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Die Erneuerung

Die Erneuerung

 

Ein Gastbeitrag von Heide Ruszat-Ewig1)Die Autorin hat auch einen Artikel in der aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift Narthex publiziert.

 

Die Königin wandte sich ab, denn der Wind kam stark vom Wasser her. Am Fluss unten die letzten Vorbereitungen. Dieses Mal, hatte sie beschlossen, dieses Mal nicht mehr. „Ich werde nicht dabei sein“, sagte sie. Er war neben sie getreten. „Du weißt aber“, antwortete der König:

„Du weißt“. Und er dachte an den Auftrag des Vaters. Er sah sie an. Sie hatte verstanden. Vielleicht war es noch zu früh.

Am Wasser ordneten Tempeldiener Zauberstäbe und rückten die Kultsteine wieder in die zeremonielle Ordnung, die der Wind gestört hatte. In einem großen Korb trugen Priester die lebendige Gottheit zum Ort ihrer Verehrung hinunter. Apophis, das göttliche Schlangentier rührte sich nicht.

Das Königspaar stand nebeneinander, dem Fluss zugewandt. Ihre Gegenwart segnete die festlichen Vorbereitungen.

Der Vater hatte die Saat zu etwas Neuem gelegt. Nun sollte sie aufgehen.

Sie hatten es gespürt, in ihrer geschwisterlichen Vertrautheit, bevor er es ihnen mitgeteilt hatte.

Vor seinem Tod hatte sie der Vater in sein Gemach gebeten. Und da sahen sie es: auf einem vorspringenden Sockel an der Wand über seiner Liegestatt. Das Zeichen, unter dem der alte Pharao eine religiöse Erneuerung verwirklicht sehen wollte. Er hatte auf seinem dunklen schmalen Bett gesessen, ein feines Leintuch bedeckte die weiche Unterlage. Kissen stützten seinen Rücken, eine Seidendecke lag über seinen Beinen. Nach ihrem Eintritt winkte er die königlichen Sklaven hinaus. Die Thronerben waren mitten im Raum stehen geblieben und starrten auf die goldene Scheibe über dem Vater. Der Alte machte Anstalten, als wollte er sich erheben. Mit wenigen Schritten waren sie an seinem Bett, stützten ihn und halfen ihm aufzustehen. Er wandte sich zum Fenster, und sie führten ihn schweigend an die Öffnung. Ihr Blick war auf den Kultplatz der heiligen Schlange gefallen. Da sagte der schon vom Tod Gezeichnete: „Es soll nur noch einen Gott geben, einen Lenker des Weltalls und des Schicksals der Menschen. Und kein Pharao soll mehr als Gott verehrt werden.“

Bei seiner Totenfeier hatten sie in dem breiten Aufweg zum Tempel einen lang gezogenen haarfeinen Riss entdeckt, der kurz danach nicht mehr zu sehen war.

Im Palast war das heilige Sinnbild aus seinem Gemach entfernt worden. Sie hatten es über ihren Thronsesseln anbringen lassen: Hoffnung ihrer Fruchtbarkeit und Zeichen der väterlichen Hoffnung.

„Wie lange wollen wir noch warten?“, fragte die Königin jetzt. Ihr Bruder-Gemahl atmete tief: „Es wird schwer werden. Das Volk braucht die vielen Götter. Nur ein einziger, außer dem es keinen mehr geben soll … ?“ „Ja, ein Riss wird durch unser Reich gehen, ich denke auch an die Priester, die Schwierigkeiten machen werden.“

 

Heide Ruszat-Ewig, 9. Februar 2022

Fußnoten

Fußnoten
1 Die Autorin hat auch einen Artikel in der aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift Narthex publiziert.

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