Am Vormittag stehe ich in Reudnitz vor dem Kaufland und übe mein Augenmaß, denn es scheint mir als ob die Leute, mit denen ich Schlange stehe, sich nicht an den empfohlenen Abstand von 1,50 Meter halten. Am Eingang zum Supermarkt steht ein Security-Mann, der immer nur eine kleine Gruppe Menschen in den Laden lässt und außerdem ein A4-Plakat mit weißem Rand, wahrscheinlich vom Tintenstrahldrucker aus dem Büro, auf dem „Ohne Moos nichts los!“ steht und das neue Arbeiter für die Krisenbewältigung sucht. Ich gehe mit gehörigem Abstand an ihm vorbei, wie an allen Leuten, was in den engen Gängen zwischen den Ladenregalen manchmal unmöglich ist. Dabei beobachte ich Gesichter, Hände, Fingernagelränder. In Zeiten der Krankheit ist es besonders wichtig, dass das Innere innen bleibt. Ruckartige Entäußerungen sind das Schlimmste: Husten, Nießen, aber auch was langsam kommt wie Schweiß, Rotze, Sabber, sind um jeden Preis zu meiden. Diese Leute müssen ausgestrichen werden, sie müssen versiegelt werden. Ich beobachte, wie der Einkaufswagenputzer seinen Job nur halbherzig macht und sanktioniere ihn in Gedanken. Nicht, dass es ihn schmerzen würde, aber jeder muss seinen Teil beitragen und meine Mittel zur Verbesserung sind begrenzt. In den Zeiten der Gesundheit hat der Andere in gewisser Weise keine Innereien, so ähnlich, wie man auch selbst keine hat, wenn man nicht krank oder hungrig ist, Blähungen hat oder Sodbrennen. Ein Leben ohne Innereien ist wesentlich angenehmer. Nur intim ist das Verhältnis umgekehrt oder wir sind bereit die Innenräume zu teilen vom Fondueessen aus dem gemeinsamen Topf, über den geteilten Mundinnenraum bis hin zu vaginalen und analen Innenräumen. Vielleicht ist es für die Aufrechterhaltung der Bedeutung solcher Gesten wichtig, dass im Alltag das Innere innen bleibt und versteckt.
Reudnitz, Köhlerstraße ist nicht unbedingt ein Ort, den man schön nennen würde. Hundekot, Müll und Junkies, dazu Ratten und eine Wiese im Park, die fast immer zu Schlamm zerlatscht ist. Krankheit, Pandemie, das ist jetzt ein Schlüssel, der zu neuen Wahrheiten führt. Es drängt sich jetzt auf, dass Reudnitz versiegelt und desinfiziert werden muss. Es muss die Armut aus diesen Gesichtern herausgewaschen werden. Einen unterschwelligen Ekel voreinander haben die Leute hier bestimmt schon vor der Krankheit gehabt, die Krankheit bringt es nur in gewisser Weise auf den Punkt und sagt auch gleich, wie mit diesem Ekel umzugehen ist. Masken, Abstand, Hände waschen, das wichtigste aber sind die Regeln, denn Regeln einzuhalten beruhigt und festigt das Bollwerk der Ordnung gegen die wuchernde, unberechenbare Krankheit. Der Virus selbst ist subversiv. Den allermeisten begegnet er nicht in Halskratzen und Fieber, sondern indem er den Takt von Alltag und Gewohnheit untergräbt. Aufstehen, Frühstück, Mittagessen, Arbeits- und Schlafzeiten verwandeln sich in Arbeit, wenn sie vorher durch Notwendigkeiten gesetzt wurden. Freelancer und Arbeitslose wissen das schon lange, aber auch sie leben jetzt anders. Was innen ist muss innen bleiben, der Imperativ trifft auch die, die sowieso zuhause bleiben wollen. Draußen lauert ein unsichtbarer Feind, eine Bedrohung, die über allem liegt. Regeln, Ordnung, Rituale dienen nicht einfach der Eindämmung von Ansteckungsraten, sondern richten sich auch an den inneren Kampf, der unser öffentliches Selbstbild auch ohne Öffentlichkeit aufrecht erhalten will, und gegen das schwarze Loch aus Langeweile, Gleichgültigkeit, endloser Wiederholung, Onanie und Badelatschen. Ich muss mir immer ein böses Erwachen vorstellen nach der Art:
Ich habe mich doch an die Regeln gehalten, warum werde ich trotzdem bestraft? Warum bin ich trotzdem krank? Warum werde ich trotzdem gekündigt? Warum bin ich trotzdem depressiv, verschuldet, abgehängt?
Aber man möchte das Virus eindämmen und man hat sich entschieden es auf die deutsche Art zu tun, d.h. die Ziele in allen messbaren Punkten überzuerfüllen. Per Erlass wurde der Mitmensch zum Viruswirt und die Kanzlerin schenkte dem braven Regelfolger in aller Deutlichkeit einen unvergleichlichen Mehrwert: „Jeder, der die Regeln befolgt, kann jetzt ein Lebensretter sein“. Und wer will das nicht?
Wie Eugen Egner so treffend bemerkt hat: Der Notfall erfordert alles!
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