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Scherben des Götterkults in der Polis

Der Kernpunkt dieses kurzes Beitrags liegt darin, auf ein Spannungsverhältnis innerhalb der Geschichte der Polis aufmerksam zu machen. Ich möchte über eine ideengeschichtliche Entwicklung in der griechischen Klassik und ihre Widerspiegelung auf die Selbstwahrnehmung des Subjekts sprechen. In der Hauptsache soll gezeigt werden, dass die Polis Riten, Mythen und kriegerische Ideale aus der archaischen Zeit übernimmt, das mit der aufkommenden bürgerlichen Subjektivität kontrastiert.

Die griechische Kultur entwickelte sich in Auseinandersetzung mit Jahrhunderte lang währenden Kriegen. Im Zeitraum der sogenannten dorischen Wanderung des elften Jahrhunderts v.Chr., lebten die griechischen Völker unter ihren Königen noch in mehr oder weniger kleinen Gemeinschaften. Befestigungen und Burgen dienten den Schutz der Aristokraten und Ritter. Der größte Teil der Bevölkerung lebte aber noch in bäuerlichen Dorfgemeinden. Da in vielen Fällen die dorische Wanderung eine dauernde Gefahr bedeutete, von anderen Völkern verdrängt zu werden, gliederten sich die Dorfgemeinschaften in Polisverbände ein.1)Vgl. Burckhardt, Jakob: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, München: Dtv, 1977, S. 16 ff/S. 60. Die politische Verbundbildung ermöglichte neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, so dass ab dem 8. Jahrhundert allmählich bürgerliche Lebenspraktiken entstanden, die die bäuerliche und adlige zwar nicht ganz verdrängten, aber doch ergänzten und nachhaltig veränderten.2)Vgl. Boehringer, David: Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit, Berlin: Akademieverlag, 2001, S. 166

An den Ursprung erinnerten die Griechen in einer unserer Welt fremden Weise. Im Gewand des Mythos sind historische Erinnerungen und Sagen miteinander vermengt und tradiert worden, so dass, wenn wir in ihnen nach einer historischen Erklärungen suchen, selber an eine Grenze stoßen, hinter der ihre vorgeschichtliche Gedankenwelt steht. Ist der Mensch noch in mythischen Denkweisen eingefasst, so steht er seiner Umwelt nicht analytisch gegenüber. Während die Entwicklung wissenschaftlicher Methoden dazu führte, allgemeine Regeln von besonderen Ereignissen zu trennen, Vorstellungen an der Wirklichkeit zu überprüfen und somit auf eine wesentliche Struktur der Welt zu schließen, ist der Mythos dadurch geprägt, das Besondere mit allgemeinen Prinzipien zu identifizieren.3)Vgl. Krois, John Michael: Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer, in: Poser, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1979, S. 204 f. In dieser Weise stehen die griechischen Götter nicht nur für ideele Zusammenhänge und Prinzipien sondern sind in jeder einzelnen Sache konkret anwesend geschaut worden. In dieser konkreten Anschauung ideeler Prinzipien liegt der Begriff der arché, durch welchen die natürlichen Erscheinungen mit ihrem göttlichen Ursprung unmittelbar verbunden und in ein zyklisches Zeitmodell eingefasst sind. In dieser Ordnung stellt jedes besondere Ereignis ein erneutes Eintreten eines Gottes in die Welt dar, sodass er sowohl einmalige Ursache als auch der allgemeine Grund für jenes ist. Der Mythos unterscheidet diese beiden Gesichtspunkte nicht und wirkt deswegen für uns Zeitgenossen des technologischen Zeitalters doch so befremdlich.4)Vgl. Hübner, Kurt: Mythische und wissenschaftliche Denkformen, in: Poser, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, S. 81 f.

Das mythische Denken der Griechen lässt sich anhand ihres autochtonen Selbstverständnisses exemplifizieren. Sie führten ihre Geschlechter und Stämme auf eine eigene Urbevölkerung zurück. Dabei hinderten fiktive Bilder, Widersprüche oder logische Lücken nicht ihre Erzählungen. Im Gegenteil, man habe nach Burckhardt den Eindruck, die Griechen betrieben mit großen Vergnügen überwuchernde und fantasievolle Genealogien. Sie brachten sich mit den Mythen von der Entstehung des Menschen schlechthin in Verbindung oder erzählten Familiengeschichten, in denen sie von heroischen oder göttlichen Ahnen stammten. Vor dem Hintergrund dieser „naiven“ Weltauffassung setzt es nicht in Verwunderung, wenn ganze Stämme als Personifikationen eines altertümlichen Kriegshelden auftraten. So war die Polis war weit mehr als eine vertraglich geschlossene Einigung darauf, die Freiheit des Einzelnen für die Sicherheit Aller einzuschränken. Als die mythische Denkweise noch lebendig war, war die Stadtgründung unmittelbar mit dem Willen der Götter verstrickt. An manchen Orten standen Grabmäler oder Statuen derjenigen heldenhaften Gründer, die ein Stamm vor früheren Gefahren retteten. Lieder besangen ihren opfervollen Tod, Riten und Huldigungen waren ihnen gewidmet.5)Vgl. Burkhardt, Jakob: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, S. 22 ff/77 ff. Im Zuge der Einbindungen der Dorfgemeinden in die Polis und ihrer zunehmenden Institutionalisierung politischer Ämter, nahm die Polis den gesamten öffentlichen Raum ein, worunter auch die Kultpraktiken gehörten. So übernahm sie die alten Kulte und nahm sie in die demokratische Ordnung auf, sodass sie unter der Kontrolle der demokratischen Gruppen lagen. So wurden auch ganz dem Demos gewidmete neue Kulte hervorgebracht. Die Kultpraktiken der Adligen war zunehmend in private Kreise geraten oder sind ganz verloren gegangen. Die Gestalt ihrer Machtausübung war nun durch die institutionalisierten Ämter, um die sie rangen, umgeformt. Zwar sah die Aristokratie in den Ämtern eine aussichtsreiche Möglichkeit der Machtaneignung, doch waren die Ämter nun auch einer breiteren Schicht zugänglich und ihre Akzeptanz durch den Demos wurde immer wichtiger.6)Vgl. Boehringer, David: Heroenkulte in Griechenland, S. 121 ff.

Im klassischen Zeitalter kamen die identitätsstiftenden Riten unter die Kontrolle einer nun institutionalisierten Öffentlichkeit, an der eine breitere Bevölkerung teilnahm. Die mythische Identifikation der Einzelnen mit dem Allgemeinen, die in der ritterlichen und bäuerlichen Kultur noch in Gestalt einer Identifikation mit einem Urvater oder einem Gott auftrat, ist jetzt in eine Identifikation des Bürgers mit der übergeordneten Demokratie weiterentwickelt worden. Aufgrund der mythischen Denkform stellte sich die Polis selbst als ein göttliches Wesen dar, dem der Bürger ganz in seinem Dienst handeln und leben musste. Die Selbstvergötterung reichte dahin, dass die Polis ihre Gesetze und Verfassung als Göttergaben pries und sie als Nomos für eine höher stehende Objektivität verstand, die über alle Einzelwesen steht. Deshalb nahm sie deren ganze Existenz in Anspruch. Da durch die Polisbildung der Frieden nur unter den eigenen Reihen geschlossen werden konnte, ging von den anderen Stadtstaaten weiterhin Kriegsgefahr aus. Aus diesem Grund standen die Bürger einer erdrückenden Autorität demokratischer Herrschaft gegenüber. Denn gerade in jenen ersten Demokratien mussten die Bürgerrechte und ihre Sicherheit mit lebenslangem Militärdienst bezahlt werden. Auch richtete sich die Polis mit unbarmherziger Gewalt gegen den Einzelnen, sobald er sich ihr nicht völlig übergab. Sie machte von Mitteln, wie Tod, Atimie und Exil Gebrauch und hatte die bürgerlichen Besitztümer unter ihrer Kontrolle. Die Bewohner opferten daher ihre gesamte Existenz für den Fortbestand der Polis auf und bezahlten ihren Tribut auch mit dem Tod in Schlachten gegen ihre Feinde. Die Polis entwickelte sich zur Staatsreligion, worin auf theologische Fragen, Dogmen und priesterlicher Stand verzichtet werden konnte, weil es außer ihrer selbst eine kultische Unabhängigkeit minimiert wurden. In diesem Zusammenhang standen, wegen den politischen Verbindungen zur Religion, Bürgerpflicht und Frömmigkeit eng beieinander.7)Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart: Kröner, 1942, S. 11.

Interessanterweise besteht dieses mythische Denken noch im sechsten und fünften Jahrhundert v.Chr. fort. Während das Stadtleben und die politische Ordnung bereits rational organisiert war und auch friedlicher Handel betrieben worden ist, galten Identifikationsstrategien des Einzelnen und dem Allgemeinen, sowie die Vermengung politischer, religiöser, aber auch naturphilosophischer Gebiete.8)Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler, 1991, S. 69. Da herrschte noch der zentrale Gedanke, dass Zeus mit seinen Begleitern Kratos und Bia sowohl den Kosmos als auch das Zusammenleben ordnete, und dem sich, um den Erhalt des Ganzen willen, die Einzelschicksale fügten.9)Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 69.

‚Polis- und Weltordnung waren schon lange […] korrespondierend zueinander gedacht worden.[…] Entsprechend mußte angesichts solch einschneidender politischer Veränderungen für tiefer blickende Zeitgenossen die Weltordnung involviert sein. […]’“

Zusammengefasst können wir sagen, dass sich die mythischen Vorstellungen in der Polis über die öffentlichen Einrichtungen und allen kultischen Handlungen erstreckten und so das Leben des Einzelnen, der Familie und des ganzen Stammes beherrschte. Über das mythische Denken, stellte die Polis das soziale Gefüge als eine von den Göttern hervorgebrachte Naturordnung dar, und war es daher möglich, bis tief in das individuelle Leben einzuwirken.10)Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 5. Nachdem die Grundzüge des griechischen Stadtstaates im Hinblick auf die Entwicklung des politischen Bürgertums und ihren kultischen Legitimationsformen nachgezeichnet worden waren, möchte ich das Menschenbild aus der Perspektive des Mythos nachzeichnen und die Auseinandersetzung mit diesem in der Polis näher betrachten.

Homers literarische Aufarbeitung des Mythos werden von der Fachliteratur als Vertreter des heroischen Menschenbilds verstanden. Dafür ist auch der objektive Zug seiner Epen verantwortlich. Dadurch, dass der Mythos einen Zusammenhang in der Welt herstellte, erklärte er den damaligen Menschen die Naturerscheinungen und machte sie mit ihrer Welt vertraut. Seine kosmische Dimension ist dadurch geprägt, auf eine Gesamtordnung zu verweisen, die alle Ereignisse in einen einheitlichen Schicksalszusammenhang darstellte.11)Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 10. Die Perspektive des Mythos hatte daher schon eine aufklärende und rationale Seite insofern sie eine objektivierende Sicht auf den Zusammenhang von Kosmos und Mensch einnimmt. Aus dieser Sicht waltet über den Menschen ein übergeordneter Sinn und es bahnen sich abstrakte Begriffe an, die in personifizierter Gestalt allgemeine Reflexionen über Schicksal, Leid, Schuld und Heldentum anstoßen.12)Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 18. Homers epische Dichtungen stellen auch einen geordneten Götterstaat nach dem Vorbild der ionischen Aristokratie dar, an deren Spitze königlich Zeus herrscht. Nur die unpersönliche Macht der Moira, dem unausweichlichen Schicksal, steht noch über ihn, der auch er sich beugen muss. Hier zeichnet sich bereits eine Abstraktionsleistung vom Polytheismus ab, die bereits eine einheitlich geschlossene Göttermacht erahnt.13)Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 23 f. Nicht nur wegen den rationalen Elementen im homerischen Epos, spricht man seinen Werken eine gewisse Objektivität zu. Auch weil er das Leid der Menschen, das von von den Leidenschaften und Streiten der Götter verursacht worden ist, als schicksalhafte Notwendigkeit darstellt, ohne die individuelle Schmerzerfahrung in seiner Unaufwiegbarkeit zu problematisieren. Die Ilias und die Odyssee gelten als Erzählungen, in denen der Mythos als eine Machtordnung erscheint, die von den homerischen Helden – weil sie eine Ordnung in die Welt einführt – affirmiert wird. In Homer ist also die Mythos-Macht wegen ihres aufklärenden Charakters legitimiert. Man kann sich vorstellen, dass sich das homerische Menschenbild trotz der quälenden Schattenseiten des Lebens mit der Welt vertraut gefühlt haben muss.14)Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 68.

Im homerischen Epos wirken sich daher nicht nur göttliche Leidenschaften auf die Menschenwelt aus, in seiner Götter- und Menschenwelt herrschen auch noch archaischere Werte aus jener ritterlichen Zeit: Gewalt, Blutdurst und Rache sind die Eigenschaften jener alten Heroen, die ihren Stämmen die Polis brachten.15)Vgl. Ibd. S. 67. Unter diesen moralischen Voraussetzungen sind die Götter sittlich so gut wie gleichgültig und ihr Handeln scheint den Menschen willkürlich: Mal hält Athene den aufbrausenden Helden der Ilias, Achilleus, von einem Mord ab, während sie Hektor hinters Licht führt. Von den Menschen wird an dieser Willkürherrschaft Tadel geübt und stehen ihnen wegen ihrer Unberechenbarkeit misstrauisch gegenüber. Zwar bemerken sie in den homerischen Werken schon, dass sie von den Göttern grausam behandelt werden und sehen sich auch als Opfer überlegener Mächte. So lässt Homer Achilleus sagen:

Also spannen die Götter der armen Sterblichen Schicksal, dass sie leben im Leid.“

Gerade aber wegen allzumenschlicher Leidenschaften der Götter, entgegnen die homerischen Helden ihnen und ihren oft schicksalsbestimmten Tod furchtlos. Denn er ist für die Heroen weder Erlösung, noch Qual, aber er verdammt ihn zum Schattendasein. Deshalb sieht der homerische Mensch sich vollends im Diesseits aufgehen und führt ein kraft- und maßvolles Leben. Er fasst die Welt aber nicht gleich optimistisch auf, denn gerade weil das Leben so schön ist, beklagt er seine Schattenseiten mit einer leisen Wehmut. Der Kerngedanke dieser Haltung liegt darin, dass der Mensch die Leiden erträgt, weil sie notwendige Bestandteile seines geschätzten Lebens sind. In der homerischen Lebensauffassung bejahen die Helden die quälenden Seiten und vermögen es so, den Pessimismus zu überwinden. Daher ruft Achilleus den Priamos zu, seine Todesstunde tapfer auszuhalten.16)Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 30 ff.

Im Grunde gibt der Epos eine innere Tendenz zu erkennen, in der bereits Leid und Verwirrung dergestalt artikuliert werden, dass die Menschen ein misstrauisches, klagendes Verhältnis zum Leben und ihren Göttern einnehmen. Obgleich hier diese Richtung zu erkennen ist, dass sich eine Subjektivität aus dem Mythos herauszulösen scheint, holt sie der Mythos wieder in Gestalt des Helden ein, denn seine Tapferkeit erduldet das Leid und fügt sich so wieder in den schicksalhaften Kosmos ein. Die epische Darstellung scheint somit zwar das darin enthaltene Menschenleid zu reflektieren. Sofern es aber in Gestalt der heldenhaften Überwindung und Bejahung erscheint, schlägt die Kritik an die mythische Gesamtordnung in ihre Bestätigung um. Aus der inneren Entwicklungsgeschichte beider Epen ist auch eine leichte Verschiebung in der Heldendarstellung zu erkennen. Während in der Ilias Achilleus besonders mit seiner physischen Kraft und körperliches Geschick die Abenteuer übersteht, überwindet Odysseus die Schwierigkeiten mit überlegenem Scharfsinn.17)Vgl. Ibd. S. 37. Bereits dort, wo der epische Mythos den Helden noch in einem Schicksalsbegriff auflöst, zeichnet sich eine Tendenz zu einem städtisch rationalen Menschenbild ab, das schon auf ein Künftiges hindeutet, und sich in der Polis von der physisch-tapferen Bejahung der Mythos-Macht distanziert. In der Tat verloren im sechsten und fünften Jahrhundert die großen Krieger gerade wegen den bestehenden Kriegsgefahren ihr militärisches Prestige. Auslöser dieser Entwicklung waren erstens Innovationen in Waffenherstellung, die dazu führten, dass die unteren Volksschichten an strategischer Bedeutung gewannen, sowie vereinfachte Zugangsbedingungen an politischen Ämtern für breitere Bevölkerungsgruppen.18)Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 21. Auch sollten aus der Lage einer Stadtkultur martialische Werte jenen Qualitäten weichen, die Ackerbau, Handel und Handwerk aufblühen lassen konnten. Für ein gelungenes Zusammenleben war es nun aussichtsreicher ein friedliches Miteinander zu pflegen und auf Verständigung und Mäßigung zu setzen. Schon den Bürgern einer Polis mussten diese epischen Helden einen fremdartigen Eindruck hinterlassen haben, da sie doch aus einer vergangenen Zeit auf sie einwirkten.

Obwohl die Stadtstaaten in Gestalt von Festzügen und Kulten sich selbst verherrlichten und die Bürger mit der politischen Ordnung mythisch identifizierten, waren schon gegenläufige Tendenzen in der epischen Literatur angelegt, die aber erst in der darstellenden Kunst der Tragödie ein adäquates Ausdrucksmittel gefunden haben, die individuelle Schmerzerfahrung gegenüber einer göttlichen Schicksalsmacht herauszustellen. So setzte sich die klassische Kultur des fünften Jahrhunderts allmählich mit der fremd-bedrohlich wirkenden Ritterkultur der mykenischen Epoche in tragischer Gestalt auseinander. Die mythischen Stoffe wurden in eine neue Gestalt gebracht, woraus sich eine Formensprache entwickelte, die die Spannung zwischen der gegenwärtigen Polis und die vergangene Epoche ausdrücken konnte: Der Chor setzte die lyrische Sprache des Epos fort, welcher die alten Heldentugenden lobt, während die Theaterschauspieler in alltäglicher Prosa rezitierten. Daraus, dass eine neue Kunst zur Behandlung des Mythos erprobt wurde, sollte nicht nur der Gegensatz des Heros und dem nun mehr zum homo politicus verwandelten Menschen aufgezeigt worden sein.19)Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 20. Es sollte auch ein geeignetes Medium gefunden worden sein, die Sinnhaftigkeit göttlicher Schicksals-Macht im Angesicht des menschlichen Leids zu hinterfragen. Während sich in den Epen also die heldenhafte Leiderfahrung und Hinterfragung eines mythischen Weltganzen nur andeutete und das Menschenbild wieder in die objektive Schicksalsbestimmung zurück fiel, war es dank der dramatischen Kunstform nun möglich die Leiderfahrung aus einer subjektiven Position in aller Deutlichkeit bühnisch vorzutragen. Mit ihr konnte die Frage nach dem Sinn schrecklicher Schicksalsschläge und auch das Bewusstsein darüber erwachen, dass die waltende Göttermacht für den Leidenden beunruhigend und unheimlich war. Die Artikulation des subjektiven Schmerzes vermochte es sich von der Auffassung zu lösen, dass persönliche Motive und Widerfahrnisse in einer göttlichen Vorsehung aufgehen. Angesichts des in den Vordergrund gestellten Subjektivität, erschien das Leid als ein Unwiderrufbares, das nicht durch höhere Zwecke gerechtfertigt werden konnte. Genau dort, wo eine künstlerische Darstellung, den Blick auf die subjektive Schmerzerfahrung lenkt, zerbricht die Legitimität mythischer Ordnungen.20)Vgl. Ibd. S. 119.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Burckhardt, Jakob: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, München: Dtv, 1977, S. 16 ff/S. 60.
2 Vgl. Boehringer, David: Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit, Berlin: Akademieverlag, 2001, S. 166
3 Vgl. Krois, John Michael: Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer, in: Poser, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1979, S. 204 f.
4 Vgl. Hübner, Kurt: Mythische und wissenschaftliche Denkformen, in: Poser, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, S. 81 f.
5 Vgl. Burkhardt, Jakob: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1, S. 22 ff/77 ff.
6 Vgl. Boehringer, David: Heroenkulte in Griechenland, S. 121 ff.
7 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart: Kröner, 1942, S. 11.
8 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler, 1991, S. 69.
9 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 69.
10 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 5.
11 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 10.
12 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 18.
13 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 23 f.
14 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 68.
15 Vgl. Ibd. S. 67.
16 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, S. 30 ff.
17 Vgl. Ibd. S. 37.
18 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 21.
19 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos, S. 20.
20 Vgl. Ibd. S. 119.

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