Die Förderung meiner Reisekosten durch die Freunde und Förderer der Goethe-Universität ermöglichte es mir, an der Tagung „Nietzsche, Psychoanalysis, and Feminism“ teilzunehmen, die am 25. und 26. November 2016 an der der Kingston University London stattfand. Das gewählte Thema lieferte schon von sich aus den Stoff für Kontroversen: Nietzsche äußerte sich nicht gerade wohlwollend gegenüber dem Feminismus seiner Zeit und bezeichnet die Emanzipation des „Weibes“ etwa als den „Instinkthass des missrathenen, das heisst gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgerathene“; andererseits wurde er aber auch, insbesondere durch seine spekulative Vorwegnahme zentraler Einsichten der Freudschen Psychoanalyse und seine radikale Infragestellung überkommener Moralvorstellungen, zu einem der wichtigsten Anreger feministischer Diskussionen des 20. Jahrhunderts und wird von zahlreichen feministischen Theoretikerinnen als wichtiger Impulsgeber genannt. Entsprechend agonal ging es auf der Tagung mitunter auch zu.
Gleich zu Beginn sprach der wohl prominenteste Gast der Tagung, die französische Feministin Luce Irigaray, die neben Judith Butler die wohl wichtigste lebende feministische Philosophin ist und sich in zahlreichen Texten in meist sehr ambivalenter Weise auf Nietzsche bezieht. Sie betonte, wie wichtig die Lektüre Nietzsche für ihr persönliches self empowerment war und wie sehr ihr insbesondere Also sprach Zarathustra dabei geholfen hat, sich in der männlich dominierten Philosophen-Welt zu behaupten. Sie erblickt in Nietzsche eine Kritik der Trennung von Leib und Kultur, die sie durch eine Rückbesinnung auf den leiblichen, insbesondere auch: den sexuellen, Aspekt der menschlichen Existenz zu überbrücken trachtet. Nietzsche liefere für diese Umwertung der metaphysisch-patriarchalen Abwertung des Leiblichen wichtige Ansatzpunkte, bleibe jedoch auf halbem Weg stecken – nicht zuletzt, weil es ihm an einer Konzeption wirklicher Empathie fehle. Der Mann müsse vermittelt über die Frau zu einer neuen, nicht-patriarchalen Männlichkeit finden, um sich von seinen eigenen psychischen Beschädigungen zu befreien.
Irigarays Vortrag erregte insbesondere deshalb Widerspruch, weil ihre Ansichten biologistische Implikationen zu haben scheinen, die mit neueren, (de-)konstruktivistisch orientierten feministischen Ansätzen unvereinbar sind. So scheint sie von einem natürlichen Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau auszugehen. Explizit äußerte sie sich zudem mehrmals negativ über Homosexualität und scheint darin eine unnatürliche Abirrung zu erblicken. Das Echo auf ihren Vortrag blieb so gespalten.
Die isländische Philosophin Sigridur Thorgeirsdottir schloss sich bei ihrem Vortrag am zweiten Tag der Konferenz der Position von Irigaray weitgehend an und betonte, dass Nietzsche als wichtiger Kritiker an einem liberalen Feminismus anzusehen sei, wie ihn Simone de Beauvoir und Judith Butler verträten. Diesem Feminismus gehe es v. a. um eine rechtliche Gleichberechtigung der Geschlechter und einer Nivellierung der Geschlechtsunterschiede. Stattdessen seien jedoch Differenzen nichts an sich Schlechtes, sondern eine zentrale Voraussetzung gelungenen Lebens. Diese sollten jedoch nicht als strikte Dualitäten, sondern als flexible Variationen gedacht werden. Im Gegensatz zu Irigaray betonte Thorgeirsdottir daher, dass sie den Gegensatz von Mann und Frau nicht für natürlich halte, sondern eine soziokulturelle Konstruktion – und daher auch keinen essenziellen Unterschied zwischen Homo- und Heterosexualität sehe. Auch bei ihr kommt allerdings den Frauen die Aufgabe zu, das emotional-triebhafte Moment, das in der patriarchalen Kultur verdrängt wird, zu vertreten und so auch den Männern zu einem gesunderen Selbstverhältnis zu verhelfen. Diese Rückbesinnung auf die nicht-rationalen Grundlagen des Denkens sei der einzige Weg der Rettung der Philosophie: Man solle philosophische Reflexion als bewusst standpunktabhängiges Denkens verstehen. Thorgeirsdottir betonte dabei insbesondere, wie wichtig es sei, dass nun auch jüngere Männer anfingen, feministische Philosophie als Infragestellung ihrer eigenen Männlichkeit zu betreiben und dass diese Stimmen einen zentralen Beitrag zur feministischen Debatte leisten könnten.
In der Diskussion wurde kritisch angemerkt, ob die Konzeption standpunktgebundenen Philosophierens nicht die Gefahr mit sich bringe, seine privilegierte Sprecherposition nicht zu hinterfragen, sondern diese gerade zu affirmieren. Dabei wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Konferenz zwar weiblich dominiert sei, jedoch kaum Stimmen aus dem globalen Süden zu Wort kämen. Thorgeirsdottir gab daraufhin zu, dass ihre Sprecherposition extrem privilegiert sei: Feministinnen in Island seien niemals Opfer gewesen, sondern immer anerkannter Teil der Gesellschaft. Auch sie fände es wichtig, die Philosophie zu entwestlichen. Trotzdem sei es nun einmal so, dass die philosophische Reflexion immer einen nicht-philosophischen Ausgangspunkt voraussetze und dass die Reflexion auf diese Situiertheit die Überwindung auch der eigenen Vorurteile erst ermögliche.
Den dritten der Hauptvorträge hielt Christine Battersby, die wichtigste feministische Philosophin des Vereinigten Königreichs. Ihr Hauptanliegen besteht darin, den kulturellen Beitrag, den Frauen in der Geschichte leisten und leisteten sichtbar zu machen. Weibliche Kreativität werde dabei im patriarchal dominierten Diskurs systematisch verdrängt, insbesondere auch bei Freud und Nietzsche. Dies sei insbesondere mit einer Verdrängung der konstitutiven Rolle der Mutter verbunden. Hier gäbe es auch eine große Parallele zur Unsichtbarmachung etwa von schwarzen Männern.
In der Diskussion kritisierte Irigaray einerseits die Vorstellung eines individuellen Ausgangspunktes der Philosophie mit dem Argument, dass wir uns selbst nicht besonders gut kennen würden. An Battersbys Vortrag kritisierte sie speziell, dass sie so viel von Mütterlichkeit spreche, während gerade die Fokussierung auf die Mütterlichkeit dem Patriarchat dazu diene, die Verdrängung von Weiblichkeit zu rechtfertigen. Hierauf entgegnete Battersby, dass es entscheidend sei, zwischen Mutter und Gebärerin zu unterscheiden – die Rolle der Mutter erschöpfe sich nämlich nicht im bloßen biologischen Akt des Gebärens, sondern bestehe im radikal altruistischen, liebevollen Sorgen um das Kind. Eine solche Mutter gäbe es bei Nietzsche gerade nicht, bei ihm komme nur die narzisstische Mutter vor, die das Kind als Mittel der eigenen Selbstbestätigung missbraucht.
Trotz der zahlreichen Unterschiede im Detail waren sich die Vortragenden der Tagung somit einig darin, dass der zentrale Beitrag eines nietzscheanischen Feminismus zur Philosophie darin bestehen könnte, eine Kritik an der patriarchalen Subjektivität und ihre Abwertung des Leibes und des anderen Subjekts vorzunehmen. Dieses feministische Philosophieren mit und gegen Nietzsche sei als Gegenentwurf zu einem liberalen aber auch ‚queeren‘ Feminismus zu verstehen. Besondere beeindruckte dabei auch der Vorschlag einer mikrophänomenologischen Entdeckung der eigenen Leiblichkeit mittels einer ausgefeilten komplexen Methode der Selbsterfahrung, den Donata Schoeller vorstellte.
Ich persönlich empfand es als große Ehre, vor so prominenten Forscherinnen wie Irigaray, Thorgeirsdottir und Battersby sprechen und meine eigenen Forschungen zu Nietzsches Kritik des Patriarchats vorstellen zu dürfen. Mir selbst ging es dabei in meinem Vortrag darum einen ‚anderen‘ Nietzsche aufzuzeigen, der mit der Vorstellung einer transformierten, post-patriarchalen, empathischen Männlichkeit durchaus vereinbar ist – und zugleich Frauen dazu aufruft, ihre eigene Eingebundenheit als Komplizinnen des Patriarchats (gerade auch durch die unhinterfragte Anpassung an die patriarchale Subjektivität) zu hinterfragen und damit zu brechen. Es freute mich, in dieser Interpretation eines nietzscheanischen Feminismus aus einer selbst männlichen Sprecherposition heraus von so erfahrenen Feministinnen bestätigt zu werden.
Doch die Tagung empfand ich abgesehen von dem hohen fachlichen Niveau der Beiträge auch ganz persönlich als große Bereicherung. Philosophietagungen sind ja meistens sehr männlich dominiert – insbesondere die Hauptvorträge werden in der Regel von erfahrenen Wissenschaftlern gehalten. Bei dieser Tagung nun war es genau umgedreht: Alle drei Hauptsprecherinnen waren weiblich, ebenso waren die Mehrzahl der anderen Referenten Frauen und auch in der Diskussion kamen mehr als sonst Frauen zu Wort. Ich hatte den Eindruck, dass diese weibliche Dominanz dem Gesamtklima der Tagung zu Gute kam und zu einer gewissen Unverkrampftheit führte, auch das Diskussionsverhalten äußerst sachlich war. Die Rede von patriarchaler Subjektivität ist eben keine theoretische Fiktion, sondern der Mangel an Empathie und Wille zur Sachlichkeit zeigt sich bei vielen männlich dominierten (also: gewöhnlichen) Tagungen auch ganz praktisch.
Posten Sie ein Kommentar.