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Rückzug und Unverfügbarkeit

Es gibt Botschaften, die gleich ankommen. Man liest sie und sie sind da, man hat sie aufgenommen und verstanden. Oft ist das so, weil sie etwas bestätigen, was man ohnehin gewusst hat. Und dann gibt es Botschaften, die lange brauchen, um anzukommen. Als ich das erste Mal gelesen habe, dass Hartmut Rosa über Resonanz als Gegenbegriff zur Entfremdung in einer beschleunigten Moderne schreibt, löste es bei mir eine ähnliche Reaktion aus wie bei vielen meiner Kommilitonen:[1]

Wir waren enttäuscht. Wir fühlten uns verraten oder betrogen. Wir wollten andere Antworten hören – revolutionäre Politik oder zumindest schonungslose Kritik alles Bestehenden, gepaart mit besserwisserischem Pessimismus. Es schien als wäre Rosa aus der Kritischen Theorie in ein grünes Bürgertum abgewandert, das mit Yoga und Achtsamkeit die Fundamente einer Moderne stützt, die auf Abwege geraten ist. Kritische Theorie sollte sich nicht im Fahrwasser von Theosophen, Homöopathen und Esoterikern bewegen und hat auf Workshops für das höhere Management, die mit Eseln oder Alpakas durch die Prärie ziehen, schon gar nichts verloren.

Ich glaube diese Einschätzung war völlig falsch. Auch wenn die Schlagworte Beschleunigung und Resonanz überall anknüpfungsfähig sind, wo jemand mit der neuen Benutzeroberfläche von Excel überfordert ist, sind die Probleme, die Rosa bespricht auf der Höhe unserer Zeit.

In einer Welt der Moderne, die überall auf die Ausweitung der Möglichkeiten, die Nutzbarmachung von natürlichen und menschlichen Ressourcen, die Erreichbarkeit von Orten und die Verfügbarkeit von Erlebnissen ausgelegt ist, bilden Resonanzerfahrungen eine paradoxe Situation. Sie lassen sich per se nicht erzwingen. Man denke einmal an Kurt Tucholskys „Die Kunst, falsch zu reisen“[2] – keine Erweiterung der Weltreichweite, keine Erschließung neuer Erholungsgebiete kann uns von dieser Kunst befreien.

Die Unverfügbarkeit von Resonanzerfahrungen blüht in ähnlichen Paradoxien auf, wie Zenons überlieferte Bewegungsparadoxien. Je näher man dem Ziel kommt, desto weiter weg erscheint es. Ich finde das Beispiel der Musik sehr treffend. Musikalische Resonanzerfahrungen dürften vielen Leuten bekannt sein.

Nehmen wir ein Szenario an:

Ich bin noch jung und die Welt ist mir unbekannt, da entdecke ich auf dem Flohmarkt ohne danach zu suchen eine CD, die mich anspricht. Schon das Cover begeistert mich. Ich kaufe sie, ohne sie mir vorher anzuhören, zu Hause höre ich sie und mir eröffnet sich ein neuer Stil, eine neue Welt. Ich fühle mich in meinem Gefühl bestätigt, das ich schon beim Anschauen des Albumcovers gehabt habe, vielleicht überkommt mich sogar das Gefühl, mein bisheriges Leben oder mein Charakter wäre darauf ausgelegt gerade das zu hören und gerade so zu empfinden. Im Versuch diese Empfindung auszuloten, grabe ich mich immer tiefer in die Sache ein, belese mich über den Stil und die Musiker dahinter, eigne mir die typische Kleidung an, kaufe mehr Alben, gehe auf Konzerte, lerne immer mehr Musiker kennen. Endlich benutze ich Streamingdienste und habe die Verfügbarkeit über alle Raritäten und Bootlegs des Genres immer bei mir und dann bemerke ich vielleicht, wie sich das Gefühl meinen Versuchen widersetzt, ihm habhaft zu werden. Je mehr ich mich darum bemühe, es einzuholen, desto flüchtiger scheint es zu werden. Also versuche ich das Gegenteil und spiele dem Ding gegenüber gleichgültig, aber mit demselben Effekt. Meine Versuche, die Berührung zu wiederholen, sie mir gefügig zu machen, resultieren im Verstummen. Es ist als seien die Organe abgenutzt, unfähig noch einmal so berührt zu werden.

Was machte diese Begegnung dabei so besonders? Die erste Antwort ist naheliegend; ich war jung. In der Jugend ist man jünger, naiver, verletzlicher, aber auch begeisterungsfähiger – im Alter nutzt man ab, bildet Hornhaut und Narben, igelt sich ein und wird gleichgültiger. Das scheint mir aber nicht die ganze Antwort zu sein. Schließlich sind auch im weiteren Verlauf des Lebens solche prägenden Eindrücke möglich. Kann es vielleicht einen anderen Grund dafür geben? Diese Erfahrung von Musik war nicht erzwungen, sie war nicht von dem Wunsch geleitet die Wirkung zu entfalten, die sie entfaltet hat. Gerade die Unerreichbarkeit, die Unverfügbarkeit,[3] machte ihren Zauber aus. Solche Momente der Unverfügbarkeit scheinen alle memorablen Bereiche der Erfahrung zu durchziehen. Das Liebesleben genauso wie den Urlaub, den Sport, die Kunst, das Lesen, geselliges Beisammensein, das Familienleben, sogar die Arbeit – immer scheint im Versuch, Resonanzerfahrungen unter Kontrolle zu bringen, gerade das wesentliche Moment abhanden zu kommen. Rosa versucht dieses Verhältnis mit Resonanzachsen zu beschreiben, die zwischen mir und der Welt liegen. Wenn mein Erlebnis resoniert, müssen also irgendwie Ruf und Widerhall zusammenspielen. Die Situation antwortet mir, ich erfahre mich selbst als wirksam, die ansonsten vorherrschende Gleichgültigkeit aller Dinge erfährt eine Ausnahme. Wenn sich zwei Menschen begegnen und resonieren, ist das für mich nicht weiter verwunderlich. Von Menschen geht eine Art von Magie aus. Auch von Tieren kann ich diesen Zauber akzeptieren. Was mich philosophisch interessiert, ist:

Warum kann ich mit einem Berg resonieren, mit einer Landschaft, mit einer Melodie oder mit einem Text?

Die Frage führt mich zu einem Gedanken, den ich schon über die letzten Jahre ausbrüte: Wir wissen einen Scheiß darüber, was das Ding eigentlich ist.

Der klassische Materialismus hat dazu verblüffender Weise nichts zu erzählen. Was seinem Anspruch nach die Philosophie der objektiven Realität sein will, ist in der Frage nach dem Objekt völlig unbrauchbar. Wenn ich eine Melodie auf der Gitarre spiele, die fließt oder widerspenstig ist, die durch mich hindurchgeht oder die ich erzwingen muss – wie kann ich das streng materialistisch erklären? Natürlich, indem die hohe Organisation der Materie, die mein Gehirn darstellt, mit der Organisation der Materie des Instruments interagiert und die Materie um sich herum in Schwingung versetzt, die das Gehirn wiederum zu Tönen macht. Fortan ergeht die Diskussion dann über den Zusammenhang der subjektiven Empfindung (Intervalle, Melodie, die Widerspenstigkeit oder der Flow, Gefallen oder Missfallen usw.) mit der objektiven Bewegung der Teilchen. Kein Wunder also, dass sich die Diskussion über psychophysischen Parallelismus, Materie-und-Geist-Dualismus, Epiphänomenalismus usw. in methodisch-peniblen Kleinigkeiten verliert; sie hat über die lebendige Erfahrung nichts zu erzählen. Sicherlich kann uns die Hirnforschung viel über die Organisation und Funktionsweise unseres Gehirns erzählen, aber hier nach der Antwort zu suchen, was das Ding sei oder warum ich in Interaktion, sogar in Resonanz mit einer Melodie treten kann, erinnert mich an den Witz mit dem Mann, der seinen Schlüssel unter einer Straßenlaterne sucht. Hat er ihn dort verloren? – Nein, aber sonst ist es ja überall dunkel!

Selbst Marx, dem ein solcher Materialismus eigentlich nicht vorzuwerfen ist, gerät in der qualitativen Beschreibung von Entfremdung irgendwo an die Grenzen seiner Sprache.

Auf der anderen Seite der Philosophie, also im materialismusfernen Gefilde, scheint man sich ebenfalls vom Objekt verabschiedet zu haben. Sowohl in vielen Spielarten poststrukturalistischer Theorie als auch in weiten Teilen der analytischen Philosophie hat der linguistic turn ganze Arbeit geleistet. Von Wittgenstein wissen wir ja, dass der Käfer in der Schachtel nicht zum Sprachspiel gehört. In der Sprachphilosophie wie auch in ihrem politischen Reflex gilt das Objekt überall dort, wo ihm eine Eigenmacht zugesprochen wird als Atavismus, wenn nicht sogar als zum Reaktionären tendierende Nostalgie. Die Erklärung von Widerständen der Realität als diskursive Verwicklung wesentlich sprachlicher Machtkämpfe erscheint mir als ein Ausdruck des Wunsches, die Welt unter Kontrolle zu haben und reiht sich gut ein in die Analyse der Moderne als Misslingen, das Unverfügbare verfügbar zu machen.

Unter den gegenwärtigen Strömungen der Philosophie sehe ich nur den spekulativen Realismus als aussichtsreichen Versuch, Resonanz und Unverfügbarkeit philosophisch zu beleuchten. Gehen wir einmal diesen phänomenologischen Schritt mit, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt in der Erfahrung zu unterlassen, das ganze stattdessen als eine Sphäre zu betrachten und von Gegebenheitsweisen der Erfahrung zu sprechen. Wir vollziehen die Epoché, abstrahieren vom Sein und beschreiben die Erfahrung phänomenal.

Meine Finger leiten über die Seiten und die Melodie ereignet sich. Zuweilen verschwindet die Welt um mich herum oder taucht in Inseln wieder auf. Geraten die Finger ins Stocken, taucht der Takt auf, weil ich ihn verfehle. Verfehle ich ihn nicht, ist er nicht da. Wenn ich darüber nachdenke, dass das Spiel sich von selbst ereignet, merke ich, wie es mir entgleitet und ich wieder in meinem Zimmer sitze, in dem ich eben nicht gewesen bin.

Ich kann es noch einmal versuchen. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht in ein paar Tagen. Die interessante Frage ist, spiele ich dann dieselbe Melodie? Und wenn sie jemand anders spielt, ist sie dann auch dieselbe?

Die phänomenologische Epoché klammert das Sein aus, aber diese Klammer, scheint mir, wird nicht wieder eingelöst. Phänomenologisch sprechen wir von Gegebenheitsweisen, die Gegebenheitsweise der Erfahrung beim erneuten Spielen kann als ähnlich beschrieben werden, aber die Substanz der Melodie bleibt davon unberührt. Das ist der Punkt, den der spekulative Realismus überbietet. Graham Harman spricht vom Rückzug des Objekts (withdrawal). Die Melodie, die ich spiele, ist durch ihre Gegebenheitsweise nicht erschöpft. Wenn ich mit ihr in Verbindung trete, dann zieht sich ein Teil von ihr hinter einen Schleier aus schwarzem Rauschen zurück und ein anderer Teil wird mir durch die Gegebenheitsweise offenbar. Es ist mir nicht möglich sie gänzlich zu erfahren. Ich kann ein Ding zerstören und vernichten und habe es doch nicht an allen Stellen berührt, an denen es berührt werden kann. Das ist das erste spekulative Moment dieses Realismus: Seiten des Dings sind uns verborgen und wir sprechen doch darüber.

Die zweite Spekulation besteht darin, dass der Rückzug des Objekts nicht als transzendentale Eigenschaft des Subjekts erklärt werden kann. Er gehört dem Objekt an. Folgerichtig finden Interaktionen nicht nur zwischen Subjekten und Objekten statt, sondern ereignen sich auch zwischen den Dingen. Auch in diesen Interaktionen ziehen sich die Dinge zurück, sie berühren sich niemals in allen Aspekten. Harman zitiert dafür gerne den Dichter Rumi:

Wenn das Feuer die Baumwolle verzehrt, berührt es sie nicht in allen Eigenschaften.

Damit wird einem Bereich des Kosmos Realität zugesprchen, der sonst nur der Fantasie der Dichter offensteht. Jede Begegnung hat eine qualitative Seite. Diese kann ganz anders sein als die Intentionalität unseres phänomenalen Bewusstsein, aber wir gehen davon aus, dass sie ist. Die Spannung der Teilchen, kurz bevor der Blitz einschlägt, in einem entlegenen Teil der Welt, Prozesse der Materie, die zu klein, zu groß, zu langsam oder zu schnell für unsere Sinne und Instrumente ablaufen, Meteoritenschauer in einem unbeobachteten Teil unseres Universums oder Spektakel aus unvordenklichen Zeiten, lange vor der Ausbildung biologischer Sinnesorgane haben ihre phänomenale Seite. So ist zumindest die Spekulation, ohne dass wir behaupten könnten, zu wissen, wie die Berührungen der Dinge sind.

So weit, so gut. Doch wie steht der spekulative Realismus mit der Soziologie der Weltbeziehungen in Verbindung?

Hartmut Rosa kann uns helfen diese Philosophie richtig zu deuten und ihre Anwendung sozusagen in den Dienst der Menschheit zu stellen.

Bei Alexandr Dugin las ich jüngst eine Einschätzung des spekulativen Realismus.[4] Er ist wie immer sehr kritisch gegenüber der Dekadenz des Westens. Für ihn ist der spekulative Realismus die Philosophie des Internets der Dinge. Darin liegt eine Tendenz, die nicht von der Hand zu weisen ist. Die Kommunikation der Objekte wächst zu einem wichtigen Faktor heran und droht die Souveränität des Subjekts einzuschränken. Transhumanistische Ideologie weist einen Weg über den Menschen hinaus. Bruno Latour beispielsweise vertritt die Überwindung des Humanismus als Relikt vergangener Zeiten sehr offen. Algorithmen beeinflussen das Denken, den Geschmack, die Meinungsbildung, Liebe und Sexualität, den Verlauf öffentlicher Diskurse, die Produktion, die Warenallokation, die Struktur politischer Entscheidungsfindung, künftig vielleicht sogar direkt die Rechtsprechung und die Gesetzgebung. Stellt der spekulative Realismus die philosophische Seite dieser Entwicklung dar? Legitimiert er letztendlich die Herrschaft der Dinge und ihrer Netze über die menschliche Gemeinschaft, weil er den Menschen seiner Exklusivität der qualitativen Seite von Bewusstseinsinhalten beraubt und ihn damit ontologisch neben, wenn nicht sogar unter die Dinge stellt?

Ich kann diese Funktion nicht ausschließen, ich glaube aber, dass er richtig verstanden die Werkzeuge bereitstellen kann, die Netze der Dinge philosophisch zu reflektieren und möglicherweise in sie einzugreifen. Denn so lässt sich ein Verhältnis zu den Dingen denken, das in anderer Sprache kaum auszudrücken wäre. Die Berührungen zwischen mir und der Welt und zwischen den Dingen selbst sind nicht immer von derselben Qualität. Der Rückzug der Melodie, die ich spiele, kann ein Mysterium bilden, das mich fasziniert und an sie bindet, dagegen kann die Ausweitung der Netze genau das Gegenteil bewirken, der Algorithmus versucht den Rückzug der Dinge einzuholen und entzaubert sie. Ich denke, dass sich diese Verfügbarmachung des Unverfügbaren zu einem wichtigen Kampfplatz der Freiheit entwickeln wird, den wir zurzeit noch nicht überblicken können.

Rosa stellt die These auf, dass nicht alle Formen der Unverfügbarkeit schon Resonanzerfahrungen ermöglichen. Nur eine Unverfügbarkeit, aus der etwas zu mir spricht, das mich anruft, vermag auch das Spiel von Hall und Widerhall zu einem Erlebnis zu machen. Auch wenn wir von künstlicher Unverfügbarkeit ausgehen können – etwa im Sinne von Zufallsgeneratoren, die für uns nicht zum Voraus berechenbar sind, besteht noch eine Differenz zur tatsächlichen Bedingung von Resonanz. Mit der Ausweitung des Netztes der Dinge, insofern es die Verlängerung des menschlichen Bedürfnisses nach der Beherrschung des Ungebändigten darstellen, kann ein resonantes Verhältnis der Welt nicht hergestellt werden.

 

[1] Rosa, Hartmut. Resonanz: Eine Soziologie Der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, 2016.

[2] https://www.textlog.de/tucholsky-kunst-reisen.html

[3] Rosa, Hartmut. Unverfügbarkeit. Wien: Residenz Verlag, 2018.

[4] http://www.4pt.su/en/content/speculative-realism

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