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Newgrange – Die Pyramide des Nordens

Es ist seltsam, über ein Artefakt zu schreiben, dass über 5000 Jahre alt ist. Wahrheitskriterium bei der Interpretation von Artefakten ist üblicherweise, dass die Interpretation das aufdeckt, was der Intention des Schöpfers entsprach, selbst wenn diese diesen bei seiner Produktion nur unbewusst geleitet haben mag. Derart sichert sie sich gegen interpretatorische Willkür und Spekulation. Voraussetzung dieser Methode ist die Annahme einer Kontinuität menschlichen In-der-Welt-Seins. Denkt man sich die menschliche Existenz als gebrochene, ist jede Interpretation zum Scheitern verurteilt. Ich kann die Artefakte anderer Menschen verstehen, weil ich Mensch bin wie sie – oder doch zumindest, weil ich auch ein Bürger, ein Europäer, ein Proletarier bin etc.

Doch wie diese Annahme rechtfertigen angesichts eines Artefakts, dass aus einer Zeit entstammt die mir, nach allem, was ich über sie weiß, derart fremd sein muss als hätte ich es mit einer gänzlich anderen Lebensform zu tun? Gibt es irgendeine unserer Kategorien, die sich auf die Jungsteinzeit übertragen lässt?

Der erste Eindruck der Grabanlage Newgrange ist so zweifellos der der Erhabenheit. Irgendwo in der irischen Provinz, in einer heute nur spärlich besiedelten Gegend, erstreckt sich das Boyne Valley. Heute ein Tummelplatz für Schafe, war hier um 3200 v. Chr. ein Zentrum der jungsteinzeitlichen Kultur, vergleichbar durchaus mit den frühen Hochkulturen des Südens. Hinterlassen haben uns diese Menschen nichts bis auf ihre Gräber. Hügelgräber sind es, Newgrange ist nur das größte von ihnen, 11 Meter hoch, 90 Meter der Durchmesser. Aus massiven Felsblöcken aufgeschichtete Kuppeln, in deren Inneren man die Toten bestattete. Man kann anhand des Ursprungs der verwendeten Steine, die teilweise von weit her stammen, errechnen, dass der Bau dieser Gräber Jahrzehnte gedauert haben muss unter der Beteiligung von hunderten von Arbeitern. Doch das eigentlich besondere ist, dass die Eingänge der meisten Gräber nach bestimmten astronomischen Ereignissen ausgerichtet sind. Im Falle von Newgrange ist das die Wintersonnwende. Trotz Verschiebung der Erdachse funktioniert der wohl beabsichtigte Effekt bis heute: Morgens zur Wintersonnwende fällt der Sonnenstrahl durch den Eingang genau in die das Innere des Grabs, genau dorthin, wo die Toten liegen. Den Rest des Jahres herrscht dort Dunkelheit.

Noch die Kelten haben die Hügelgräber als Kultstätte verwendet, auch als längst Erde über die Gräber gewachsen war und dort Schafe grasten wussten die Bauern noch zu berichten, dass diese Hügel Tore zur Welt der Elfen darstellen und man dort besser nicht nächtigen sollte.

Der Eindruck der Erhabenheit fußt so nicht so sehr, wie wohl bei den ägyptischen Pyramiden, auf dem unmittelbar sinnlichen Eindruck, sondern ist bereits durch ein dem sinnlichen Objekt äußerliches Wissen vermittelt. Durch unmittelbare Intuition kann man sich vielleicht moderne Kunstwerke erschließen, im Falle von Newgrange ist es unmöglich. Aber selbst die genauesten archäologischen Kenntnisse können nur Indizien auf das große Rätsel von Newgrange liefern: Warum? Die folgenden Überlegungen sollen eine Antwort darauf liefern – eine Antwort, die freilich nichts anderes als ein Versuch des Denkens sein kann, vor dem Unverständlichen nicht zu kapitulieren.

Das bisher Gesagte muss durch den wichtigen Hinweis ergänzt werden, dass die Vielzahl der Gräber auf eine gesellschaftliche Hierarchie schließen lassen. Es gibt wenige große, einige mittlere, zahlreiche kleine. Dies und die Umstände der Erbauung, soweit rekonstruierbar, legen eine Klassengesellschaft nahe. Die Jungsteinzeit war eine Epoche gewaltiger technischer Innovationen. Bis heute beeindrucken selbst die primitivsten Werkzeuge durch ihre handwerkliche Perfektion. Die Menschen hörten auf, als Jäger und Sammler umherzuschweifen und somit den Naturkräften blind ausgeliefert zu sein, sondern ließen sich nieder und betrieben Ackerbau und Viehzucht. Das Boyne Valley muss in dieser Hinsicht ein wahres Paradies für die dort lebenden Menschen gewesen sein. Der Boden bot fruchtbares Ackerland, der Fluss Fisch im Übermaß. Durch diese günstigen Umstände wurde zum ersten Mal in der Geschichte ein konstantes Mehrprodukt an Ressourcen verfügbar, wurde so etwas wie „Eigentum“ überhaupt denkbar. Es liegt nahe, dass Newgrange das Grab der herrschenden Familie gewesen ist. Vielleicht waren es Krieger, die sich von Arbeitssklaven die Steine heranschaffen ließen, vielleicht verpflichteten sie auch ihre eigenen Stammesgenossen zu Frondiensten. Es ist anzunehmen, dass sie ihre Herrschaft ähnlich der des Pharaos begründeten: Der Ackerbau beendete zwar die gröbste Abhängigkeit der Menschen von den Launen der Natur, konfrontierte sie jedoch auch zum ersten Mal in der Geschichte mit einer völlig neuen Perspektive auf dieselbe: Der Natur nicht als völlige Kontingenz, sondern als blindes Gesetz. Es gibt Zeiten der Saat und Zeiten der Ernte, an die man sich zu halten hat. Man muss Vorräte anlegen und diese zuteilen. Vermutlich ergeben sich in Zeiten des Mangels Streitigkeiten um dieselben und um die fruchtbarsten Ackerböden. All die erheischt eine Arbeitsteilung zunächst zwischen Wissenden und Unwissenden – also Kennern des Gesetzes und Dahinlebenden –, dann auch zwischen denen, die von der Plünderung und militärischer Übermacht (vielleicht nur aufgrund des Besitzes einiger scharfer Steinklingen) und denen, die von ihrer Arbeit leben. Krieger und Priester also als sich gemeinsam an der Macht haltende herrschende Klasse. Die Priester erforschen den ewigen Kreislauf der Natur. Diese erscheint zweifach: Als wundersame Regelmäßigkeit, der man sich nur anschmiegen muss, um gesegnet zu werden – aber auch als grausame, undurchschaubare Kontingenz, die es zu fürchten gilt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die Menschen von Newgrange diese Natur in irgendeiner personifizierten und sonst wiekonkretisierten Form vorstellten. Es ist nur ein Symbol, das uns überall begegnet in den Gräbern: Die Spirale, Symbol des ewigen Kreislaufs von Untergang und Aufgang, Saat, Reife und Ernte, Tod und neuem Leben. Die Spiralen von Newgrange sind größtenteils unsichtbar, im Inneren des Grabes. Dies lässt nahelegen, dass das Symbol schon durch sein bloßes Einritzen für die Erbauer eine ihm innewohnende Kraft gehabt haben muss. Es dient der Beschwörung der durch die Spirale verkörperten Macht: Ein Ende des Kreislaufs wäre die Katastrophe, er muss immer wieder am Leben erhalten werden.

Der Kreislauf muss zugleich auch vorgestellt werden als Folge der Generationen – und damit auch als Konstanz der herrschenden Familien. Vielleicht wurde die Herrschaft der herrschenden Familie als direkte Bedingung dafür angesehen, dass auch die Konstanz im Kreislauf der Natur gegeben war. Gerade in dieser Hinsicht muss den Menschen alles ein Rätsel gewesen sein, muss die Grausamkeit der Natur immer wieder manifest geworden sein in Kindestot, Unfruchtbarkeit, plötzlicher Krankheit.

Newgrange muss so als Bollwerk gegen die Kontingenz verstanden werden. Die Sonne geht jeden Morgen auf, auch wenn sie untergeht. Sie folgt sogar jedem Jahr exakt demselben Zyklus. Sie spendet Wärme und ermöglicht so das Wachstum der Pflanzen. (Womöglich gab es erste Ahnungen dieses Zusammenhangs dadurch, dass in lichtarmen Jahren die Ernte geringer ausfiel.) Sie verheißt so jeden Tag, jedes Jahr aufs Neue: Es gibt das Gesetz und solange das Gesetz herrscht und die Menschen ihm folgen wird es allen gut gehen. Wenn auf Untergang stets neuer Aufgang folgt, dann folgt auch auf Tod neues Leben. Muss es zumindest. Der Tod kann nicht die letzte Antwort sein. Es gilt, der mit dem Tod einbrechenden Kontingenz etwas entgegenzusetzen, das dem Gesetz der Sonne folgt, auf dieses Bezug nimmt. Ist auch das Leben von Mühen und Leiden geprägt, sollen es die Toten doch gut haben. Für sie baut man einen Palast aus Stein wie er keinem Lebenden gebührt. Das demonstriert die Dankbarkeit gegenüber dem Erbe der Vorfahren, aber auch die Macht der Krieger und Priester. Auch wenn die Kinder und Mütter sterben, auch wenn es Missernten gibt: Die Ordnung wird doch bewahrt. Die Toten ruhen in ihrem Palast aus Stein und sind so noch unter uns, können uns vielleicht sogar noch mit Rat zur Seite stehen. Sie kehren dorthin zurück, wo sie hergekommen sind: In den Uterus, in eine Welt reiner Gesetzlichkeit ohne Mühe und Not, ohne jede Kontingenz.

Die große Relevanz, die die Gräber sowohl für die herrschende Klasse als auch für die Beherrschten (denn sie werden wohl kaum unter bloßem Zwang Generationen lang Steine durch die Gegend geschleppt haben)  gehabt haben müssen, wird so greifbarer. Sie standen ja direkt neben den kargen Holzhütten der Lebenden, gemahnten in Zeiten der Not und des Zweifels an die Größe der Ahnen und den Trost eines sicheren Lebens nach dem Tod. Dennoch müssen die Gräber klar gesehen werden als das, was sie sind: Nicht nur Zeugnis erster Kultur und Wissenschaft sondern, damit untrennbar verbunden, eben auch die ersten Zeugnisse von Klassenherrschaft und Unterdrückung. Unterdrückung nicht nur im sozialen, sondern auch in einem tieferen Sinn: Um zu überleben, müssen sich die Menschen einem Gesetz unterwerfen, das nicht ihr eigenes ist. Bereits auf der primitivsten Stufe fassen sie diesen Gesamtzusammenhang der Natur in ein abstraktes Symbol – es ist der Zusammenhang, das Gesetz. Wer sich dem Gesetz unterwirft, wird nicht nur irdisches Glück erleben, sondern viel mehr noch: Er wird für alle Zeit im Palast aus Stein ruhen. Man muss den Vorfahren, dem Naturgesetz, dem Befehl von Priester und König gemäß leben.

Was unterscheidet uns wesentlich von den Menschen von Newgrange? Auch wir glauben an eine abstrakte Gesetzmäßigkeit der Natur und daran, dass wir, indem wir ihr uns unterwerfen, der ‚bösen‘ Natur entgehen können. Auch wir leben in der vor über 5000 Jahren gestifteten Ordnung des Gesetzes, haben unsere Priester und unsere Krieger. Auch wir verzweifeln an der Kontingenz der Natur, die uns trotz all unserer erbärmlichen Bemühungen, all unserer ‚ewigen‘ Bollwerke immer aufs Neue heimsucht. Newgrange ist mit den heutigen Teilchenbeschleunigern vergleichbar. Unter immensem Aufwand wird ein Sonnenstrahl festgehalten und man berauscht sich daran, der Kontingenz aufs Neue ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Newgrange richtet so eine brutale Frage an uns, die wir uns soweit fortgeschritten wähnen: Hat ein Fortschritt stattgefunden? Was ist das Ergebnis von 5000 Jahren ‚Fortschritt‘, entbehrungsreicher Treue zum Gesetz? Ein Schrei der Angst und der Verzweiflung erschallt so durch die Jahrtausende. Er erzählt von enttäuschten Hoffnungen, zerstörten Illusionen, gemarterterten ‚Unbelehrbaren‘, die in der Spiralen-Welt keine Heimstatt finden konnten. Unser Traum ist der Palast aus Stein.

Man muss an die denken, für die im Palast aus Stein keine Heimstatt war und ist, die unter der sinnlosen Knute der Krieger stöhnten und für die die Versicherungen der Priester nichts weiter als leere Phrasen waren. Sie träumen einen anderen Traum, der unter den Steinen begraben liegt, doch nicht verschüttet wurde: Wieder in der Wildnis zu leben, umherzuschweifen, frei zu sein. Jenseits des Gesetzes gibt es auch kein Leiden an der Kontingenz, man braucht keine Vertröstung auf den ewigen Schlaf. Kein Vater, weder Priester noch Krieger, und auch keine gütige Mutter. Nur Leiber, die von denen der Tiere noch nicht geschieden sind und sich in verschiedenen diffusen Konstellationen des Kampfes und der Liebe zueinander verhalten. Wenn es das noch nicht zum abstrakten Prinzip erstarrte ‚Glück‘ will, teilen wir einen Festschmaus, wenn nicht, gehen wir in blutigen Ekstasen gemeinsam zu Grunde. Auch die Menschen von Newgrange müssen diese Sehnsucht, diesen ‚abwegigen‘ Traum gehabt und unter Berufung auf ihn die Solidarität mit der Herrschaft und den hybriden Traum der totalen Naturbeherrschung unter dem Banner des Prinzips aufgekündigt haben. Vielleicht sind Verwegene auf die Idee gekommen, in die Wälder zu fliehen und dort wieder das Leben ihrer Urahnen zu führen. Ihre Leichname sind in Wind und Weter verwest und die Bäume, die ihnen ein schützendes Dach boten sind längst verdorrt. Doch der Hauch des Windes war ihnen der Atem der Geliebten, der Regen gleich den Tränen des Bruders, die Äste Bäume die Arme der Schwester und der Tod wie der letzte süße Kuss einer Folge von Ausschweifungen. Sie haben vielleicht ein besseres Leben geführt als die tragischen Helden im Hügelgrab. Denn tragische Helden sind es gewiss. Ihr gewaltiger Traum hat sich nicht erfüllt: Auch nach 5000 Jahren Spiralenkultur sind wir an kein Ende der Mühen gekommen. Und wenn sich die Erdachse weiterverschiebt, wird irgendwann kein Licht mehr auf die längst an einem anderen Ort befindlichen Toten fallen.

Literaturhinweise

Wolfgang Metternich: Kunstdenkmäler in Irland. Darmstadt 2003.

In knappen, aber sehr informativen Artikeln werden alle wichtigen Kunstdenkmäler der Insel von der Frühzeit bis in die Gegenwart beschrieben.

Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. MEW Bd. 21.

Immer noch klassische materialistische Analyse der Frühgeschichte der Menschheit auf der Basis des damals aktuellen Stands der Forschung.

 

(Der Artikel wurde erstmals veröffentlicht auf dem Blog Café Noir. Alle Bilder stammen von mir.)

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