Was sind das für zornige Zeiten? Der Sturm auf das Kapitol ist sicher noch nicht der Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung, bei der sich in den westlichen Demokratien mehr und mehr das Gefühl eingeschlichen hat, dass den berechtigten und unberechtigten Forderungen der Bevölkerung nichts weiter entgegengesetzt wird als eine professionelle, besonnene und unverlässliche Kommunikation der Mächtigen, die weder etwas sagt, noch zugehört hat. Streit wurde allzu lange vernünftig weggelächelt und das Gespräch vermieden. Doch wenn das Gespräch versagt, wird Gewalt zum Bedürfnis.
Jetzt machen die Bilder sprachlos. Ein selbsternannter Schamane mit einer Mütze aus Bisonhörnern und Kojotenfell steht mit einer Lanze gröhlend im Parlament der dienstältesten Demokratie. Auf seiner entblößten Brust sind die Symbole von Valknut, Yggdrasil und Mjölnir eintätowiert, die altgermanischen Embleme für Wotan, die Weltesche und den Kriegshammer Thors. Die Karriere dieses Mannes bestand aus Gelegenheitsschauspielerei und verworrenen Büchern und Videos, die klar zeigen, wie tief dieser Mensch an rechtsextreme Ideologien glaubt. Einen solchen Menschen wie Jake Angeli darf man sicher einen Rassisten und Rechtsextremen nennen. Ein solcher Begriff bestimmt ihn in seinem Wesen und Charakter. Solche Menschen sind eine Gefahr für die amerikanische Demokratie und machen sich eines Verbrechens schuldig.
Der Rassismus wird unscharf
Nun ist aber nicht zu übersehen, dass weder in den USA noch hierzulande der Vorwurf des Rassismus auf solche Menschen wie Jake Angeli beschränkt bleibt. In jüngster Zeit sahen sich diesem Vorwurf selbst Dieter Nuhr, Lisa Eckhart und Martin Sonneborn ausgesetzt, also Komiker, zu deren Handwerk es gehört, so kräftig von allen Klischees und Vorurteilen Gebrauch zu machen, wie es keine ernste Schmerzgrenze erlauben darf.
Wie alle guten Dinge verliert auch der Vorwurf des Rassismus an Qualität, je mehr er in Massen produziert und reproduziert wird. Gerade unter dem Vorwurf des „strukturellen“ Rassismus sollen alle möglichen Reden und Verhaltensweisen aus der Welt geschafft werden, die sich angeblich schuldig gemacht haben. Das Verbindende des strukturellen Rassismus ist aber nicht irgendeine Struktur – das Verbindende ist, dass es dabei um Handlungen geht, die jenseits einer Straftat liegen. Ein struktureller Rassist kann nicht festgenommen werden, wie Jake Angeli. Ein solcher angeblicher Rassist hat sich nämlich nur moralisch schuldig gemacht, soll sich für sein Fehlverhalten entschuldigen und bleibt als gesellschaftliche verfehmte und geächtete Person zurück.
Die Beschuldigten reagieren auf solche Anschuldigungen mit Wut und Zorn – durchaus nicht zu Unrecht. Wut und Zorn sind der Preis für eine Enge, die sich weiter zuschnürt. Der Meinungskorridor des noch Sagbaren, des vermeintlich Kritischen, das sich nicht weiter rechtfertigen muss, wird nämlich immer enger und moralischer, wie es Bernhard Schlink schon 2019 treffend analysiert hatte. Das Moralisierende des Meinungskorridors zeigt sich einfach daran, dass alles, was außerhalb dieser schmalen Bahn liegt, als möglicherweise berechtigte Meinung gar nicht mehr ernst genommen wird.
Rassismus als Beleidigung
An die Stelle einer Auseinandersetzung tritt eine Beleidigung. Solche Diffamierungen sorgen nicht nur für einen Zorn der Gegenseite – sie stärken sie auch wider Willen. Hierzu muss man eigentlich nur Eines verstehen: Der Vorwurf „Das ist ein Rassist!“ ist mittlerweile in den meisten Fällen kein Satz mehr, der versucht, sich einem Begriff von der angesprochenen Person zu machen. Es ist in den meisten Fällen heiße Luft, beleidigend in der Intention und strukturell ein argumentum ad personam.
Die Rhetorik und Dialektik haben immer zwischen sachdienlichen Argumenten (ad rem) unterschieden und solchen, die nicht der Sache dienen. Die sachlich untauglichen Argumente gehen auf die Person (ad personam), die sich zu einem Thema geäußert hat. Sie stärken oder schwächen deren Ruf, deren Ansehen und Glaubwürdigkeit. Bei Lob oder Diffamierung geht es um die gesellschaftliche Verwertung des Menschen im Ganzen.
Seit der Vorwurf des Rassismus seine analytische Schärfe verloren hat und nicht mehr nur jene verbrecherischen Machenschaften eine Jake Angeli unter sich fasst, dient dieser Vorwurf nicht mehr zu einer sachdienlichen Auseinandersetzung mit einer anderen Meinung. Er dient bloß zur Diffamierung, will die andere Person ins gesellschaftliche Abseits drängen und entspringt der Denkfaulheit.
Ist dieser Versuch erfolgreich, wird aus der diffamierten Person ein Ausgeschlossener, dem im schlechtesten Fall Erfolg trotz Können versagt bleibt. Aus der Absage an die Person folgen reale Absagen, die eine Wirkungsmöglichkeit der verfehmten Person versagen. Es geht bei solchen Vorwürfen nie um eine sachliche Auseinandersetzung – es geht immer um die Zerstörung der Person und ihres Rufes.
Eigentlich sollte man deswegen mit solchen Vorwürfen, die behaupten, jemand habe sich gegen die Menschlichkeit vergangen, besonders vorsichtig sein. Das Gegenteil wird mehr und mehr der Fall.
Der Umgang mit reflektierten Beleidigungen
Wie kann man geschickt damit umgehen? Erstens: Streiten Sie die Zuschreibung ab und kehren Sie die Beweislast um! Gespielt oder echt – ein wenig Empörung über eine solche gezielte Unverschämtheit darf mit dabei sein. Zwingen Sie den Anderen außerdem zu begründen, warum er Sie für einen Rassisten hält. Dann kommt schon heraus, wie schmalbrüstig die meisten Rufmörder eigentlich sein müssen, damit sie im Meinungskorridor vorwärts kommen können. Sie sind gewohnt, sich nicht rechtfertigen zu müssen.
Wenn die sachliche Haltlosigkeit des Vorwurfs klar geworden ist, kann man in einem zweiten Schritt den Spieß umdrehen und dem Gegner die bösartigen Unterstellungen vorhalten, die Unsachlichkeit und Unbedachtheit. Das ist natürlich eristische Rhetorik (die Kunst, Recht zu behalten), aber politische Korrektheit, also die Konformierung in den Meinungskorridor des noch Sagbaren, arbeitet selbst mit solchen Mitteln, ohne es zu merken.
Hinter der angeblichen Elite urbaner Milieus, die regelmäßig die Rechten in Wut und Zorn versetzen, stecken auch die unfairen Strategien einer eristischen Überredungskunst, die sich ausgiebig der Argumente ad personam bedient oder das Gesagte als Hass diffamiert. Durch den eigentlich ethisch neutralen Raum der Dissidenz, den jede Demokratie fördern sollte, fegen Stürme aus verbalen Exkrementen, die um einen Hashtag kreisen.
Die Gefahr der Rassismus-Beleidigung
Generell gilt: Die Diffamierung mit Begriffen, die nicht zutreffen, ist verlogen und zudem noch hinterhältig. Es ist völlig gleichgültig, ob sich das vermeintliche Opfer verletzt fühlt oder nicht. Auch jedes gekränkte Opfer hat eine Beweispflicht und muss begründen, warum ein angeblicher Täter ein tatsächlicher Täter sein soll. Keine Minderheit darf von sich aus bestimmen, dass sie unterdrückt wird und wer es ist, der sie unterdrückt. Mitleid oder falsche Toleranz sind hier ein schlechter Ratgeber. Sonst können solche Mechanismen der Diffamierung ungehindert wirken, sowohl aus berechtigten als auch aus ungerechten Motiven.
Beiläufig gesagt, haben gerade die deutschen Gerichte eine bemerkenswerte Indolenz gegen die Ausbrüche von Wut und Zorn in Hassreden gezeigt. Das Meiste muss als Teil des politischen Kampfes um Macht ertragen werden. Vom zulässigen Vorwurf zu einer wirklichen Untat, die bestraft werden muss, ist es eben noch ein weiter Weg.
Eine unsachliche und diffamierende Eristik macht Stress und überzeugt nicht. Wenn zudem die Stressmacher in den gesellschaftlichen Spitzenpositionen sitzen und (wie Nico Semsrott) glauben, sie würden ihre Haltung dadurch beweisen, dass sie nicht bloß Privilegierte sind, sondern Privilegierte, die über sich selbst reflektieren können, wird der unreflektierte Pöbel mit zielsicherer Urteilskraft die Diffamierung umkehren und das unsachlich behandelte oder unwichtige Problem ebenso unsachlich als ein urbanes Elitenproblem oder einfach als Verlogenheit abtun. Damit steigt die Indolenz der Masse gegen den vielleicht auch mal berechtigen Vorwurf des Rassismus.
Dieser Mangel an Wahrhaftigkeit treibt die Radikalisierung voran und macht aus Mäusen Elefanten, aus Schamanen Vandalen und aus Komikern Rassisten.
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