Spießer – Philister – Kleinbürger
Rezensionsnotiz zu Das Spießerverdikt von Sonja Engel & Dominik Schrage
Niemand möchte „spießig“ sein. Das Buch Das Spießerverdikt. Invektiven gegen die Mittelmäßigkeit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Bielefeld 2022), verfasst von Sonja Engel und Dominik Schrage, geht der Frage nach, woher dieser seltsame Begriff des „Spießer“ – und seine Verwandten wie derjenige der mittlerweile aus der Mode gekommene des „Philisters“ und derjenige des „Kleinbürgers“ – eigentlich kommt und welche Funktion er im Diskurs des 19. Jahrhunderts spielte.
Die Autoren arbeiten mit einer an Michel Foucault angelehnten diskursanalytischen und genealogischen Methodik, die sie im ersten Teil der Studie umfangreich darlegen. Im Hauptteil gehen sie dann auf drei Konstellationen ein, in denen das Spießer-Paradigma im 19. Jahrhundert besonders virulent wurde: Die Philister-Kritik der deutschen Romantik, Marx’ und Engels’ Polemik gegen die Kleinbürger und die Abgrenzung gegenüber den „Normalbürgern“ seitens der deutschen Bohème um 1900. Zum Schluss gehen sie dann der Frage nach, inwieweit das Spießerverdikt im 20. und 21. Jahrhundert fortlebt und welche politische Funktion es zukommt.
Engel und Schrage gelingt eine materialreiche und zugleich kompakte Zusammenschau des Diskurses um Spießigkeit. Als zentrales Thema der Kritik am Spießertum arbeiten sie heraus, dass der Spießer jemand sei, der nur an sich selbst und seine kleinlichen materiellen Interessen sowie seinen beschränkten Alltagshorizont denke, dabei jedoch das ‚große Ganze‘ aus dem Blick verliere. Hinzu kommt der Konservativismus des Spießers. So bezeichnet der romantische Dichter Ludwig Tieck Philister als „Anti-Enthusiasten, Unpoeten, die Kinder und Schüler des Herkommens und der Gewöhnlichkeit“ (zit. n. S. 100). Diese Abwertung sei zugleich mit einer impliziten Aufwertung der eigenen Lebensweise verbunden: Bei den Romantikern die Aufwertung der weltoffenen, ungebundenen Lebensweise der „Studierenden“, wie es Brentano formuliert (zit. n. S. 80) (das Wort aufgrund der „fehlenden gendersensiblen Sprache“ [S. 8] jener Zeit noch als Verlaufsform gebrauchend, also jemanden bezeichnend, der wirklich studiert, dem es nicht bloß um formelle, sondern echte Bildung geht); bei Marx und Engels die Aufwertung der politisierten, kämpferischen Lebensweise des Proletariats und der revolutionären Bourgeoisie; bei der Bohème die Aufwertung der vagabundierenden, bewusst ‚a-sozialen‘ Lebensform der Aussteiger. Die Studie bleibt dabei rein deskriptiv: Die verschiedenen Typen der Spießerkritik werden miteinander verglichen und ihre Funktion im Rahmen größerer kultureller und sozialer Wandlungsprozesse wird aufgezeigt.
Was Engel und Schrage allerdings trotz der Inblicknahme sexistischer, antisemitischer und antiziganistischer Diskurse bemerkenswerterweise aussparen, ist die, wenn man so will, ‚dunkle Seite‘ der Spießerkritik. „Spießer“ gehörte etwa zu den Lieblingsvokabeln Joseph Goebbels’, erinnert sei nur an folgende Sätze aus seiner berühmten „Sportpalastrede“ von 1943: „Welche deutsche Frau wollte es übers Herz bringen, sich einem solchen Appell, den ich vor allem für die kämpfende Front an die deutsche Frauenwelt richte, zu entziehen? Wer wollte jetzt eine spießige Bequemlichkeit über das nationale Pflichtgebot stellen? Wer wollte jetzt noch angesichts der schweren Bedrohung, der wir alle ausgesetzt sind, an seine egoistischen privaten Bedürfnisse denken und nicht an die über alledem stehenden Notwendigkeiten des Krieges?“
Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus angezeigt, die Frage zu diskutieren, wie der Spießerdiskurs eigentlich normativ zu bewerten ist. Kann es nicht auch etwas Gutes haben, ein unpolitischer, egoistischer Spießer zu sein, wenn die, wie es Nietzsche formulierte, „große Politik“ einen verheizen möchte? Ist mangelnder Enthusiasmus und das Beharren auf dem „Normalen“ nicht manchmal angebracht, wenn die Mächtigen den nächsten Paradigmenwechsel einläuten? Vielleicht ist der Spießer in unserer Zeit eine geradezu subversive Figur?
Ein wesentlicher Topos der Spießerkritik, den auch Engels und Schrage immer wieder herausstellen, ist die Kritik an den bloßen „Brotgelehrten“ oder eben „Studenten“ gegenüber echten „Studierenden“ und „Gebildeten“. Novalis spricht etwa abwertend von „geordneten Köpfe[n]”, welche „trachten müssen […] wahre Gelehrte, gründliche Encyclopädisten zu werden” (zit. n. S. 94). Als „wahre Gelehrte“ und „gründliche Encyclopädisten“ der Spießigkeit betätigen sich Engels und Schrage in dieser sauber gearbeiteten Studie zweifellos. Kritisch formuliert: Als „Bildungsphilister“, die ihren Gegenstand dadurch neutralisieren, dass sie ihn komplett wertfrei-distanziert betrachten, ohne ihn wirklich an sich herankommen zu lassen. Dies zeigt sich besonders in ihrer Sprache, die arg am modischen Jargon der Kultursoziologie orientiert und für den gewöhnlichen Leser sehr gewöhnungsbedürftig ist.
Wie gesagt: Nach 1943 wird man eine allzu schnelle Spießerkritik kaum noch üben können. Wenn man einen Sinn für Ästhetik besitzt, wird der Hauptgewinn des Buches freilich in den Zitaten liegen und den Verweisen auf einige sehr lesenswerte Texte, nicht so sehr in den Kommentaren dazu, die sich neben den glänzenden Polemiken eines Marx, eines Brentano, eines Landauer oder eines Nietzsche arg grau ausnehmen. Sicherlich hätten es Engel und Schrage im Rahmen ihrer Profession kaum anders machen können – aber wenigstens ein Quentchen Selbstironie hätte der Studie nicht geschadet. Mein Wunsch: Ein Lesebuch mit all den zusammengetragenen Dokumenten der Spießerkritik der letzten zwei Jahrhunderte mit kurzen Kommentaren und einem Fazit, das etwas Engagiertheit verrät. Ist die Spießer- und Kleinbürgerkritik heute noch am Platze? Sollten wir nach 1943 lieber Spießer werden? Wer sind die Spießer von heute? – Fragen, die leider unbeantwortet bleiben in diesem Zeugnis emsiger Gelehrsamkeit.
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