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Die Ideologie der Nicht-Demokratie (zu Latour & Co.)

Es handelt sich bei dem folgenden Text um das vollständige, etwas korrigierte und ergänzte, Vortragsskript meines Gastvortrags bei der Vorlesung von Hans-Martin Schönherr-Mann im SoSe 2022. Den Vortrag selbst und die darauffolgende Diskussion mit Alexander Görlitz kann man sich hier ansehen. Der Skriptform ist es geschuldet, das manche Thesen etwas ungenügend erläutert bzw. durch Zitate untermauert werden. Auf Nachfrage kann ich entsprechende Nachweise und Erläuterungen gerne noch anbringen.

Eine Zeichnung von Robert Linke, zu der ihn mein Vortrag inspirierte. Mit freundlicher Erlaubnis des Künstlers.

Die Ideologie der Nicht-Demokratie. Latours Konzepts eines „Parlaments der Dinge“ als philosophische Legitimation des (Post-)Corona-Regime / Für eine Ethik des kritischen Individualismus III

I. Einleitung

Nachdem ich in den vergangenen Wochen hier auf diesem Kanal zwei Vorträge hielt zu Denkern, die sich explizit als Individualisten verstanden und eine entsprechende Ethik vertraten1)Kierkegaard und Nietzsche., möchte ich mich in meinem dritten Vortrag „Für eine Ethik des kritischen Individualismus“ an einem Philosophen abarbeiten, der sich im Gegenteil als Kritiker dessen bezeichnet, was er den modernen Individualismus nennt: Bruno Latour.

Latour lebt noch und wurde 1947 in Frankreich geboren. Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern einer Denkschule, die oft als „Neuer Materialismus“ bezeichnet wird. Ich werde diesen Vortrag mit einigen Bemerkungen zum Stand des Individualismus heute beginnen, um dann kurz die Grundthesen dieser Geistesströmung anhand vor allem einiger ausgewählter Schriften Latours vorstellen. Bevor ich den „Neuen Materialismus“ dann kritisch würdigen werde, möchte ich noch, dem Thema dieser Vorlesung entsprechend, auf Latour Legitimation der Corona-Politik zu sprechen kommen.

II. Zum Stand des Individualismus heute

Der philosophische Individualismus erlebte seine Blütezeit von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, als er von Denkern wie Rousseau 2)Vgl. mein entsprechender Vortrag auf Youtube. philosophisch erstmals vertreten wurde, und erlebte seine letzte große Konjunktur in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit, repräsentiert vor allem durch den französischen Existenzialismus und den individualistischen Flügel der Studentenbewegung.

Ich denke, es ist keine allzu kühne Behauptung, dass der Individualismus in dieser Zeit nicht nur als Denkströmung seine Glanzzeit erlebte, sondern auch als wirkliche soziale Bewegung. Auch wenn Rousseau, Kierkegaard, Stirner oder Nietzsche sich über die moderne Massengesellschaft empörten, artikulierten sie doch Anliegen, die einem breiten gesellschaftlichen Bedürfnis entsprachen und einer objektiven Lebenserfahrung. Die Moderne ist in dieser Hinsicht doppeldeutig: Sie fördert zugleich die Individualisierung in einem historisch einmaligen Maß, aber ebenso auch die Nivellierung und Vermassung der Menschen. Beide Prozesse bestehen nicht einfach zufällig nebeneinander her, sondern bedingen sich wechselseitig. Erst das vereinzelte Individuum kann zum Massemensch werden – und zugleich die Vermassung und Nivellierung als Problem erkennen, unter dem es existentiell leidet.

Eine der großen Verdienste Nietzsches ist es, den historischen Charakter des modernen Individualismus scharf herausgearbeitet zu haben – auch wenn ihn beispielsweise bereits Rousseau, Hegel und Marx vor ihm erkannten. Ich ging in meinem Vortrag zu Nietzsche auf diesem Kanal bereits darauf ein. Für ihn ist die Moderne das erste Zeitalter, in dem der Individualismus, der in den herrschenden Schichten schon immer vorhanden war, zum Massenphänomen wird – was Nietzsche kritisiert.

In Nietzsches Worten ist das Individuum „eine reife Frucht, aber auch eine späte Frucht“3)GM II, Abs. 3; Link, die ihre Existenz nicht einfach dem Zufall, der eigenen Leistung, dem bloßen Willensentschluss oder der Natur verdankt. Die Individuen seien die „edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse“4)MA I, Aph. 181; Link, deren Existenz dem allgegenwärtigen Drang zum Kollektivismus erst einmal abgerungen werden müsse.

Zu Beginn ist der Mensch erst einmal ein Herdenwesen, das vollkommen von seiner Umwelt abhängt und sich noch nicht als Individuum fühlt. Und wir können davon ausgehen, dass sich die Menschen über Jahrtausende hinweg noch nicht als Individuum interpretiert haben, sondern primär als Angehörige ihres Clans, ihrer Familie, ihrer sozialen Schicht, ihrer Religion, ihrer Stadt, ihrer Nation etc. Auch wenn es natürlich einen gewissen quasi-ontologischen ‚Urindividualismus‘ gibt, ist der Individualismus im heutigen Sinne, vom erwähnten Elitenindividualismus der Aristokratien – der freilich meist nicht besonders radikal war – abgesehen, ein historisch sehr junges Phänomen und man kann davon ausgehen, dass er noch nicht einmal heute auf der ganzen Welt derart weit verbreitet ist wie in den westlichen Gesellschaften.

Ich bin kürzlich auf ein anschauliches Beispiel gestoßen, das dies verdeutlicht: Im Mittelalter war es beispielsweise ganz normal, in Gasthäusern mit wildfremden Leuten nicht nur, wie heute noch in Hostels, ein gemeinsames Zimmer zu teilen, sondern sogar ein Bett. Nur die Reichsten konnten sich eigene Betten oder gar Zimmer leisten.5)Vgl. dieses sehr interessante Video über mittelalterliche Gasthäuser. Dies hat natürlich offensichtliche ökonomische Gründe, hat jedoch tiefere Wurzeln. Bei so gut wie allen Kindern ist es ja so, dass sie von Natur aus zusammen mit ihrem Rudel schlafen wollen und gerade nicht allein. Säuglinge beispielsweise schlafen am liebsten an ihre Bezugspersonen gekuschelt und wachen nachts regelmäßig kurz auf, um zu kontrollieren, ob diese noch da sind – wenn nicht, werden sie sofort hellwach und rufen nach ihnen. Kinder müssen erst lernen, alleine zu schlafen und dies als normale Art des Schlafens zu empfinden. Man kann davon ausgehen, dass es sich auch anthropologisch so verhält, dass das einsame Schlafen des modernen Menschen ein historisch sehr junges Phänomen ist und der gemeinsame Schlaf im Rudel eigentlich die Norm.

Der Individualismus hat kulturelle, politische und ökonomische Voraussetzungen, die alle vorhanden sein müssen, um ihn zur Massenmentalität werden zu lassen. Die ökonomischen werden, implizit, am deutlichsten von Max Stirner dargelegt, wenn er vom vollkommenen Individuum als „Eigner“ spricht.6)Vgl. dazu und zu Max Stirner allgemein den entsprechenden Vortrag von Peter Seyferth auf dem Kanal der HARP. Ein Individuum im vollen Sinne kann nur sein, wer über ein geschütztes privates Eigentum verfügt, das ausreicht, um ihn oder sie materiell unabhängig von ökonomischem Zwang zu machen. Das – implizite oder explizite – Leitbild des modernen Individualismus ist mithin der selbständige Bauer oder Kleinunternehmer, der von seiner eigenen Hände Arbeit lebt und weder vom Staat noch von der Wirtschaftsmacht anderer abhängig ist. Wenn Nietzsche davon spricht, dass „wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ein Sclave ist, er sei übrigens wer er wolle“7)MA I, Aph. 283; Link dann ist das genau in diesem Sinne gemeint. Als Beispiele für solche Sklaven nennt er: „Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter“8)Ebd..

Dies verweist schon darauf, dass die ökonomische Unabhängigkeit auch der selbständigsten Teile der Bevölkerung – von der Oberschicht einmal abgesehen – natürlich stets prekär ist. Marx hat dies bereits in der Mitte der 19. Jahrhunderts klar erkannt: Der Kapitalismus hat einerseits die Tendenz, die Entstehung kleiner selbständiger Unternehmungen zu fördern und sie zu benötigen – andererseits bedroht er die materielle Existenz der, wie es Marx nennt, „Zwischenklassen“, aber auch permanent und droht sie ins Proletariat, also die Masse der abhängig Beschäftigten, hinabzuwerfen. Der Bauernstand, einst die große Mehrheit der Bevölkerung, ist in den großen Industriestaaten mittlerweile fast verschwunden und wird nur künstlich, in steter Abhängigkeit von politischer Subvention, am Leben erhalten. Die Digitalisierung erfordert ein riesiges Heer von Spezialisten, die oft selbständig tätig sind oder aufgrund ihrer hohen Spezialisierung über eine ökonomische Machtposition zu verfügen, die es ihnen erlaubt, sehr selbstbewusst gegenüber ihrem ‚Arbeitgeber‘ aufzutreten – doch zugleich werden durch sie auch zahllose Tätigkeiten des klassischen Kleinunternehmertums obsolet oder zu kapitalintensiv, um noch von kleinen Unternehmungen betrieben werden zu können.

Die ökonomische Selbständigkeit kann freilich nur bestehen in einem Staatswesen, das jenes fragile Eigentum anerkennt und schützt. Die Oberschicht vermochte es stets, ihr Eigentum zur Not mit Privatarmeen zu sichern – die kleinen Eigentümer sind auf einen funktionierenden Rechtsstaat angewiesen, wie er sich ab dem 18. Jahrhundert entwickelte.

Doch nicht nur das. Zur Ausübung ihrer Geschäfte sind sie stets von Leistungen des Gemeinwesens abhängig, beispielsweise von einer guten Ausbildung, die sie meist nicht selbst finanzieren können, um sie auf einem bestimmten Gebiet zu Experten werden zu lassen, oder von der bestehenden Infrastruktur – von Handelswegen etwa.

Es ist zum Erhalt dieser relativ selbstständigen Schichten eine Staatlichkeit erforderlich, die für die nötigen rechtlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen sorgt, die zu ihrer Reproduktion nötig sind.

Es ist klar, dass dies ein Staat am besten leisten kann, wenn es Institutionen der breiten Partizipation der Bürger an den politischen Entscheidungsprozessen gibt. Aufgrund ihrer recht großen Zahl und auch ökonomischen Macht haben die relativ selbstständigen Mittelschichten in einem solchen Staat stets eine gewichtige Stimme, zumal viele ihrer Forderungen auch den lohnabhängigen Teilen der Bevölkerung zugutekommen.

Doch es gibt noch einen tieferen Grund, warum politische Partizipation unerlässlich ist für eine volle Individualität. Eine reine Privatexistenz ist stets eine amputierte. Ein freier Mensch muss sich auch in der Öffentlichkeit frei entfalten und seine Meinung in die Gestaltung des Gemeinwesens einbringen können.

Ein solches demokratisches Gemeinwesen muss schließlich auch auf einer Kultur der Individualität fußen. Die öffentlichen Institutionen, insbesondere das Bildungswesen, müssen die Entwicklung der Individualität fördern und es muss ein Geist der wechselseitigen Anerkennung und Hochachtung der Individualität durch die Bevölkerung wehen.

In den westlichen Gesellschaften wurde eine solche Kultur vom 18. Jahrhundert an mit großem Erfolg eingerichtet und durchgesetzt. Es gab immer wieder Rückschläge und natürlich sind wir weit von dem Idealbild einer Gesellschaft entfernt, die völlige individuelle Freiheit für alle ihrer Mitglieder garantiert, doch man wird kaum leugnen können, dass wir in dieser Hinsicht beeindruckende Fortschritte erzielt haben. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der das Ideal der freien Individualität nahezu allgegenwärtig ist und von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird.

Man mag sich freilich fragen: Wozu die ganzen Bemühungen, eine moderne Welt der Individualität zu schaffen? Offenkundig bleiben wir abhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen wir leben, unsere Freiheit ist stets eine nur relative. Der moderne Individualismus ist stets in Gefahr, diese Abhängigkeit zu negieren und so zu tun, als wäre die Gesellschaft wie ein tyrannischer Vampir, der den Menschen ihre ursprüngliche Freiheit raubt. Damit geht eine Attitüde der Asozialität und der Unverantwortlichkeit einher. Ein a- und antipolitischer Individualismus grassiert, der dem Sozialen nur feindselig gegenübersteht und damit seine eigenen Existenzbedingungen gefährdet. Einer der Hauptgründe für den Klimawandel scheint genau jener massenhafte Individualismus zu sein, der uns lehrt, uns über die Folgen unserer Handlungen für die Gesellschaft und die Natur, in die sie eingebettet ist, keine Rechenschaft abzulegen. Die Kritik an dem modernen Individualismus wird immer lauter und mithin der Ruf nach einer autoritäreren Gesellschaft, in der eine kleine Elite außerhalb der demokratischen Debatte entscheidet, was gut für die Menschen ist. Man gewinnt immer mehr den Eindruck, dass die moderne Kultur einen gefährlichen Irrweg darstellt, der nun endlich korrigiert werden muss. Statt dem Individuum muss nun endlich wieder die Gemeinschaft im Mittelpunkt unserer Ethik und Politik stehen und individuelle Freiheit erscheint nicht mehr als angeborenes Recht, sondern als Privileg, das je nach den Umständen gewährt, aber auch entzogen werden kann.

Der kritische Individualismus ist angesichts dieser beiden entgegengesetzten Tendenzen in unserer Gesellschaft in einer schwierigen Mittellage: Einerseits will er die Werte des Individualismus hochhalten und gegen jenen neuen Autoritarismus verteidigen, anderseits aber auch keinem Egoismus das Wort reden, in dem der Einzelne so tut, als wäre er der Nabel und der Welt und seine Taten hätten keine Konsequenzen für andere. Die Frage, die sich der kritische Individualismus insbesondere stellen muss, ist: Wozu das alles überhaupt? Wenn der Individualismus offensichtlich mit so vielen Probleme behaftet und so schwierig zu realisieren ist, wieso ihn nicht einfach fallenlassen und eine andere ethisch-politische Grundorientierung wählen? Vielleicht kann man diese Frage am besten beantworten, indem man sich an einer Position abarbeitet, die einen radikalen Antiindividualismus vertritt.

 

III. Grundthesen des Neuen Materialismus

Der so genannte „Neue Materialismus“ ist die geistige Strömung der Gegenwart, die am entschiedensten die Abhängigkeit des Einzelnen betont und daraus eine antiindividualistische Ethik ableitet. Er entwickelte sich in den 80er Jahren als eine Radikalisierung der poststrukturalistischen Philosophie und stellt seither eine akademisch fest verankerte Denkschule dar, die immer mehr an Popularität gewinnt. Von Beginn an waren es vor allem feministische und ökologische Themen, die den Neuen Materialismus umtrieben. Bedeutende Vertreter dieser Strömung sind beispielsweise Donna Haraway, Karen Barad und eben Bruno Latour.

Schon die poststrukturalistischen Denker wie Derrida, Foucault oder Deleuze hatten den „Tod des Subjekts“ verkündet. Das Individuum sei nichts weiter als ein Kreuzungspunkt der „Diskurse der Macht“ und die modernen Ideen von Freiheit, Verantwortung und Individualität nichts weiter als subtile Methoden der Disziplinierung der Bevölkerung. Die Menschen ließen sich effektiver kontrollieren, wenn sie sich selbst als verantwortliche Individuen betrachten. Foucault kritisiert an der Studentenbewegung, dass sich diese noch viel zu sehr im Wertekosmos der Moderne bewege.

Die Neuen Materialisten werfen den Poststrukturalisten nun vor, auch ihrerseits auf halbem Wege stecken geblieben sein. Sie seien selbst noch viel zu sehr in den Vorstellungen der Moderne verstrickt, um aus ihnen einen wirklichen Ausweg aufzeigen zu können. Insbesondere konzentrierten sich die Poststrukturalisten zu sehr auf die Formung des Individuums durch die gesellschaftliche Macht. Sie vernachlässigten sträflich den Einfluss „nicht-menschlicher Akteure“, wie es heißt, und seien daher noch verkappte Humanisten.

Diese Betonung der „Handlungsmacht nicht-menschlicher Akteure“ ist der Dreh- und Angelpunkt der Philosophie des Neuen Materialismus. Traditionellerweise wird in der Philosophie in der Tat eine scharfe Grenze zwischen Menschen und allen anderen Entitäten hinsichtlich ihrer Handlungsmacht gezogen.

Marx beschreibt diesen essentiellen Unterschied in einer der berühmtesten Passagen seines Hauptwerks Das Kapital wie folgt:

Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eignen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.9)MEW 23, S. 192; Link

Marx leugnet den Beitrag der Natur zur Schaffung des menschlichen Reichtums keineswegs. Im Gegenteil betont er immer wieder, dass dieser Reichtum nicht nur durch menschliche Arbeit, sondern eben auch die Natur entsteht.10)Vgl. neben dem Abschnitt, aus dem jenes Zitat stammt v.a. seine entsprechenden Erwägungen in der Kritik des Gothaer Programm (Link). Er würde jedoch nicht davon sprechen, dass ‚die Natur‘ bzw. einzelne natürliche Objekte, wie beispielsweise Spinnen und Bienen, handeln – und zwar aus dem simplen Grund, dass sie kein Bewusstsein von ihren Aktivitäten haben. Eine Handlung ist stets eine bewusste Tat – dies ist eine Grundprämisse unserer Kultur.

Diese klare Unterscheidung zwischen Handeln und Nichthandeln wenden wir im Alltag immer wieder an. Wenn jemand durch sein Glück im Lotto oder eine Erbschaft reich geworden ist, zollen wir ihm beispielsweise weniger Respekt, als wenn sich jemand seinen Reichtum durch jahrelange Mühen erarbeitet hat. Warum? Weil in den beiden erstgenanntem Fällen der Reichtum wenig bis nichts mit seinen Handlungen zu tun hatte.

Im Strafrecht wird die Verantwortung für eine Handlung ebenso so sehr nach dem Grad der involvierten Bewusstheit bemessen. Mir hat beispielsweise kürzlich ein Freund erzählt, dass er fast von einem auf der Straße liegenden Ziegelstein erschlagen worden wäre, der von einem abbiegenden LKW in seine Richtung geschleudert wurde. Der Fahrer des LKW konnte den Ziegelstein nicht sehen und er machte sich auch keiner Fahrlässigkeit schuldig, da er keine Möglichkeit dazu hatte und ordnungsgemäß abbog. Er wäre also, wenn es überhaupt zu einem Prozess gekommen wäre, freigesprochen worden. Und erst recht absurd wäre es, den Ziegelstein, den LKW oder die Hersteller dieser Objekte in irgendeiner Form zur Verantwortung für das Geschehene zu ziehen. Es hätte sich, wenn mein Freund verletzt worden wäre, um einen Unfall gehandelt, keine Straftat. Ein Mord hätte nur vorgelegen, wenn Bewusstsein involviert gewesen wäre, wenn etwa der LKW-Fahrer den Stein gesehen und ihn ganz bewusst mit seinem Fahrzeug in die Richtung meines Freundes katapultiert hätte. Und dann wäre es allein der böse LKW-Fahrer, der bestraft werden würde, keines der involvierten Objekte. Entsprechend spottet Marx im Kapital über einen Verteidiger, der seinen Mandaten mit dem Argument aus der Schlinge der Justiz ziehen möchte, dass das Messer ja eigentlich an dem Mord schuld sei.11)Vgl. MEW 23, S. 465 f.; Link Gewiss: Ohne das zufällig bereitliegende Messer hätte er den Mord vermutlich nicht begehen können – doch soll man deswegen den Hersteller des Messers verklagen oder denjenigen, der es dorthin legte? Am Ende gar das Messer selbst?

Es gibt natürlich viele Fälle, in denen unsere gewöhnliche Art der Zuschreibung von Handlungsmacht an ihre Grenzen kommt und die Verantwortlichkeiten nicht ganz klar sind, beispielsweise, wenn jemand massivem psychischem Druck ausgesetzt oder bewusst getäuscht wurde. Und natürlich funktioniert die Zuschreibung individueller Verantwortung nur, wenn man den sozialen Rahmen, in dem jede Handlung stattfindet, ausblendet. Wenn etwa ein verzweifelter Vater einen Raub begeht, um seine Familie zu ernähren, wird man gemeinhin geneigt sein, ihm weniger Verantwortung zuzusprechen als einem Reichen, der ohne Not Unrecht tut. Solche Begleitumstände finden sowohl in der moralischen Beurteilung als auch in der Rechtsprechung freilich ihren Niederschlag.

Diese Beispiele sollen vor allem verdeutlichen, was die Folgen wären, wenn man den traditionellen Begriff der Verantwortung konsequent leugnen wollte. Man müsste gänzlich neue Kriterien zur moralischen und juristischen Beurteilung von Handlungen ersinnen – weil es eben nicht mehr Menschen sind, die handeln, sondern das, was man „Handlungen“ nennt, nichts weiter als die Kreuzungspunkte zahlloser natürlicher und sozialer Vektoren sind. Ob einer der beteiligten „Aktanten“ nun mit Bewusstsein begabt ist oder nicht, ist dann vollkommen unerheblich.

Interessanterweise demontieren die Neuen Materialisten den traditionellen Begriff der Verantwortung, geben ihn jedoch ebenso wenig auf wie denjenigen der Handlungsmacht. Geradezu das Gegenteil ist der Fall. In all ihren Texten betonen die Neuen Materialisten, dass aus ihrer Betonung der Handlungsmacht nicht-menschlicher Akteure eine neue Ethik der Verantwortung folge: Indem wir uns der Kontexte bewusst würden, in dem unsere (vermeintlichen) Handlungen stehen, sollen wir lernen, uns nicht mehr als Individuen, als einsame ‚Kröne der Schöpfung‘ zu verstehen, sondern als eine Spezies unter vielen. Wir sollen bei all unseren Unternehmungen stets darum bemüht sein, so viele Konsequenzen unserer Handlungen wie nur möglich mitzubedenken und sie so einzurichten, dass die Kontexte unserer Handlung intakt bleiben.

Man wird an diesem Punkt stutzig und sollte es auch werden. Zunächst werden die Begriffe ‚Handlung‘ und ‚Verantwortung‘ radikal dekonstruiert – nur, um dann wieder eingeführt zu werden, aber mit einer völlig veränderten Bedeutung, in der sie aber jeden konkreten Sinn verlieren: Es kann nun plötzlich alles handeln und oftmals gehen Latour und Co. sogar so weit, nicht-menschlichen „Aktanten“ Absichten zuzuschreiben; und da alles mit allem zusammenhängt, muss ich nun nicht mehr bloß die Verantwortung für das übernehmen, was man mir legitimerweise als Ergebnis meiner bewusst durchgeführten Handlungen zuschreiben kann – ich muss eine universelle Verantwortung auf mich nehmen, die sich letztendlich auf den gesamten Planeten Erde erstreckt. Wie kann ich einer solchen erdrückenden Verantwortung jemals gerecht werden? Ist sie nicht strenger und erbarmungsloser als alles, was sich die traditionellen Philosophen jemals erdachten?

Mit dem Handlungs- und Verantwortungsbegriff werden von den Neuen Materialisten konsequenterweise auch alle anderen Leitbegriffe der modernen Ordnung der Dinge entweder verworfen oder bis zur Unkenntlichkeit umgewertet. Es geht um die Entwicklung einer nun nicht mehr post-, sondern, wie Latour es formuliert, nicht-modernen Denk- und Lebensweise, in der die modernen Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Tier, lebendiger und toter Materie, Politik und Nicht-Politik etc. wenn nicht vollkommen verworfen, so doch radikal revidiert werden.

Mit der herausgehobenen Stellung des Menschen als einzig handlungsfähigem Wesen in der Welt war in der traditionellen Ethik tatsächlich auch die Vorstellung von einem absoluten ethischen Primat des Menschen verbunden. Die Ethik war in der Tat weitgehend anthropozentrisch, die Belange von Tieren oder gar unbelebten Gegenständen kamen darin, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Der Neue Materialismus möchte das ändern.

Insbesondere dieser Aspekt des Neuen Materialismus wirft natürlich die meisten Fragen auf. Man stelle sich eine globale Hungerkatastrophe vor, in der darüber debattiert wird, wie man mit den Tieren im Zoo umgehen soll, deren Unterhalt man sich nun nicht mehr länger leisten kann. Ein Humanist würde nicht lange zögern: Man soll die essbaren Zootiere schlachten und verspeisen, die nicht essbaren soll man freilassen, sofern sie für den Menschen nicht gefährlich sind, und töten, sofern sie es sind. Auch wenn sich die Neuen Materialisten, sofern mir ihre Texte bislang bekannt sind, zu solchen Dilemma-Situationen nicht äußern, läuft das von ihnen propagierte Weltbild doch eindeutig darauf hinaus, es sich solchen Situationen nicht so einfach zu machen. Ich wüsste jedenfalls nicht, was etwa Latour oder Barad dagegen einwenden sollten, die fleischfressenden Zootiere in einer solchen Situation mit Menschen zu füttern. Derartig abscheuliche Konsequenzen werden von diesen Denkern zwar, soweit mir bekannt, nicht gezogen, doch ich wüsste nicht, was sie daran hindert außer ein uneingestandener Resthumanismus, der freilich in Widerspruch zu ihren Theorien steht.

Allerding sollten sich, wenn es nach Latour und Co. ginge, gar nicht erst Menschen darüber beraten, wie man in einer solchen Situation zu verfahren habe. Um den Anthropozentrismus vollkommen zu überwinden, soll die Politik auf eine völlig neue, nicht-humanistische Grundlage gestellt und auch „nicht-menschliche Akteure“ an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Latour spricht in diesem Kontext von einem einzurichtenden „Parlament der Dinge“12)Vgl. insb. Das Parlament der Dinge. Frankfurt a. M. 2010..

Spätestens an diesem Punkt scheint sich der Neue Materialismus endgültig der Lächerlichkeit preiszugeben. Wie soll man nicht-sprechende Lebewesen oder gar Dinge ernsthaft an politischen Beratungen beteiligen?

Latour ist sich indes vollkommen bewusst, dass nicht-sprechende Lebewesen ihre Interessen nicht selbst vertreten können. Sie bedürfen seiner Vorstellung nach genauso Repräsentanten, wie es die Menschen tun. Nur sind diese Repräsentanten im Fall der Lebewesen und Dinge nicht gewählte Politiker – was ja eine vollkommen absurde Idee wäre –, sondern die Wissenschaftler, die sich mit ihnen beschäftigen.

Diese Vorstellung scheint sich nun grob mit dem bisher Gesagten zu widersprechen. Wie soll es noch Wissenschaftlichkeit im gewöhnlichen Sinne geben, wenn man die Ideen von individueller Verantwortung preisgibt, vom Subjekt, das sich dem Erkenntnisgegenstand als Objekt gegenüberstellt, oder alle Handlungen, und mithin auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen, als das Resultat eines kontingenten Zusammenspiels menschlicher und nicht-menschlicher „Aktanten“ auffasst?

Die Vertreter des Neuen Materialismus beanspruchen freilich, insbesondere in diesem Punkt dem Poststrukturalismus und seiner Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnisse entschieden zu widersprechen. Vor allem bei der Lektüre von Latours Texten erhält man schnell den Eindruck, dass er, wenigstens seinem Selbstverständnis nach, kein Feind der Wissenschaft und ihres Wahrheitsanspruchs ist, sondern geradezu ein Szientist. Wenn man sein gesamtes Werk in einer Parole zusammenfassen möchte, dann wäre diese: „Hört endlich auf die Wissenschaft!“

Am Ende seines Buches Wir sind die modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, wird Latour bemerkenswert konkret, wenn um seine Vorstellung davon geht, wie ein „Parlament der Dinge“ beschaffen sein sollte:

Greifen wir die beiden Repräsentationen mitsamt dem doppelten Zweifel an der Treue der Mandatsträger wieder auf, und schon haben wir das Parlament der Dinge definiert. In ihm findet sich die Kontinuität des Kollektivs neu zusammengesetzt. Es gibt keine nackten Wahrheiten mehr, aber auch keine nackten Bürger. Die Mittler haben den ganzen Raum für sich. Die Aufklärung hat endlich eine Bleibe. Die Naturen sind präsent, aber mit ihren Repräsentanten, den Wissenschaftlern, die in ihrem Namen sprechen. Die Gesellschaften sind präsent, aber mit den Objekten, die ihnen schon immer Gewicht gegeben haben. Zwar spricht der eine Mandatsträger vom Ozonloch, der andere repräsentiert die Chemieindustrie des Rhone-Alpen-Gebiets, ein dritter die Arbeiter dieser selben Industrie, ein vierter die Wähler aus dem Raum um Lyon, ein weiterer die Meteorologie der Polarregionen, und wieder ein anderer spricht im Namen des Staates. Aber das ist nicht entscheidend, solange sie alle sich über dieselbe Sache äußern, über dieses Quasi-Objekt, das sie alle geschaffen haben, diese Objekt-Diskurs-Natur-Gesellschaft, deren neue Eigenschaften uns alle verwundern und deren Netz sich von meinem Kühlschrank bis zur Antarktis erstreckt, auf dem Weg über die Chemie, das Recht, den Staat, die Ökonomie und die Satelliten. Die Gemenge und die Netze, die keinen Platz hatten, haben nun den ganzen Platz für sich. Sie gilt es zu repräsentieren, um sie herum versammelt sich von nun an das Parlament der Dinge. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“13)Frankfurt a. M. 2019, S. 191

Bei dieser Passage wundert man sich nun: Ist das nicht einfach nur die Beschreibung einer sehr realen Tendenz in den letzten Dekaden? Anstatt politische Entscheidungen primär im Parlament zu treffen, werden diese in Expertenrunden ausgelagert, in denen sich die Sprecher der Wissenschaft mit den Repräsentanten der wichtigsten betroffenen Interessengruppen beraten, um den politischen Institutionen dann einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.

Was gemeinhin als Demokratieverlust, Autoritarismus und Hinterzimmerpolitik verurteilt wird, wird von Latour ganz im Gegenteil gefeiert als Beginn einer neuen Ära, in der endlich auch die Tiere und die unbelebten Dinge ihren Platz in der Politik finden. Es verwundert nicht, dass er entsprechend auch kein Kritiker der EU ist – im Gegenteil heißt es am Schluss von Das terrestrische Manifest:

Dieses Europa der Regelungen und Arrangements, dieses „Brüsseler“ Europa wird des Bürokratismus geziehen. Und dennoch bietet es als rechtliche Erfindung eine der interessantesten Antworten auf die jetzt überall florierende Idee, wonach nur der Nationalstaat in der Lage sei, die Völker abzusichern und zu schützen. Durch eine unglaubliche Bastelarbeit ist es der Europäischen Union gelungen, auf vielfache Weise die Überlappung, Überlagerung, den overlap der verschiedenen nationalen Interessen zu materialisieren. Mit ihrem vielfältig verzahnten Regelwerk, das die Komplexität eines Ökosystems erreicht, weist sie den Weg. Genau diese Art Erfahrung ist gefragt, wenn wir den alle Grenzen überwindendenden Klimawandel in Angriff nehmen wollen.14)Berlin 2018, S. 116.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Latour auch ein großer Freund der Corona-Politik ist.

 

IV. Zu Latours Legitimation der Corona-Politik

Naiv könnte man fragen, warum aus dem Neuen Materialismus nicht folgen sollte, auch den Corona-Viren ein Lebensrecht zuzugestehen und es daher in Kauf zu nehmen, wenn sie Menschen krank machen und töten. Latour jedenfalls ist Humanist genug, um diese Konsequenz nicht zu ziehen und zumindest in diesem einen Fall doch die Ausrottung einer dem Menschen feindlichen Spezies zu begrüßen.

Seine 2021 bei Suhrkamp erschienene kleine Schrift Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown ist ein einziger nachträglicher philosophischer Lobgesang auf die große Einsperrung. Bemerkenswert an ihr ist, dass Latour die Folgen des Lockdowns für die Menschen keinesfalls herunterspielt, wie es ja oft getan wurde in den letzten Jahren. Er beschreibt immer wieder, wie unangenehm das Tragen einer Schutzmaske ist und wie sehr es einem die Atemluft raubt. Er vergleicht die Lockdown-Erfahrung mit Kafkas Erzählung Die Verwandlung, in der sich der Protagonist urplötzlich in einen riesigen Käfer verwandelt sieht. Der Unterschied ist nur, dass wir uns gegen diese Erfahrung der absoluten Erniedrigung und Entmenschlichung nicht auflehnen sollen, im Gegenteil: Wir sollen sie als Befreiung von unserer Individualität und Humanität begrüßen, deren Scheincharakter nun endgültig offenkundig geworden sei. Die Corona-Krise habe uns allen gezeigt, wie verwundbar wir seien. Diese Einsicht in die eigene Verwundbarkeit soll uns nun dabei helfen, auch die Klimakrise mit entsprechenden Maßnahmen meistern zu können.

„Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“ (Marx) – Fundstück in der Leipziger Straßenbahn.

In der Tat hatten wir es in den letzten Jahren mit einer, im Breitenmaßstab, wohl historisch einmaligen Entmenschlichung und Entwürdigung zu tun, die sich nicht zuletzt in der Pflicht zum Tragen einer Schutzmaske zeigte und zeigt. Wir wurden und werden wie Hunde behandelt, sind keine Menge von Individuen mehr, sondern eine Herde.

„Die Erfahrung des Lockdown annehmen heißt, sich endlich von den Grenzen der unbestreitbaren Individualität zu befreien“15)S. 92, schreibt Latour und: „Feiern wie die Erfahrung einer Pandemie, die uns mit dem Einhalten des Sicherheitsabstands und der obligaten Maskierung derart sinnfällig realisieren lässt, wie sehr das distinkte Individuum doch eine Illusion war.“16)Ebd., S. 95 „Eine Person, die lernt, sich zu verorten, wird in dem Maße, in dem die Liste derer sich erweitert, von denen sie abhängt oder die von ihr abhängen, immer spezifischer, eigentümlicher. […] Es gibt ‚Bindungen, die befreien‘: Je abhängiger das Individuum ist, umso freier ist es; je abhängiger die Person ist, umso mehr Handlungsspielraum hat sie. Wenn das Individuum versucht sich zu regen, stößt es immerzu auf seine Grenzen; es jammert und klagt, wird von den trübseligen Leidenschaften übermannt, ihm bleiben kaum mehr als Empörung und Ressentiment. Wenn die Person sich verlängert, entfernt, sich zerstreut im wahrsten Sinne des Wortes, dann verteilt, vermischt sie sich und eignet sich nach und nach Wirkkräfte wieder an, von denen sie sich keine Vorstellung machte.“17)Ebd., S. 121 f.

Bemerkenswert ist, dass Latour sich, wenn er sich so ausdrückt, verdächtig dem annähert, was Marx im Sinne hatte, wenn er schrieb, dass Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei. Im Sinne des obigen Zitats aus dem Kapital heißt Freiheit für Marx nicht, sich einfach irgendetwas auszudenken. Gelungene Praxis setzt ihm zufolge vielmehr voraus, die Gesetze der Materie sehr gut zu kennen und seine Pläne mit ihnen abzustimmen. Entsprechend wusste auch Sartre, der große Philosoph der individuellen Freiheit, dass Freiheit immer nur Freiheit in Situation ist. Und ähnliche Erwägungen finden sich bei zahllosen Verfechtern des modernen Individualismus.

Es war also nie so, dass sich der Individualismus und die Anerkennung der individuellen Abhängigkeiten je derart schroff gegenüberstanden, wie es Latour behauptet. Man hat stets gewusst, dass die Dinge ein gewisses Eigenleben aufweisen, dass der Mensch erkennen und zu manipulieren verstehen muss, um erfolgreich handeln zu können. Wir haben stets gewusst, dass wir auch Tiere unter Tieren sind und auch den physikalischen Gesetzen unterliegen – wenn Latour kritisiert, dass einige von uns das vergessen haben, liegt er ganz richtig. Er hat freilich seinerseits vergessen, dass der Mensch qua Selbstbewusstsein stets mehr ist als sein determinierender Kontext und nie vollkommen darin aufgeht.

Insofern weiß man nicht so recht, was die „Lektionen aus dem Lockdown“ genau sein sollen, von denen Latour spricht. Dass wir verwundbare Wesen sind und dass es Viren und Bakterien gibt, die uns bedrohen und vor denen wir uns schützen müssen, wusste man immer.

Latour teilt ein Menschenbild, das sehr dem ähnelt, was heutzutage Mainstream ist: Die Menschen seien wie Kinder, die in veralteten Illusionen leben. Ihnen gegenüber stehe eine kleine, wissenschaftlich gebildete Elite, die sie, wenn nötig mit autoritären Maßnahmen, erziehen müsse. „Manchmal helfen eben nur Schellen“ – anstatt die Entmenschlichung von Milliarden anzuklagen, freut sich Latour darüber, dass der Pöbel nun endlich gewaltsam zur Vernunft gebracht wird, während er auf seinem geräumigen Landsitz darüber sinniert, wie man mit ähnlichen Methoden den Klimawandel bekämpfen könne: „Aus dem Lockdown lernen heißt versuchen, daraus Lehren für das Kommende zu ziehen, so, als könnte Covid als Vorbereitung, als Generalprobe für den Zeitpunkt dienen, an dem eine weitere panische Angst vor einer weiteren Gefahr uns erneut in den Lockdown versetzt. Je länger der Lockdown andauert, je öfter er sprunghaft einsetzt, umso härter ist die Lektion, aber auch umso nachhaltiger: Wir kommen nie mehr heraus!“18)Ebd., S. 147

Es soll also nicht darum gehen, darüber nachzudenken, wie eine ähnliche Katastrophe in Zukunft verhindert werden kann oder wie man jene „panische Angst“ künftig überwinden könnte – stattdessen sollen wir uns daran gewöhnen, unsere liebgewonnen modernen Illusionen von Freiheit und Individualität endlich aufzugeben und uns mit der neuen Weltordnung arrangieren, in der sie nicht mehr gültig sind. Wir sollen unsere Panik nicht bändigen – wir sollen sie im Gegenteil kultivieren und uns von ihr beherrschen lassen.

 

V. Fazit

Es sollte sich gezeigt haben, dass der Neue Materialismus eine sehr unausgegorene Denkweise ist, mit zahlreichen inneren Widersprüchen und fragwürdigen ethischen und politischen Konsequenzen. Er ist nützlich, weil er uns, gegen seinen Willen, zeigt, warum wir an den modernen Idealen doch lieber festhalten sollten.

Zugleich ist er aber auch ein ernsthaftes Problem. Denker wie Latour sind keine wirren Einzelkämpfer, die halbgare Spinnereien in die Welt setzen, sondern mit Auszeichnungen und Ehrungen überschüttete öffentliche Intellektuelle, die eine wesentliche Tendenz unseres Zeitgeistes artikulieren. In vielen Punkten sagt Latour dasselbe was Greta Thunberg, nur ein wenig geistreicher.

Man betrachte nur jene Aussage der Grünen-Spitzenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt aus dem Jahr 2018, auf die Latour in seinem Lockdown-Buch an einer Stelle anspielt.19)Vgl. ebd., S. 16

Das ist wiederum nur in trivialerer Sprache das, was Latour seit Jahrzehnten schreibt: Gegen die „derzeitigen politischen Mehrheiten“ müsse endlich „die ökologische Wahrheit“ zu ihrem politischen Recht verholfen werden, was bedeutet, endlich auch Politik für die Bienen, Schmetterlinge und Vögel zu machen. Wenn dafür einige Menschen mit ihren kleinlichen bornierten Sorgen auf der Strecke bleiben müssen, ist das egal: Das Zeitalter des Primats des Menschen, vor allem in seiner weißen und männlichen Gestalt, ist vorbei, die Ägide der Erdgöttin Gaia hat begonnen und es ist die Sache mutiger Propheten der Angst, ihr endlich zum Sieg zu verhelfen. Zur Not werden Gummiknüppel und Tränengas die Unbelehrbaren zur Räson bringen bzw. in den erwünschten Panikmodus versetzen.

Es ist klar, dass zahlreiche Elemente des Neuen Materialismus bedenkenswert sind. Diese Elemente sind oftmals allerdings geradezu trivial und wurden auch schon vom traditionellen Materialismus thematisiert. Selbst die idealistischen Philosophen haben, von einigen extremen Ausnahmen vielleicht abgesehen, nie abgestritten, dass der Mensch von der nicht-menschlichen Natur und der Gesellschaft in einem hohen Maße abhängig ist. Ebenso wird wohl niemand behaupten, dass Tiere und nicht-menschliche Entitäten keinerlei Berücksichtigung bei unseren individuellen und kollektiven Entscheidungen erfahren sollten.

In den Bereichen, in denen der Neue Materialismus über diese banale Ebene hinausgeht, fängt er jedoch schnell an, widersprüchlich und, mit einem Wort, menschenverachtend zu werden. Er ist die ideologische Begleitmusik zur gegenwärtigen autoritären Wende, zur Einkassierung der Errungenschaften der modernen Demokratie, deren Zeugen und Opfer wir gerade sind.

Diese Wende vollzieht sich nicht einfach zufällig, sondern hat etwas mit einer gewaltigen Erosion der genannten ökonomischen, politischen und kulturellen Voraussetzungen der Individualität zu tun, von denen ich eingangs sprach. Die Ideen des Humanismus, die doch eigentlich die Grundlage der modernen Ordnung der Dinge schufen, werden heute mehr und mehr als nerviger Störfaktor begriffen. Auch wenn die Digitalisierung eine gewaltige neue Mittelschicht aus Programmierern und anderen IT-Spezialisten schuf, führt sie doch vor allem zu einem Abbau traditioneller kleinbürgerlicher Berufe und dafür zum Entstehen neuer Jobs im unteren Lohnsegment, wie insbesondere die bekannten Lieferboten. In der digitalen Wirtschaft haben sich indes die üblichen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise bemerkbar gemacht: Immer mehr kleine Anbieter wurden und werden verdrängt, während immer größere Teile des Marktes sich in den Händen einiger weniger großer Konzerne konzentriert. Die Programmierer verlieren diesen Konzernen gegenüber zunehmend an Selbständigkeit und werden mehr und mehr zu einfachen Angestellten heruntergedrückt.

Im politischen Bereich beobachten wir einen zunehmenden Bedeutungsverlust der klassischen demokratischen Institutionen zugunsten der intransparenten Expertengremien und neu geschaffenen Gipfeltreffen der Exekutive. Dass Latour ausgerechnet diese Tendenz bejubelt, ist wirklich beschämend. Immer weniger Menschen haben das Gefühl, an dem demokratischen Willensbildungsprozess teilzuhaben, während kleine Interessengruppen sich in ihm immer mehr Einfluss verschaffen. Eine Schieflage ist entstanden, die durch die Corona-Krise nur noch verstärkt wurde. Dass hat wenig damit zu tun, dass nun plötzlich mehr auf „die Wissenschaft“ – angesichts der wirklichen Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Wissenschaften ein eigenartiger, quasi-religiöser Ausdruck, den man eigentlich nicht gebrauchen sollte – gehört wird. Im Gegenteil wurde ein kritischer Diskurs zu den Corona-Maßnahmen von außen unterbunden und kritische Stimmen diffamiert und ausgegrenzt. Dies zeigt sich schlagend darin, dass sich die Politik nun hartnäckig weigert, eine kritische nachträgliche Überprüfung der Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen zuzulassen – obgleich sich die Zeichen mehren, dass genau das zutrifft, was die Kritiker von Anfang an befürchtet haben: Dass zahlreiche dieser Maßnahmen in ihrem medizinischen Nutzen von Anfang an begrenzt waren und ihr Schaden für die Gesellschaft viel höher war. „Die Wissenschaft“ wurde nie ernsthaft gehört, sondern zum Vorwand genommen, um eine autoritäre politische Agenda zu befördern – und dies ist kein Einzelfall. Wenn es der Politik in den Kram passt, gilt „die Wissenschaft“ als unangreifbare Wahrsprecherin – ist dies nicht der Fall, wird sie ignoriert, zensiert, diffamiert und nicht mehr finanziert. Man bedenke nur die fragwürdige Art und Weise, wie die so genannten „Expertenrunden“ meist zusammengesetzt werden und deren mangelnde Interdisziplinarität.

Es ist angesichts dessen kein Wunder, wenn auf der kulturellen Ebene defizitäre, asoziale Formen des Individualismus einem neuen Antiindividualismus gegenüberstehen, der sich insbesondere in der wokeness-Bewegung ausagiert.20)Vgl. die entsprechenden Erwägungen in meinem Vortrag zu Kierkegaard. In gewisser Weise könnte man den Neuen Materialismus als philosophischen Arm dieser Bewegung ansehen. Es geht hier wie dort um eine überbordende Überfrachtung des Verantwortungsbegriffs und die Verkündigung einer tieferen ‚Wahrheit‘, der sich die Einzelnen zu unterwerfen haben, wenn sie nicht als Feinde der ‚Bewegung‘ erscheinen wollen. Wie die wokeness-Bewegung predigen Latour und die seinen eine Breite kollektive quasi-spirituelle Erweckung, der den ‚sündhaften‘ Westen endlich zu Zerknirschung und Buße führen soll. Die autoritär eingeforderte ‚Sensibilität‘, ‚Rücksichtnahme‘ und gar ‚Solidarität‘ kaschiert jedoch nur, dass es hier in Wahrheit um Unterwerfung und Gehorsam geht.

In seinem Roman Die Verwandlung beschreibt Kafka eine Situation äußerster Isolation und Entfremdung. Darauf hingewiesen zu haben, dass er damit unsere Situation während der Corona-Krise adäquat beschrieb, die ja nicht zuletzt eine kafkaeske Situation war, eine Situation des schlagartigen verrückt-werdens, ist Latours großes Verdienst. Dass er Kafkas Beschreibung jedoch zu einem Loblied auf die Entmenschlichung umdeutet, ist eine nicht minder kafkaeske Verkehrung nicht nur des humanistischen Sinns von Kafkas Werken – die ja stets ein Aufbäumen gegen die Entwürdigung und Verdinglichung beschreiben –, sondern auch der sozialen Situation der letzten Jahre. Mit denselben Argumenten könnte man die chinesische Regierung dafür preisen, was sie im Augenblick mit den Uiguren anstellt, oder Putin dafür loben, dass er uns endlich unsere Abhängigkeit von einer stabilen Rohstoffversorgung vor Augen führt. Der Neue Materialismus führt theoretisch in eine Sackgasse, praktisch läutet er eine neue Ära der ‚grünen‘ Technokratie ein.

Um was es heute hingegen ginge, wäre eine Erneuerung des Humanismus, dessen Kernideen noch lange nicht veraltet sind, sondern nach wie vor ihrer Erfüllung harren. Der Humanismus propagierte die Befreiung des Menschen von seinen natürlichen und sozialen Fesseln, er träumte davon, dass die Natur zivilisiert werden würde und die sozialen Institutionen den Menschen nicht mehr wie blinde Naturmächte gegenüberstehen, sondern demokratisch kontrolliert würden – Latour und die seinen wollen ganz im Gegenteil, dass sich der Mensch von dieser uralten Hoffnung endgültig verabschiedet und jeden Anspruch auf Befreiung aufgibt. An die Stelle von Aufklärung tritt der finstere pseudowissenschaftliche Kult „Gaias“, an die Stelle des Strebens nach echter Demokratie die Bewunderung des Termitenbaus.

Beenden möchte ich diesen Vortrag mit den letzten Sätzen von Kafkas Erzählung Forschungen eines Hundes:

[D]er tiefere Grund meiner wissenschaftlichen Unfähigkeit scheint mir ein Instinkt und wahrlich kein schlechter Instinkt zu sein. Wenn ich bramarbasieren wollte, könnte ich sagen, daß gerade dieser Instinkt meine wissenschaftlichen Fähigkeiten zerstört hat, denn es wäre doch eine zumindest sehr merkwürdige Erscheinung, daß ich, der ich in den gewöhnlichen täglichen Lebensdingen, die gewiß nicht die einfachsten sind, einen erträglichen Verstand zeige, und vor allem, wenn auch nicht die Wissenschaft so doch die Gelehrten sehr gut verstehe, was an meinen Resultaten nachprüfbar ist, von vornherein unfähig gewesen sein sollte, die Pfote auch nur zur ersten Stufe der Wissenschaft zu erheben. Es war der Instinkt, der mich vielleicht gerade um der Wissenschaft willen, aber einer anderen Wissenschaft als sie heute geübt wird, einer allerletzten Wissenschaft, die Freiheit höher schätzen ließ als alles andere. Die Freiheit! Freilich, die Freiheit, wie sie heute möglich ist, ist ein kümmerliches Gewächs. Aber immerhin Freiheit, immerhin ein Besitz.

Fußnoten

Fußnoten
1 Kierkegaard und Nietzsche.
2 Vgl. mein entsprechender Vortrag auf Youtube.
3 GM II, Abs. 3; Link
4 MA I, Aph. 181; Link
5 Vgl. dieses sehr interessante Video über mittelalterliche Gasthäuser.
6 Vgl. dazu und zu Max Stirner allgemein den entsprechenden Vortrag von Peter Seyferth auf dem Kanal der HARP.
7 MA I, Aph. 283; Link
8 Ebd.
9 MEW 23, S. 192; Link
10 Vgl. neben dem Abschnitt, aus dem jenes Zitat stammt v.a. seine entsprechenden Erwägungen in der Kritik des Gothaer Programm (Link).
11 Vgl. MEW 23, S. 465 f.; Link
12 Vgl. insb. Das Parlament der Dinge. Frankfurt a. M. 2010.
13 Frankfurt a. M. 2019, S. 191
14 Berlin 2018, S. 116.
15 S. 92
16 Ebd., S. 95
17 Ebd., S. 121 f.
18 Ebd., S. 147
19 Vgl. ebd., S. 16
20 Vgl. die entsprechenden Erwägungen in meinem Vortrag zu Kierkegaard.

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