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Einige Anmerkungen über Rausch und Wahn bei Nietzsche – und das Eselsfest

In seiner großen Studie Wahnsinn und Gesellschaft versucht der Sozialtheoretiker Michel Foucault zu zeigen, dass sich die abendländische Vernunft seit dem 18. Jahrhundert über eine Abspaltung des Irrationalen, insbesondere des Wahnsinns, aus sich selbst konstituiert hat. Dieser Prozess vollzieht sich materiell in den psychiatrischen Kliniken, die sich aus den Gefängnissen und Arbeiterslagern entwickeln, in denen in irgendeiner Hinsicht auffällige Individuen vom normalen Rest der Gesellschaft isoliert werden. Mit der Aufkunft dieser Institutionen wird der jahrtausendelange Dialog zwischen Wahnsinn und Vernunft, die Unsicherheit in der genauen Grenzziehung zwischen beiden, die sich insbesondere darin zeigte, dass sich die Vernunft nicht sicher war, ob sie nicht auch nur eine Form des Wahnsinns ist, beseitigt und durch eine neue Eindeutigkeit ersetzt. Der Wahnsinn wird zum Verstummen gebracht, das Reden der Wahnsinnigen als sinnloses Gebrabbel denunziert. Die Psychiatrie wird zugleich zum Ort der Gewaltsamkeit und der Folter, in der die Gesellschaft höchst inhumane Methoden an Einzelnen anwendet in der Gewissheit, damit der allgemeinen Humanität einen Dienst zu erweisen. Am Ende der Studie erwähnt Foucault unter den Autoren, die sich dieser gewaltsamen Trennung nicht fügen und versuchen, dem Wahnsinn eine Stimme zu geben, neben Schriftstellern wie dem Marquis de Sade und Friedrich Hölderlin auch den Philosophen Friedrich Nietzsche.

In der Tat hat sich wohl kein anderer Philosoph vor ihm so intensiv mit Phänomenen der Irrationalität wie Rausch und Wahn beschäftigt wie er. Und zwar in genau der Absicht die Grenzen zwischen Ratio und Irratio zu verwischen. „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe“, lässt er seinen Helden Zarathustra sagen. „Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn.“ Diese Liebe, und damit der Wahnsinn, ist es aber, der uns grundsätzlich überhaupt am Leben hält: „Es ist wahr: wir lieben das Leben, nicht, weil wir an’s Leben, sondern weil wir an’s Lieben gewöhnt sind.“ Die Lebensfeindlichkeit seiner Gegenwart bringt Nietzsche explizit in Verbindung mit der Entstehung der Psychiatrie:

Ich zeige euch den letzten Menschen.

„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ — so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.

„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die letzten Menschen und blinzeln.

Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.

Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!

Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.

Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.

Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.

Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.

„Ehemals war alle Welt irre“ — sagen die Feinsten und blinzeln.

Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald — sonst verdirbt es den Magen.

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die letzten Menschen und blinzeln. —

Gegen diesen „letzten Menschen“, den Nihilisten, den Menschen der Gegenwart setzt Zarathustra alias Nietzsche den Menschen, der „noch Chaos in sich trägt“, aus dem er einen „tanzenden Stern“ zu gebären vermag. Als Heilmittel gegen die moderne Entfremdung vom Irrationalen dient ihm die Lehre vom „Übermenschen“: „Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“

Bereits in seiner ersten Schrift, Die Geburt der Tragödie, bläst Nietzsche in die Flöte jener aufklärungsskeptischen Kulturkritik. Er definiert hier unter Rückgriff auf die Mythologie der griechischen Antike das Dionysische als Prinzip des Rausches und der Unordnung, dem das Apollinische als Prinzip der Ordnung entgegensteht. Ironischerweise wird nun gerade das Apollinische mit dem Wahn assoziiert, insofern die Grundlage jeder Ordnung eine Abstraktion von dem Chaos der Wirklichkeit darstellt und mithin wahnhaft ist. Die alten Griechen wussten um den Ursprung der Welt im Widerstreit zwischen wirklichen Chaos und symbolischer Ordnung, in dem das Chaos letztendlich immer wieder die Oberhand gewinnen wird. Seinen höchsten Ausdruck findet diese Weltsicht in der Tragödie, in der das Subjekt seinen eigenen Untergang im Rausch ästhetisch genießt. Zerstört wurde diese Weltsicht durch das Auftreten der Aufklärung in Gestalt des Sokrates, der den intrinsischen Zusammenhang zwischen Wahn, Rausch und Vernunft leugnete und ein ontologisches Primat der Welt der Ideen vor dem Chaos der Wirklichkeit behauptete. Die Welt müsse der Welt der Ideen immer mehr angepasst werden, bis schließlich alle Spur von Chaos getilgt sei und reine Ordnung herrsche. Damit würde sich allerdings, nach Nietzsche, das Leben und damit auch die Philosophie selbst aufheben. Einziger Schutz dagegen ist, jenes uralte Wissen um die innere Verschränktheit von Wahn, Rausch und Vernunft wiederzuentdecken und demgemäß eine Vernunft zu entwickeln, die um ihren eigenen Ursprung in Wahn und Rausch weiß und ihn produktiv aufgreift anstatt ihn zu verdrängen. Diese Vernunft kann nun nicht mehr in der Sprache traditioneller Philosophie sprechen, sondern in fragmentarischer Form, oft der Literatur näher als dem, was man üblicherweise als Philosophie kannte.

Man sollte nicht die Radikalität übersehen, in Nietzsches kühner Konzeption steckt: Er rüttelt schließlich an bis heute gültigen Grundprämissen unserer Kultur. Von Sozialismus, Feminismus, Demokratie und anderen Arten der Weltverbesserung will er nichts wissen, da diese alle auf dem lebensfeindlichen Antrieb basieren, das Chaos zu vernichten und an seine Stelle die Ordnung zu setzen, hegt stattdessen unverhohlene Sympathien für vormoderne Kulturen. Es ist kein Wunder, dass Nietzsche daher oft als Irrationalist und Vordenker von Faschismus und Nationalsozialismus verdammt wurde.

Doch diese Sichtweise ist viel zu schematisch. Wenigstens aus Foucaults von Nietzsche inspirierter Perspektive wäre es so, dass man etwa die nationalsozialistischen Internierungslager sehr gut in Kontinuität mit den aufklärerischen Weltverbesserungsbemühungen des 18. Jahrhunderts sehen müsste und gerade nicht als ihr Gegenteil. Auch den Nationalsozialisten ging es, bei aller antimodernistischen Ideologie, ja wie den Aufklärern um die Reinigung des „Volkskörpers“ (und letztendlich: der gesamten Menschheit) durch Isolation, Heilung und, wenn nicht anders möglich, Elimination schädlicher Elemente – zu denen insbesondere auch Geisteskranke aller Art gehörten (und auch den Juden wurden von den Nazis ja alle möglichen Attribute der Geisteskrankheit und Perversion zugesprochen). Dies entsprach durchaus dem Geist der Zeit, der auch von vielen Linken geteilt wurde – und wird.

Die Aktualität von Nietzsches Kritik zeigt sich insbesondere daran, dass sich an den grundsätzlichen Paradigmen der „Sozialhygiene“ seit dem 18. Jahrhundert trotz aller Reformbemühungen wenig geändert hat. Die Psychiatrie ist nach wie vor ein gewaltiger Repressionsapparat zur gewaltsamen Durchsetzung normaler Denk- und Fühlweisen, die Wahrheit des Wahnsinns wird geleugnet, Wissenschaft und Philosophie sind weit davon entfernt, den vernunftkritischen Einsichten Nietzsches einen entsprechenden Tribut zu zollen.

Statt einem richtigen Fazit des Textes ein Hinweis in eigener Sache:

Am 21. und 22. August soll im Studierendenhaus in Frankfurt am Main ein Festival stattfinden, bei dem es genau darum gehen soll, in einem experimentellen Rahmen Nietzsches Kulturkritik nicht nur theoretisch zu diskutieren, sondern auch praktisch umzusetzen. Unter dem Motto „Philosophie, Kunst, Techno“ soll es um die konkrete Begegnung und Grenzverwischung zwischen den Sphären der Vernunft, des Wahns und des Rausches gehen. Wer mehr über die hier skizzierte Kulturkritik wissen möchte, sollte sich dieses Event also keinesfalls entgehen lassen.

Alle Informationen dazu finden sich auf der Internetseite eselsfest.wordpress.com.

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