Der Zeitgeist ist postmodern geworden. Das Bemühen um eine geschlechterbetonende Sprechweise, die Einrichtung von Toiletten für reale Zwitter und solche, die es werden wollen, sowie Schmutzkampagnen gegen mächtige weiße Männer sind nur der oberflächliche und gemeine Ausdruck einer Philosophie, die in ihrer populären Gestalt kaum mehr erkennen lässt, woher sie eigentlich stammt und was ihr Wesen ist. Solche Auswüchse sollen nicht der Maßstab sein, denn wir haben es bei der Postmoderne mit einem ernsthaften Versuch von Philosophie zu tun, mit einer ernsthaften Auslegung des Seins und der Ethik. In der praktischen Politik steht die Postmoderne für eine Identitätspolitik, doch ihre Philosophie steht für Nicht-Identität, Vielfalt und Differenz. Beides ist kein Widerspruch: Aus der Forderung nach Differenz folgt eine identitäre Politik. Diversity ist die Kampfvokabel einer forcierten Subjektivität, die auf alle möglichen Verschiedenheiten Rücksicht nimmt.
Postmoderne heißt Skepsis
Die forcierte Subjektivität ist aber nicht der gedankliche Kern der Postmoderne. Die Philosophie der Differenz behauptet die Existenz eines Unterschieds im Sinn eines absoluten Unterschieden-Seins und einer Unvereinbarkeit der Unterschiede. Alle Vorstellungen von der Welt und alle Zugriffe auf die Welt seien untereinander so unterschiedlich, dass es unmöglich wäre, sie in irgendeiner Art zu vereinen. Die fehlende Einheit, die Unmöglichkeit zur Einheit – das ist der eigentliche Kern der postmodernen Philosophie. Diese Unvereinbarkeit aufgrund einer Unmöglichkeit zur Einheit gehört zu den bekannten Tropen einer philosophischen Richtung, die an den Universitäten kaum gelehrt wird – der Skepsis. Im Kern ist die Postmoderne eine skeptische Bewegung, eine Philosophie des Zweifels und der Unentschiedenheit aufgrund der Unentscheidbarkeit des zu Entscheidenden.
Wittgenstein als geheimer Vater
Der Begründer der Postmoderne ist Ludwig Wittgenstein. Er hat sich nie als postmodern bezeichnet, ist aber ein entscheidender Ursprung jener Skepsis, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts breit macht. Mit Ludwig Wittgenstein beginnt die so genannte linguistische oder pragmatische Wende in den Geisteswissenschaften.
Der nähere und allgemein anerkannte Ursprung der Postmoderne ist das Werk von Jean-François Lyotard. Er war es, der Wittgensteins Begriff des Sprachspiels mit weitreichender Wirkung auf das Wissen und die Ethik angewendet hat – mit ihm werden Wittgensteins Glasperlenspiele politisch. Auftakt ist Das postmoderne Wissen von 1979, dessen Titel sich eigentlich treffender wiedergeben ließe mit: ‚Die Verfassung der Postmoderne‘. Für die ethischen Konsequenzen zieht man am besten den Widerstreit von 1983 zu Rate.
Die Grundverfassung der Postmoderne
Die Postmoderne ist so verfasst, dass sie nicht mehr an die Großen Erzählungen glaubt. Sie ist ernüchtert, sie kann Utopien nicht ausstehen. Diese großen Erzählungen sind aber eigentlich von sich aus gar keine Erzählungen, es sind Analysen, die eine Einheit des Geschehenen postulieren aufgrund eines Prinzips, auf das sie die Ereignisse zurückführen. Auch der Marxismus will und wollte Wissen schaffen und keine Erzählungen erzählen mit seiner Geschichtsutopie, die sich nicht als Märchen, sondern als logische Folgerung versteht. Die skeptische Postmoderne hält solche prognostischen Versuche nicht mehr für ausreichend legitimiert, weil sie die Rückführung auf einheitliche Prinzipien und Letztbegründungen generell ablehnt.
An die Stelle der Letztbegründung tritt Inkommensurabilität. Diese Unvergleichbarkeit heißt nichts anderes als die Unmöglichkeit einer Einheit oder die Abwesenheit der Prinzipien im Ganzen. Wo Prinzipien und Grundsätze fehlen, ist Wissen im eigentlichen Sinn nicht mehr möglich. Das ist die skeptische Seite der Postmoderne.
Skepsis führte im ursprünglichen antiken Sinn bei Sextus Empiricus zur epoché, einer edlen Urteilsenthaltung und vornehmen Gleichgültigkeit (ataraxia). In der Postmoderne führt sie zum Gegenteil, zu einer scharfen Verurteilung abweichender Meinungen und zu einer Engagiertheit im Sinne der diversity. Die postmoderne Skepsis ist eine dogmatische Skepsis – und diese Dogmatik entstand aufgrund ihrer Verbindung zu den Sprachspielen Wittgensteins.
Die Grundsätze der Postmoderne
Weil sie dogmatisch ist, lassen sich ihre Grundsätze, oder besser: ihre Tropen und Wendungen auch zusammentragen und ihrer Herkunft bestimmen:
1) Werte sind inkommensurabel.
Werte sind für die Postmoderne wie Sprachen. So wie Arabisch für Unerfahrene wie eine Kehlkopferkrankung klingt, so bleiben die Subjekte immer Muttersprachler ihrer eigenen Werte und Vorstellungen und verstehen vom Anderen nur ein letztlich unverständliches Gebrüll und Gekrächze. Es gibt keine universelle Sprache, es gibt nur Sprachen im Plural.
Aus der unvereinbaren Vielfalt an Sprachen folgt das Gebot der Toleranz: Lass die Vielfalt bestehen! Bei Wittgenstein sind Sprachen nämlich zugleich eine Lebensform (Philosophische Untersuchungen Nr. 23) als auch die Grenzen der eigenen Welt (Tractatus Nr. 5.62). Aus der absoluten Unvergleichbarkeit folgt das unbedingte Gebot, andere Welten in Ruhe spielen zu lassen.
2) Werte sind heterogen und agonal
Die Ethik der Toleranz ist notwendig, weil die Werte (ungefähr wie unterschiedliche Satzarten) sich nicht nur unvereinbar, sondern auch feindlich in einem Wettbewerb gegenüberstehen. Vereinigungen unter eine große Erzählung, also die Vereinigung unter einen leitenden Grund, wird bloß als ein Machtspiel begriffen, als eine Vereinnahmung anderer Welten. Dieser Gedanke kommt weniger von Wittgenstein, als von Nietzsche oder Heidegger, der moderne Wissenschaft bloß als Machenschaft zur Ermächtigung der Subjekte verstand. Praktisch heißt das: Sprachspiele sind immer Machtspiele.
3) Dissens, nicht Konsens ist das Ziel
Lyotard weist das Habermasianische Modell der Konsens-Erzeugung weit von sich. Dieser veraltete Wert würde bloß vereinen, was unvereinbar ist. Da die Unvereinbarkeit nicht begründbar ist, hört man auch gar nicht erst auf die Gründe des Anderen. Hier hat die postmoderne Empörungskultur wohl ihren Ursprung: Ein postmoderner Mensch kann und will sich auch gar nicht einigen können. Es ist kein Zufall, dass sich Lyotard auf die Sophistik beruft.
4) Gerechtigkeit statt Klugheit oder praktische Vernunft
Trotz der unvereinbaren Heterogenität der Sprach-Welten bleibt Gerechtigkeit möglich, nämlich genau dann, wenn jede Sprache sprechen darf, wenn alle Sprachlosen ihre Stimme bekommen und zu Teilnehmern am Sprachspiel werden. Das Spiel ist dann gerecht, wenn alle mitspielen dürfen.
Gleichzeitig gibt es für das Recht, mitspielen zu dürfen, keine Letztbegründung. Mit der Abschaffung von diskutierbaren Gründen geht aber sowohl die Klugheit als auch die praktische Vernunft verloren, die auch andere Arten der Gerechtigkeit kennt – Verteilungsgerechtigkeit oder Kompetenzgerechtigkeit zum Beispiel. Das kategorische Gebot der Diversity bleibt als einzige Art der Gerechtigkeit übrig, wenn die Einheit und Ganzheit als leitender Grundsatz verloren gegangen ist.
5) Indifferenz ist abgeschafft
Eine der offensichtlichsten Folgen der Analoge des Praktischen zu einem Wittgensteinschen Sprachspiel ist die Abschaffung aller Indifferenz. Es gab im Ethischen eigentlich immer einen nicht gesondert thematisierten Begriff der Neutralität, der weder gut noch böse ist, etwa der Gebrauch von Vorurteilen in der Komik. Doch die Sprachspiele Wittgensteins haben eine Besonderheit. Ihre Regeln entstehen gleichursprünglich mit dem Gebrauch. Jede Änderung des Gebrauchs ändert die Regeln, jede Änderung der Regel ändert den Gebrauch – und beides ändert das gesamte Spiel. Man kann eben nicht die Schachregeln verändern, ohne nicht zugleich das gesamte Spiel zu verändern.
Doch für die Politik ist eine solche Analogie ebenso falsch wie fatal. Die fast schon manische Sprachobsession der Postmoderne hat hier ihren Ursprung: Sie glaubt allen Ernstes, mit einer Veränderung der Sprache würde sich die Welt verändern.
6) Subjektive Gefühle statt Gründe
Die Einheit ist in der postmodernen Skepsis nicht mehr rationalen Gründen zugänglich, weil die Sprach-Welten unvereinbar seien. Zu den Menschenrechten soll nur noch ein Band des Gefühls übrig bleiben, eine Art sensus communis. Das Gefühl drängt zur Sprache, Gefühle werden selbst zu Gründen. Hier liegt der Ursprung der postmodernen Empfindsamkeit.
7) Der Logos ist plural und keine Einheit
Dieser Grundsatz ist der wichtigste der postmodernen Skepsis. Aus ihm leiten sich alle vorangegangenen Grundsätze ab. Die Vernunft selbst soll vielfältig, heterogen und in sich unvereinbar sein. Die Vielfalt der Gründe führt zu einer Vielfalt des Wissens und der Werte, zu ihrer Unvergleichbarkeit. Wolfgang Welsch hat hierzu eine informierte skeptische Metaphysik verfasst. Sie streitet die Existenz von Universalien ab, also allgemeinen Einheiten, die eine Vereinigung anleiten können.
Die Kritik an den postmodernen Grundsätzen
Zur Kritik dieser Grundsätze bliebe vieles zu sagen, aber ich beschränke mich hier auf zwei Punkte.
Der plurale Logos ist ein fauler Logos. Die postmodernen Menschen brauchen gar nicht erst nach einer Einheit zu suchen, weil sie im Vorhinein wissen, dass ihre Privatsprachen unvereinbar sein werden. Als Dogmatik für die Politik oder Wissenschaft werden die postmodernen Grundsätze sogar zu einer gefährlichen Rechthaberei der Subjekte in ihrer Subjektivität. Diversity als kategorisches Gebot sorgt für eine unsachliche Politik aus allen möglichen identitären Gründen, zu einem Kult der Proporzpolitik. Identitäre Gründe sind all jene Gründe, die sich bloß um Verschiedenheit bemühen. Die Verschiedenheit, das Bunte und Vielfältige, kann aber kein Maßstab sein. Der eigentliche ethische Maßstab darf nur das Können für die Aufgabe sein. Wenn diversity Macht ergreift, wird die Politik unsachlich und persönlich, postfaktisch und vielleicht sogar postdemokratisch. Denn wenn die Werte generell unvereinbar sind und sich bloß im Machtspiel behaupten müssen, ist der Weg von der notwendigen diversen Toleranz zur möglichen singulären Intoleranz nicht sehr verwinkelt.
Generell gilt: Vorsicht vor falschen Analogien! Die Gründungsmetapher der Postmoderne verfehlt völlig den Sinn von Logos. Logos meint nicht Sprache im Sinn dessen, was die empirische Sprachwissenschaft untersucht. Der Logos meint das Sprechen, das Miteinander-Sprechen, den Austausch von Gedanken. Sprachregeln und die Grammatik sind etwas völlig anderes die Regeln der Dialektik und Rhetorik. Im Sprechen sind die Wörter, Sätze und Gesten tatsächlich nur Mittel des Ausdrucks, um einen Gedanken deutlich zu machen. Derselbe Gedanke kann nicht nur in verschiedenen Worten, er kann auch in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden. Scheint bei dieses Übersetzungen nicht doch so etwas wie Übersetzbarkeit hindurch – Vereinbarkeit?
Vor allem: Wenn es stimmt, dass wir im Sprechen viele verschiedene Ausdrücke für dasselbe verwenden können, dann verändert sich mit dem Sprachgebrauch auch nicht das Sprachspiel und dessen Regeln. Vielleicht liegt hier das Hauptproblem der Postmoderne. Mit ihrer anti-utopischen Skepsis ändern sie eigentlich nichts und treiben bloß die Unvereinbarkeit im Diskurs weiter voran. Das ist nutzlos, aber leider nicht nutzlos genug. Die Postmoderne ist in ihrer populären Form weit entfernt von jener wirklich existenziellen Skepsis eines Emil Cioran, der alles dekonstruiert, bis er selbst unbrauchbar zu allem geworden ist. Denn das ist das Ziel einer echten Skepsis: eine moralfreie Untauglichkeit und nicht die Freiheit zu einer untauglichen Moral.
Lektüretipps
Heisterhagen, Nils: Kritik der Postmoderne. Warum der Relativismus nicht das letzte Wort hat, Springer 2019.
Sokal, Alan: Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne missbrauchen, C.H.Beck 1999.