Hier ein weiterer spannender Essay des Eos-Preises von Boris Hennig.
Man Selbst Sein
“He’s authentic.”
Justin Trudeau über Donald Trump
Eigentliches Selbstsein
Die Forderung, man selbst zu sein, kann sich nur an eine Person richten, die überhaupt für derartige Forderungen empfänglich ist. Eine solche Person muss ihr eigenes Sein bereits als Aufgabe begriffen haben, und also bereits das sein, was Heidegger als Dasein bezeichnet: ein Seiendes, dem es “in seinem Sein um dieses Sein selbst geht” (SuZ 12). Wenn die Forderung nach dem Selbstsein darüber hinaus noch etwas weiteres fordern soll, dann reicht die bloße Sorge um das eigene Sein offenbar nicht aus, um wirklich man selbst zu sein. Es muss einen Unterschied geben zwischen Dasein und wirklichem Selbstsein, so dass man sich auf zwei verschiedene Weisen zu sich selbst verhalten kann: erstens so, dass man die Forderung, man selbst zu sein, überhaupt als solche wahrnehmen kann, und zweitens so, dass man sie erfüllt.
Wenn Heidegger zu Beginn von Sein und Zeit sagt, das Dasein könne entweder es selbst sein oder nicht es selbst zu sein (SuZ 12), dann kann er also nicht einen Gegensatz zwischen einem Sein meinen, das sich zu sich selbst verhält, und einem Sein, das dies nicht tut. Er muss einen Gegensatz zwischen einem gelingendem und einem misslingendem Selbstsein im Sinn haben. Es kann, in Heidegger’s Worten, nicht darum gehen, erst zu einem Selbst zu werden, sondern nur darum, ein uneigentliches Selbstverhältnis in ein eigentliches zu überführen. In diesem Sinne beschreibt Heidegger das eigentliche Selbstsein dann auch als eine “existentielle Modifikation des Man” (SuZ 130). “Das Man” ist Heidegger’s Name für das uneigentliche Selbst. Das Man selbst soll zum Ich selbst werden.
Um zu verstehen, wie man das Selbstsein fordern kann, müssen wir also verstehen, wie sich ein eigentliches Selbstverhältnis von einem uneigentlichen unterscheidet. Das ist aus zwei Gründen nicht trivial. Erstens gleichen sich beide Verhältnisse darin, dass in ihnen etwas auf sein eigenes Sein abzielt. Zweitens kann man das uneigentliche Selbstverhältnis nicht einfach daran erkennen, dass es dieses Ziel verfehlt. Denn das Man, also das uneigentliche Dasein, kann sich durchaus so zu sich selbst verhalten, dass es sein eigenes Sein nicht im geringsten verfehlt. Es kann sich ganz echt und treffend zu genau dem uneigentlichen Sein verhalten, das es in der Tat selbst ist.
Heidegger beschreibt diesen Anschein von Eigentlichkeit als eine Verdeckung und Verfehlung (SuZ 130), mittels derer sich das uneigentliche Selbst in seiner Uneigentlichkeit beruhigt. Ich bin zunächst nicht wirklich “‘ich’ im Sinne des Selbst”, schreibt er, “sondern die Anderen in der Weise des Man” (SuZ 129). Eben das Man, das mir mein eigenes Selbst vorenthält, beruhige mich aber dadurch, dass es mir einrede, das Man selbst sei bereits mein Ich selbst (SuZ 177; 322). Es ist also alles andere als leicht zu sehen, wie sich das Man selbst vom Ich selbst unterscheidet.
Zweideutigkeit
Wenn das Man behauptet, in meiner Person in echter Weise es selbst zu sein, dann ist das ein Fall von Zweideutigkeit: “Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch” (SuZ 173). Natürlich ist es nicht einfach so, dass alles anders aussieht, als es ist, denn dann wäre es einfach, das Spiel zu durchschauen. Das Problem ist, dass man nie wissen kann, ob etwas echt ist oder nicht. Manches sieht echt aus und ist es im Grunde auch; manches nicht. Das gilt insbesondere für Heidegger selbst. Sein ganzes Werk ist zweideutig. Wer sich von ihm sagen lässt, was eigentliches Selbstsein ist, kann sich nie sicher sein, nicht doch wieder einer Verdeckung und Beruhigung zum Opfer zu fallen. Es hilft nicht, Heidegger zu folgen, auch dann nicht, wenn er recht hat. Heidegger scheint das selbst erkannt zu haben, wenn er an Medard Boss schreibt: “Von der Literatur über Heidegger möchte ich abraten“ (GA 89, 361). Er meint damit nicht nur seine Kritiker.
Das Problem ist nicht nur, dass wir in zweideutiges Gerede verfallen könnten, wenn wir Heidegger’s Unterscheidung zwischen dem eigenen Selbst und dem uneigentlichen Man einfach übernehmen. Heidegger scheint selbst nicht gegen seine eigene Zweideutigkeit gewappnet zu sein. Wenn er zum Beispiel im Abschnitt über die Zweideutigkeit schreibt, “wer in echter Weise einer Sache ‘auf der Spur’ ist, spricht nicht darüber” (SuZ 173), dann ist das klar als Platitüde zu erkennen, und nicht nur wegen der von Heidegger selbst als sprichwörtlich hervorgehobenen Phrase “auf der Spur”. Was er hier von sich gibt, ist offenbar als etwas kalkuliert, dem man ohne zu zögern zustimmen dürfte. Wer zögert, dem können aber durchaus Zweifel kommen. Spricht Heidegger nicht selbst über die Dinge, denen er in echter Weise auf der Spur ist? Kann etwa das Schweigen als Beweis von Echtheit gelten? Und wie soll man echtes von unechtem Schweigen unterscheiden können?
Heideggers eigene Zweideutigkeit sitzt tief. Wenn er im Sommer 1933 sagt, dass das deutsche Volk im Ganzen zu sich selbst komme (GA 36/7, 3), dann ist das zugleich ein hanebüchener Fehltritt und, in einer gewissen Hinsicht, ein Fortschritt gegenüber seiner Daseinskonzeption in Sein und Zeit. Es ist schwer, das heute zu sehen und zu sagen, weil wir zu gut wissen, wie die Selbstfindung des deutschen Volkes wirklich aussah. Und ob es wirklich ein philosophischer Fortschritt ist, wird man auch genauer untersuchen müssen. Was ich meine, ist jedenfalls der Schritt von der Konzeption eines Daseins, das als einzelnes sein eigenes Sein besorgt, zu einem sozialen Sein, dem es als solchem um sich selbst geht.
In den Beiträgen bringt Heidegger rückblickend auf den Punkt, inwiefern Sein und Zeit zu kurz gegriffen hatte: “Das Da-sein steht in ‘Sein und Zeit’ noch im Anschein des ‘Anthropologischen’ und ‘Subjektivistischen’ und ‘Individualistischen’ u.s.f.”; und er fügt hinzu, dass dennoch auch damals schon “von allem das Gegen-teil im Blick” war (GA 65, 294). Tatsächlich beginnt Heidegger auch in Sein und Zeit die Suche nach dem “Wer” des Daseins mit der Feststellung, dass “am Ende” kein “isoliertes Ich … ohne die Anderen” gegeben sei (SuZ 116). Und dass er “am Ende” sagt, ist wichtig: Er sagt nicht nur, dass wir alle zunächst und zumeist an die unpersönliche Anonymität des Man verfallen sind. Er sagt, dass wir letztendlich nie ohne die anderen sind, was wir sind. Und er betont, dass der Versuch, sich vom “großen Haufen” zurückzuziehen, gerade nicht authentisch ist, wenn man damit nur das mitmacht, was “man” macht (SuZ 127).
Heidegger möchte sich von Beginn an durchaus gegen die Reduzierung des Daseins auf ein vereinzeltes Individuum aussprechen. Das betont er auch im Wintersemester 1928/29: “Vor sich selbst und die volle Selbstheit gebracht heißt also nicht: individualistisch-egoistisch auf sich selbst zurückgezogen”; er nennt das dort die “gröbste Verkennung des Problems” (GA 27, 324). Was er dann aber sogleich selbst vollzieht, ist nur eine weniger grobe Verkennung des Problems. Er schreibt: “Dasein muß wesenhaft es selbst sein können und im eigentlichen es selbst sein, wenn es sich getragen und geführt wissen will durch ein anderes, wenn es sich soll öffnen können für Mitdasein der Anderen, wenn es sich soll einsetzen für Andere” (GA 27, 324-5). Hier denkt er das einzelne Individuum bloß als notwendige Voraussetzung für ein mögliches soziales Sein, und nicht etwa umgekehrt.
Das Asoziale Selbst
In Sein und Zeit sind es vor allem zwei Faktoren, die Heidegger’s Sicht auf die soziale Natur des Daseins negativ färben.
Erstens meint er offenbar, dass man echter denkt, wenn man schweigt, dass also das Denken selbst durch seine sprachliche Artikulation Schaden nimmt. Das liegt unter anderem daran, dass die Sprache niemandem gehört, also per se uneigentlich ist. Deshalb mündet Heidegger’s Traktat über die Sprache im fünften Kapitel von Sein und Zeit in eine Entfremdungstheorie (SuZ 178). Während Heidegger das Man zunächst halbwegs neutral analysiert, erscheint es vor allem in seiner Sprachlichkeit als Verfängnis, Verfallen und Absturz. Schon allein durch den systematischen Ort, den Heidegger seiner frühen Sprachphilosophie zuweist, muss die Sprache als ein Faktor erscheinen, der echte Eigentlichkeit verhindert.
Zweitens schließt Heidegger, wenn er von der Verfallenheit des Daseins redet, klar erkennbar an die Rede vom Sündenfall an. Er distanziert sich zwar umgehend von der Idee, es handle sich um einen Fall aus einem “höheren ‘Urstand’” (SuZ 176). Und er sagt auch, dass er keine “ontische Aussage über die ‘Verderbtheit der menschlichen Natur’” beabsichtige (SuZ 179). Was er dann aber zu verstehen gibt, ist durchaus dies: Das menschliche Dasein ist von sich aus an das verfallen, was es nicht selbst ist.
Daher muss es in Sein und Zeit unter dem Strich so erscheinen, als bestehe ein einfacher Gegensatz zwischen einem uneigentlichen, sozial und sprachlich geprägten Selbst, das wir alle zunächst und zumeist sind, und einem eigentlichen, einzelnen, schweigenden Selbst, zu dem wir werden sollen. Das wird insbesondere im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit deutlich, wo Heidegger die Frage nach der Ganzheit des Daseins im wesentlichen durch die Auseinandersetzung mit dem Sein zum Tode und dem Ruf des Gewissens beantwortet. Denn das Man kann sich nicht in echter Weise zum Tod verhalten (SuZ 254), und das Gewissen redet “einzig und ständig im Modus des Schweigens” (SuZ 273). Was uns ganz zu uns selbst macht, setzt uns also zugleich von dem ab, was uns miteinander verbindet. Das ist die Grundtendenz dessen, was er sagt, und er kann diese Tendenz nicht durch die bloße Beteuerung korrigieren, durch den Ruf des Gewissens werde das eigentliche Dasein “in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen” gestoßen werde (SuZ 298).
Dass das Soziale das Uneigentliche ist, legt Heidegger auch bereits dort nahe, wo er seine Analyse des Man in einen flotten Spruch zu fassen versucht ist: “Jeder ist der Andere und Keiner er selbst” (SuZ 128). Er unterschlägt nicht nur, selbstverständlich, dass manch eine auch sie selbst sein kann, sondern wichtiger, dass der Gegensatz gar nicht als einer zwischen einem Selbst und einem Anderen gefasst werden sollte. Die Vorstellung, ein uneigentliches Dasein sei gar nicht es selbst, sondern stattdessen jemand anderes, ist absurd. Das ist nicht einfach deshalb so, weil es einen logischen Widerspruch darstellt. Sätze, die widersprüchlich erscheinen, können wichtige Einsichten vermitteln. Dieser Satz aber weist auch unter der Oberfläche in die offensichtlich falsche Richtung, und zwar weg von der Einsicht, dass auch ein uneigentliches Selbstverhältnis ein Selbstverhältnis sein muss. Heidegger fährt fort: “Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat” (SuZ 128). Das uneigentliche Selbst ist hier nicht nur nicht es selbst, es ist nicht einmal der Andere; es ist überhaupt niemand. Das ist noch absurder, ganz zu schweigen davon, dass Heidegger hier beiläufig zu verstehen gibt, dass man dadurch zum Niemand wird, dass man sich unter anderen Leuten bewegt. Dass Heidegger so etwas sagt, ist erstaunlich, denn es scheint eben zu dem zu gehören, das er selbst als Gerede bezeichnet (SuZ 169). Es ist, genau besehen, undurchdachtes Geschwätz. Denn das uneigentliche Dasein kann schon deshalb nicht niemand sein, weil es dann zu einfach wäre, Uneigentlichkeit zu erkennen und zu vermeiden. Um eigentlich zu sein, müsste man ja nicht mehr sein als überhaupt jemand.
Das Soziale Selbst
In der Nachkriegszeit wird Heidegger die Sprache zum “Haus des Seins” aufwerten (GA 9, 313), also nicht länger nur als Katalysator oder Symptom der Verfallenheit auffassen. Auch hier kann man sehen, wie Sein und Zeit bereits das Gegenteil im Blick hatte. Denn auch dort schreibt Heidegger der Sprache bereits ein “selbst daseinsmäßiges” Sein zu (SuZ 167). Er sagt das auch von der Wissenschaft (SuZ 11). Das muss bedeuten, dass Sprache und Wissenschaft weder vorhanden noch zuhanden sind (SuZ 230), und dass sie sich, ebenso wie das einzelne Dasein, in ihrem eigenen Sein zu genau diesem Sein verhalten. Es bleibt aber im Rahmen von Sein und Zeit völlig unklar, wie Sprache und Wissenschaft derart daseinsmäßig sein können, da sie sich nicht zu ihrem eigenen Tod verhalten können, und der schweigende Ruf des Gewissens jedenfalls an der Sprache einfach vorbeigehen muss.
Die Rede von der Selbstfindung des deutschen Volkes ist jedenfalls Teil eben der Kurskorrektur, die sich am Ende in einer Neubewertung der Sprache niederschlägt. Heidegger ersetzt die Rede von einem Dasein, das erst durch Vereinzelung aus der Verfallenheit an Sprache und Öffentlichkeit herausfindet, durch die Rede von einer Gemeinschaft, die als solche zu sich selbst, also als Gemeinschaft zu sich als Gemeinschaft findet. Es geht nicht länger darum, aus dem Untereinandersein herauszufinden, sondern darum, in der rechten Weise in es hineinzufinden. Das Man selbst soll, so gesehen, zum Wir selbst werden. Und das ist einer der zweideutigsten Augenblick in Heidegger’s gesamter Entwicklung.
An sich ist die Kurskorrektur vielversprechend. Heidegger sieht nicht nur klarer, dass die Alternative nicht zwischen einem Selbst und einem Niemand bestehen kann. Er sieht auch, dass ein echtes Selbstverhältnis nicht das eines vereinzelten Individuums zu sich als Vereinzeltem sein muss. Das ist schon allein deshalb ein Fortschritt, weil man ein Dasein, das durch Schweigen und Vereinzelung zu sich selbst findet, schwerlich als ein ethisches erkennen können wird. Selbsterkenntnis ist zwar schon bei Platon eine Vorstufe zur Ethik (Alkibiades I, 131b), so wie Ethik bei Aristoteles eine Vorstufe zur Politik ist (Nikomachische Ethik, 1094a29). Die Selbsterkenntnis, um die es hier geht, ist aber gerade kein Verhältnis eines vereinzelten Ich zu sich selbst, sondern sie besteht darin, dass man in einem Freund das menschlich Gute erkennt (Alkibiades I, 133b). Es geht darum, sich durch das Verhältnis zu anderen zu dem Gut zu verhalten, das man mit ihnen teilt.
Dass sich eine Gemeinschaft zu sich selbst verhalten kann, ist auch nicht neu. Sokrates fordert von seinen Mitbürgern nicht nur, sich eher um sich selbst zu kümmern als um das, was bloß zu ihnen gehört; er unterscheidet im selben Atemzug auch zwischen der Stadt selbst und dem, was der Stadt bloß gehört (Apologie, 36c-d). Die Stadt kann also als solche Gegenstand eines Selbstverhältnisses sein. Hegel nimmt dieses Motiv auf, wenn er den Geist als “das sittliche Leben eines Volks” beschreibt, das als solches, also als sittliches Leben des Volkes, zur Erkenntnis seiner selbst strebt (Phänomenologie, Suhrkamp 326). Und Heidegger scheint nun den in Sein und Zeit eingeschlagenen Kurs dadurch in ähnlicher Weise zu korrigieren, dass er dem deutschen Volk als solchem ein Selbstverhältnis zuschreibt. Auch in seiner Rektoratsrede beschwört Heidegger ja die Selbstbehauptung und Selbstbesinnung eines Kollektivs, nämlich der Universität (GA 16, 107). Heidegger geht also dazu über, der uneigentlichen Flucht in das Man nicht einen eigentlichen Bezug auf das vereinzelte Selbst, sondern einen “eigentlichen Bezug … auf das Volk” entgegenzusetzen (Safranski, 138).
Ein derart an sich selbst soziales Dasein ähnelt auch dem gesellschaftlichen Wesen, das Marx in seinen Pariser Manuskripten zu konzipieren versucht (MEW 40, 541). Es ist ein Dasein, das sich nicht einfach auch um anderes Dasein sorgt, sondern eines, dessen Sorge um die Gemeinschaft unmittelbar die Sorge um sein eigentliches, soziales selbst ist. Vielleicht geht Heidegger sogar von vornherein über den frühen Marx hinaus, der die Wissenschaft noch als bloßes Organ des gesellschaftlichen Wesens fasst (vgl. MEW 40, 541-4). Denn wenn die Wissenschaft selbst daseinsmäßig ist, dann ist sie mehr als nur ein Organ des Daseins. Und doch ist es eben nicht Marx, der hier von der Selbstfindung des gemeinschaftlichen Daseins redet, sondern ein bekennender Nazi.
Soziales Dasein
Heidegger, der Philosoph der Eigentlichkeit, ist offenbar eben der Zweideutigkeit verfallen, die er selbst so treffend beschreibt. Vielleicht beschreibt er sie gerade deshalb so treffend, weil sie ihn selbst betrifft. Er hat allen Ernstes geglaubt, dass ausgerechnet der Nationalsozialismus dem gemeinschaftlichen Dasein sein echtes Selbst verschaffen könne. Dass er hier so nahtlos vom scheinbar Richtigen ins offenbar Groteske übergehen kann, ist ein Skandal der Philosophie selbst. Denn Heidegger muss nach wie vor als einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts gelten. Niemand von uns sollte sich ohne weiteres anmaßen, dort einfach die Wahrheit zu erkennen, wo sie Heidegger offenbar verfehlt hat. Heidegger hat ebensowenig wie Descartes einfach eine falsche Meinung vertreten, so dass man ihn einfach dadurch korrigieren könnte, dass man eine gegenteilige Meinung vertritt. Sein Versagen ist ein Versagen des Denkens, denn es ist eingebettet in eine Kurskorrektur, vom vereinzelten zum sozialen Dasein, die an sich philosophisch geboten erscheint.
In der Tat ist das soziale Dasein außerordentlich schwer zu denken. Um wirklich sozial zu sein, darf das Dasein nicht einfach im gemeinschaftlichen Sein aufgehen. Denn um überhaupt für Forderungen empfänglich zu bleiben, muss das Dasein ja auch als gemeinschaftliches so bleiben, dass es sich um sein gemeinschaftliches Sein als um sein je eigenes sorgt. Es kann sich also nicht einfach durch einen Führer zu seinem Selbst führen lassen. Die Sorge um das gemeinschaftliche Dasein kann nicht die Sorge eines anonymen Niemand sein, sie kann aber auch nicht stellvertretend für alle durch einen einzelnen Jemand wahrgenommen werden. Sie muss die Sorge aller Teilnehmer an einer Gemeinschaft um ihr gemeinsames Sein sein, und zwar so, dass jedes derart gemeinschaftliche Dasein das Sein der Gemeinschaft als sein eigenes Sein verfolgt. Das soziale Dasein muss, wie Marx es zu sagen versucht, “das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich” sein (MEW 40, 539). Es muss erstens das Dasein der Gemeinschaft für sich selbst sein, also das Sein der Gemeinschaft selbst für die Gemeinschaft selbst; im Gegensatz zum Dasein der Gemeinschaft für je eines ihrer Mitglieder, oder dem Dasein eines der Mitglieder für die Gemeinschaft. Es kann nicht einfach darum gehen, was die Gemeinschaft für mich leistet, oder ich für die Gemeinschaft, sondern letztlich nur darum, was die Gemeinschaft für sich selbst leistet. Zweitens muss das Dasein dieser Gemeinschaft subjektiv sein, also nicht anonym, überindividuell, oder objektiv. Wo sich eine Gemeinschaft wirklich um sich selbst sorgt, kann sie an keinem ihrer Mitglieder vorbei gehen. Das Sein der Gemeinschaft muss das Sein derer sein, die an ihr teilhaben, so dass die Sorge der Gemeinschaft um sich selbst letztlich die Sorge von Individuen um das ist, was sie als Gemeinschaft auffassen oder wahrnehmen. Eben deshalb muss Marx drittens hinzufügen, dass das betreffende subjektive Dasein das Dasein der gedachten und empfundenen Gemeinschaft ist. Denn das gemeinschaftliche Sein kann sich in jeder seiner subjektives Formen anders gestalten. Es hat keine davon unabhängige Existenz, und daher kann niemand eine objektive und absolute Perspektive auf dieses Sein beanspruchen.
Einerseits muss also meine Sorge um mein eigenes Selbst mit unserer Sorge um unsere Gemeinschaft zusammenfallen, andererseits muss aber ein Unterschied gewahrt bleiben zwischen meiner Sorge um mein gemeinschaftliches Sein und deiner Sorge um dein gemeinschaftliches Sein; auch dann, wenn wir zur selben Gemeinschaft gehören. Das ist schwer zu denken, und das ist, woran Heidegger zu scheitern scheint.
Fragen
Der Teil von Sein und Zeit, den Heidegger vollendet hat, beantwortet bekanntlich nicht die Frage nach dem Sinn des Seins, sondern stellt eine Vorarbeit zur Stellung dieser Frage dar. Die Aufgabe ist, dasjenige Sein klar zu bestimmen, das die Frage nach dem Sein überhaupt stellen kann (SuZ 7). Eine Antwort auf die Frage liefert das Buch nicht; der zweite Abschnitt endet ebenso wie der erste vielmehr in einer Reihe von Fragen (SuZ 230, 437).
Fragen sind an sich selbst insofern mehrdeutig, als sie eine Wahl fordern, ohne sie zu treffen. Die Mehrdeutigkeit einer Frage unterscheidet sich aber dadurch von dem, was Heidegger als Zweideutigkeit bezeichnet, dass sie offen ersichtlich und klar gekennzeichnet ist. Eine Frage bleibt als solche in der Schwebe, sie legt sich nicht fest. Der Zweideutigkeit kann man, so scheint es, erst dadurch verfallen, dass man die Eindeutigkeit sucht.
Wenn Heidegger recht hat, hat die Seinsweise des Daseins selbst die Form einer Frage. Die Wahl, vor die es als solches gestellt ist, ist ihm zufolge die zwischen eigentlichem und uneigentlichem Selbstsein. Eigentliches Selbstsein ist Heidegger’s Idee einer eindeutigen Antwort auf diese Frage: “Die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit, in der das Dasein als Seinkönnen sein kann, ist die Wahrheit der Existenz” (SuZ 221), schreibt er, und dieser Wahrheit steht das Verfallen an die Zweideutigkeit des Man als Unwahrheit gegenüber (SuZ 222). “Eigentlichste Erschlossenheit” ist ein Superlativ; es kann nur eine eigentlichste Erschlossenheit geben. Eine solche Antwort ist dazu bestimmt, die beantwortete Frage auszuräumen. Sie lässt keine weiteren Alternativen zu. Wenn das Sein des Dasein aber selbst die Form einer Frage hat, dann räumt jede eindeutige Antwort auf diese Frage das Sein des Dasein selbst aus. So gesehen stirbt das Dasein nicht in der Weise des Verfallens an die Zweideutigkeit (SuZ 251-2), sondern auch und gerade im Zuge des Strebens nach Eindeutigkeit.
Fragen können jedoch auf ihre eigene Weise zweideutig sein. Sie können dadurch täuschen, dass sie uns vor eine falsche Alternative stellen. Und ist nicht vielleicht die Alternative zwischen eigentlichem und uneigentlichem Selbstsein eine falsche? Geht es am Ende gar nicht darum, sich selbst in echter Weise auf der Spur zu sein, sich dann zu finden und fortan bei sich selbst zu verharren? Vielleicht ist es dann auch überhaupt kein Fortschritt, das Subjekt des Selbstbezug als ein gemeinschaftliches zu konstruieren, im Gegensatz zu einem einzelnen Individuum?
Literatur
Heidegger, Martin (1967). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. (= SuZ)
Heidegger, Martin (1975–). Gesamtausgabe. Frankfurt am Main: Klostermann. (= GA)
Marx, Karl (1968). Marx Engels Werke Bd. 40, Ergänzungsband. Berlin: Dietz. (= MEW 40)
Safranski, Rüdiger (1994). Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München: Carl Hanser.
Hegel, G. W. F. (1986). Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3. Frankfurt: Suhrkamp.
Platon (2016). Platons Werke, übers. Schleiermacher. Berlin: De Gruyter.
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