manche Apologeten der Postmoderne durch Kanonisierung und Jargonisierung eigenhändig Vorschub geleistet haben.
Wie sich jene Vertreter der Postmoderne reflexhaft auf „Pluralität“, „Offenheit“ oder „Performanz“ berufen, so berufen sich die neuen Reaktionären reflexhaft auf „Identität“, „Heimat“, „Kultur“ oder „Werte“. Dabei handelt es sich natürlich um Ready-mades, die sie, wie einst Marcel Duchamp sein Urinal, von den Trümmerhaufen der Geschichte nurmehr in ihre Parteizentralen oder in ihre unbewegten Horte der Bewegung zu verfrachten brauchen. Da stehen sie nun, fernab des unvorteilhaften Lichts der Skepsis. In einem Essay für den Deutschlandfunk hat Daniel Hornuff kürzlich geschrieben: „Wo allenthalben wie von Sinnen nach kulturellen Identitäten geschrien und immer neue Leitkulturen ausposaunt werden, besetzt der Sich-selbst-Misstrauende einen anderen Ort. Dort mag er ebenfalls mit dem ganzen Eifer seiner Person über Werte diskutieren – er wird aber längst nicht so leicht in Versuchung geraten, Werte als gegeben zu betrachten. Und mit Sicherheit wird er leidenschaftlich für seine Sache streiten – aber zugleich wissen, dass diese jeweils nur eine unter vielen anderen ist.“
In diesem Sinne: Der leidenschaftliche Streit geht weiter, muss weitergehen – nicht nur mit den „Anderen“, sondern auch, und vielleicht mehr noch, mit sich selbst…
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