Skip to content

Vielfalt und Sprachprobleme – Die Skepsis der Postmoderne


von

Der Zeitgeist ist postmodern geworden. Das Bemühen um eine geschlechterbetonende Sprechweise, die Einrichtung von Toiletten für reale Zwitter und solche, die es werden wollen, sowie Schmutzkampagnen gegen mächtige weiße Männer sind nur der oberflächliche und gemeine Ausdruck einer Philosophie, die in ihrer populären Gestalt kaum mehr erkennen lässt, woher sie eigentlich stammt und was ihr Wesen ist. Solche Auswüchse sollen nicht der Maßstab sein, denn wir haben es bei der Postmoderne mit einem ernsthaften Versuch von Philosophie zu tun, mit einer ernsthaften Auslegung des Seins und der Ethik. In der praktischen Politik steht die Postmoderne für eine Identitätspolitik, doch ihre Philosophie steht für Nicht-Identität, Vielfalt und Differenz. Beides ist kein Widerspruch: Aus der Forderung nach Differenz folgt eine identitäre Politik. Diversity ist die Kampfvokabel einer forcierten Subjektivität, die auf alle möglichen Verschiedenheiten Rücksicht nimmt.

Postmoderne heißt Skepsis

Die forcierte Subjektivität ist aber nicht der gedankliche Kern der Postmoderne. Die Philosophie der Differenz behauptet die Existenz eines Unterschieds im Sinn eines absoluten Unterschieden-Seins und einer Unvereinbarkeit der Unterschiede. Alle Vorstellungen von der Welt und alle Zugriffe auf die Welt seien untereinander so unterschiedlich, dass es unmöglich wäre, sie in irgendeiner Art zu vereinen. Die fehlende Einheit, die Unmöglichkeit zur Einheit – das ist der eigentliche Kern der postmodernen Philosophie. Diese Unvereinbarkeit aufgrund einer Unmöglichkeit zur Einheit gehört zu den bekannten Tropen einer philosophischen Richtung, die an den Universitäten kaum gelehrt wird – der Skepsis. Im Kern ist die Postmoderne eine skeptische Bewegung, eine Philosophie des Zweifels und der Unentschiedenheit aufgrund der Unentscheidbarkeit des zu Entscheidenden.

Wittgenstein als geheimer Vater

Der Begründer der Postmoderne ist Ludwig Wittgenstein. Er hat sich nie als postmodern bezeichnet, ist aber ein entscheidender Ursprung jener Skepsis, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts breit macht. Mit Ludwig Wittgenstein beginnt die so genannte linguistische oder pragmatische Wende in den Geisteswissenschaften.

Der nähere und allgemein anerkannte Ursprung der Postmoderne ist das Werk von Jean-François Lyotard. Er war es, der Wittgensteins Begriff des Sprachspiels mit weitreichender Wirkung auf das Wissen und die Ethik angewendet hat – mit ihm werden Wittgensteins Glasperlenspiele politisch. Auftakt ist Das postmoderne Wissen von 1979, dessen Titel sich eigentlich treffender wiedergeben ließe mit: ‚Die Verfassung der Postmoderne‘. Für die ethischen Konsequenzen zieht man am besten den Widerstreit von 1983 zu Rate.

Die Grundverfassung der Postmoderne

Die Postmoderne ist so verfasst, dass sie nicht mehr an die Großen Erzählungen glaubt. Sie ist ernüchtert, sie kann Utopien nicht ausstehen. Diese großen Erzählungen sind aber eigentlich von sich aus gar keine Erzählungen, es sind Analysen, die eine Einheit des Geschehenen postulieren aufgrund eines Prinzips, auf das sie die Ereignisse zurückführen. Auch der Marxismus will und wollte Wissen schaffen und keine Erzählungen erzählen mit seiner Geschichtsutopie, die sich nicht als Märchen, sondern als logische Folgerung versteht. Die skeptische Postmoderne hält solche prognostischen Versuche nicht mehr für ausreichend legitimiert, weil sie die Rückführung auf einheitliche Prinzipien und Letztbegründungen generell ablehnt.

An die Stelle der Letztbegründung tritt Inkommensurabilität. Diese Unvergleichbarkeit heißt nichts anderes als die Unmöglichkeit einer Einheit oder die Abwesenheit der Prinzipien im Ganzen. Wo Prinzipien und Grundsätze fehlen, ist Wissen im eigentlichen Sinn nicht mehr möglich. Das ist die skeptische Seite der Postmoderne.

Skepsis führte im ursprünglichen antiken Sinn bei Sextus Empiricus zur epoché, einer edlen Urteilsenthaltung und vornehmen Gleichgültigkeit (ataraxia). In der Postmoderne führt sie zum Gegenteil, zu einer scharfen Verurteilung abweichender Meinungen und zu einer Engagiertheit im Sinne der diversity. Die postmoderne Skepsis ist eine dogmatische Skepsis – und diese Dogmatik entstand aufgrund ihrer Verbindung zu den Sprachspielen Wittgensteins.

Die Grundsätze der Postmoderne

Weil sie dogmatisch ist, lassen sich ihre Grundsätze, oder besser: ihre Tropen und Wendungen auch zusammentragen und ihrer Herkunft bestimmen:

1) Werte sind inkommensurabel.

Werte sind für die Postmoderne wie Sprachen. So wie Arabisch für Unerfahrene wie eine Kehlkopferkrankung klingt, so bleiben die Subjekte immer Muttersprachler ihrer eigenen Werte und Vorstellungen und verstehen vom Anderen nur ein letztlich unverständliches Gebrüll und Gekrächze. Es gibt keine universelle Sprache, es gibt nur Sprachen im Plural.

Aus der unvereinbaren Vielfalt an Sprachen folgt das Gebot der Toleranz: Lass die Vielfalt bestehen! Bei Wittgenstein sind Sprachen nämlich zugleich eine Lebensform (Philosophische Untersuchungen Nr. 23) als auch die Grenzen der eigenen Welt (Tractatus Nr. 5.62). Aus der absoluten Unvergleichbarkeit folgt das unbedingte Gebot, andere Welten in Ruhe spielen zu lassen.

2) Werte sind heterogen und agonal

Die Ethik der Toleranz ist notwendig, weil die Werte (ungefähr wie unterschiedliche Satzarten) sich nicht nur unvereinbar, sondern auch feindlich in einem Wettbewerb gegenüberstehen. Vereinigungen unter eine große Erzählung, also die Vereinigung unter einen leitenden Grund, wird bloß als ein Machtspiel begriffen, als eine Vereinnahmung anderer Welten. Dieser Gedanke kommt weniger von Wittgenstein, als von Nietzsche oder Heidegger, der moderne Wissenschaft bloß als Machenschaft zur Ermächtigung der Subjekte verstand. Praktisch heißt das: Sprachspiele sind immer Machtspiele.

3) Dissens, nicht Konsens ist das Ziel

Lyotard weist das Habermasianische Modell der Konsens-Erzeugung weit von sich. Dieser veraltete Wert würde bloß vereinen, was unvereinbar ist. Da die Unvereinbarkeit nicht begründbar ist, hört man auch gar nicht erst auf die Gründe des Anderen. Hier hat die postmoderne Empörungskultur wohl ihren Ursprung: Ein postmoderner Mensch kann und will sich auch gar nicht einigen können. Es ist kein Zufall, dass sich Lyotard auf die Sophistik beruft.

4) Gerechtigkeit statt Klugheit oder praktische Vernunft

Trotz der unvereinbaren Heterogenität der Sprach-Welten bleibt Gerechtigkeit möglich, nämlich genau dann, wenn jede Sprache sprechen darf, wenn alle Sprachlosen ihre Stimme bekommen und zu Teilnehmern am Sprachspiel werden. Das Spiel ist dann gerecht, wenn alle mitspielen dürfen.

Gleichzeitig gibt es für das Recht, mitspielen zu dürfen, keine Letztbegründung. Mit der Abschaffung von diskutierbaren Gründen geht aber sowohl die Klugheit als auch die praktische Vernunft verloren, die auch andere Arten der Gerechtigkeit kennt – Verteilungsgerechtigkeit oder Kompetenzgerechtigkeit zum Beispiel. Das kategorische Gebot der Diversity bleibt als einzige Art der Gerechtigkeit übrig, wenn die Einheit und Ganzheit als leitender Grundsatz verloren gegangen ist.

5) Indifferenz ist abgeschafft

Eine der offensichtlichsten Folgen der Analoge des Praktischen zu einem Wittgensteinschen Sprachspiel ist die Abschaffung aller Indifferenz. Es gab im Ethischen eigentlich immer einen nicht gesondert thematisierten Begriff der Neutralität, der weder gut noch böse ist, etwa der Gebrauch von Vorurteilen in der Komik. Doch die Sprachspiele Wittgensteins haben eine Besonderheit. Ihre Regeln entstehen gleichursprünglich mit dem Gebrauch. Jede Änderung des Gebrauchs ändert die Regeln, jede Änderung der Regel ändert den Gebrauch – und beides ändert das gesamte Spiel. Man kann eben nicht die Schachregeln verändern, ohne nicht zugleich das gesamte Spiel zu verändern.

Doch für die Politik ist eine solche Analogie ebenso falsch wie fatal. Die fast schon manische Sprachobsession der Postmoderne hat hier ihren Ursprung: Sie glaubt allen Ernstes, mit einer Veränderung der Sprache würde sich die Welt verändern.

6) Subjektive Gefühle statt Gründe

Die Einheit ist in der postmodernen Skepsis nicht mehr rationalen Gründen zugänglich, weil die Sprach-Welten unvereinbar seien. Zu den Menschenrechten soll nur noch ein Band des Gefühls übrig bleiben, eine Art sensus communis. Das Gefühl drängt zur Sprache, Gefühle werden selbst zu Gründen. Hier liegt der Ursprung der postmodernen Empfindsamkeit.

7) Der Logos ist plural und keine Einheit

Dieser Grundsatz ist der wichtigste der postmodernen Skepsis. Aus ihm leiten sich alle vorangegangenen Grundsätze ab. Die Vernunft selbst soll vielfältig, heterogen und in sich unvereinbar sein. Die Vielfalt der Gründe führt zu einer Vielfalt des Wissens und der Werte, zu ihrer Unvergleichbarkeit. Wolfgang Welsch hat hierzu eine informierte skeptische Metaphysik verfasst. Sie streitet die Existenz von Universalien ab, also allgemeinen Einheiten, die eine Vereinigung anleiten können.

Die Kritik an den postmodernen Grundsätzen

Zur Kritik dieser Grundsätze bliebe vieles zu sagen, aber ich beschränke mich hier auf zwei Punkte.

Der plurale Logos ist ein fauler Logos. Die postmodernen Menschen brauchen gar nicht erst nach einer Einheit zu suchen, weil sie im Vorhinein wissen, dass ihre Privatsprachen unvereinbar sein werden. Als Dogmatik für die Politik oder Wissenschaft werden die postmodernen Grundsätze sogar zu einer gefährlichen Rechthaberei der Subjekte in ihrer Subjektivität. Diversity als kategorisches Gebot sorgt für eine unsachliche Politik aus allen möglichen identitären Gründen, zu einem Kult der Proporzpolitik. Identitäre Gründe sind all jene Gründe, die sich bloß um Verschiedenheit bemühen. Die Verschiedenheit, das Bunte und Vielfältige, kann aber kein Maßstab sein. Der eigentliche ethische Maßstab darf nur das Können für die Aufgabe sein. Wenn diversity Macht ergreift, wird die Politik unsachlich und persönlich, postfaktisch und vielleicht sogar postdemokratisch. Denn wenn die Werte generell unvereinbar sind und sich bloß im Machtspiel behaupten müssen, ist der Weg von der notwendigen diversen Toleranz zur möglichen singulären Intoleranz nicht sehr verwinkelt.

Generell gilt: Vorsicht vor falschen Analogien! Die Gründungsmetapher der Postmoderne verfehlt völlig den Sinn von Logos. Logos meint nicht Sprache im Sinn dessen, was die empirische Sprachwissenschaft untersucht. Der Logos meint das Sprechen, das Miteinander-Sprechen, den Austausch von Gedanken. Sprachregeln und die Grammatik sind etwas völlig anderes die Regeln der Dialektik und Rhetorik. Im Sprechen sind die Wörter, Sätze und Gesten tatsächlich nur Mittel des Ausdrucks, um einen Gedanken deutlich zu machen. Derselbe Gedanke kann nicht nur in verschiedenen Worten, er kann auch in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden. Scheint bei dieses Übersetzungen nicht doch so etwas wie Übersetzbarkeit hindurch – Vereinbarkeit?

Vor allem: Wenn es stimmt, dass wir im Sprechen viele verschiedene Ausdrücke für dasselbe verwenden können, dann verändert sich mit dem Sprachgebrauch auch nicht das Sprachspiel und dessen Regeln. Vielleicht liegt hier das Hauptproblem der Postmoderne. Mit ihrer anti-utopischen Skepsis ändern sie eigentlich nichts und treiben bloß die Unvereinbarkeit im Diskurs weiter voran. Das ist nutzlos, aber leider nicht nutzlos genug. Die Postmoderne ist in ihrer populären Form weit entfernt von jener wirklich existenziellen Skepsis eines Emil Cioran, der alles dekonstruiert, bis er selbst unbrauchbar zu allem geworden ist. Denn das ist das Ziel einer echten Skepsis: eine moralfreie Untauglichkeit und nicht die Freiheit zu einer untauglichen Moral.

Lektüretipps

Heisterhagen, Nils: Kritik der Postmoderne. Warum der Relativismus nicht das letzte Wort hat, Springer 2019.

Sokal, Alan: Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne missbrauchen, C.H.Beck 1999.


Eine gewisse Diskrepanz…


von

… sehe ja vielleicht nicht nur ich zwischen dem Medizin-Kapitel in Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft und dem Wenigen und sehr Unoriginellen, was ihm im Spiegel-Interview dazu einfällt.

Zur Dialektik der Aufklärung in Form medizinischer Wissenschaft:

Vielleicht beleuchtet diese Sehweise einen Teil der ganz erstaunlichen Erfolge alter Zaubermedizinen, z.B. des Schamanismus. Im magischen Heilritual extrahiert der Schamane aus dem kranken Körper das »Übel«, etwa in Form eines geschickt untergeschobenen Fremdkörpers – eines Wurms, einer Larve, einer Nadel. Solche Extraktionen – oft auf dem Höhepunkt einer Krisis vorgenommen – bildeten bei Erfolg den Wendepunkt für das Überhandnehmen der Selbstheilungsprozesse – gewissermaßen äußere Mitinszenierungen des innerlichen energetischen Dramas. Bis in die Gegenwart zieht der Arzt aus solchen und ähnlichen Mechanismen seinen magischen Status, sofern ihm nicht die Demoralisierung und das zynische Körpertechnokratentum schon von außen anzusehen ist – was im übrigen immer häufiger geschieht. 1)S.493 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft

(Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 S.493 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft

Eva von Redecker „Revolution für das Leben“ (Rezension)


von

Durch ein Zeit-Interview, in dem sie die etwas schräge Aussage getroffen hatte, sie genieße es, von ihren vielen Bahnreisen durch Corona abgehalten und sozusagen zwangsverwurzelt zu werden 1)https://www.zeit.de/kultur/2020-12/eva-von-redecker-corona-freiheit-mobilitaet-philosophie?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.ecosia.org%2F, fiel mir die Philosophin Eva von Redecker das erste mal auf. Dabei halte ich es gar nicht für dumm, mit so einer Aussage zu provozieren, um auf subtilere Gedanken aufmerksam zu machen. Gleichzeitig kann einen auch die Angst überkommen, sie könnte das ernst meinen. Nicht nur das, sondern auch, was angeblich so alles berauschend sein soll, gab mir dann jedenfalls doch den Eindruck, dass wir in recht unterschiedlichen Welten leben. Erfreulicherweise abstrahiert von Redecker in „Revolution für das Leben“ nicht davon, dass Philosophie eben immer auch Ausdruck von Philosophen ist, die ein bestimmtes Leben geführt haben bzw. führen.

Ein bisschen lustig ist es natürlich, wenn sie schreibt, jetzt während der Corona-Maßnahmen könne man ja endlich ein wenig zur Ruhe kommen und nachdenken, weil das ja doch die Frage aufwirft, was Philosophen denn dann davor bitte gemacht haben. Beim Nachdenken kommen dann auch allerhand typisch links-gesellschaftskritische Aussagen zum Vorschein, die natürlich nicht falsch sind, aber doch von jedem, der sich ein Buch mit so einem Titel kauft, ohnehin geteilt werden dürften. Daneben findet sich aber auch allerhand wirklich interessantes und davon soll das Review handeln.

(Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 https://www.zeit.de/kultur/2020-12/eva-von-redecker-corona-freiheit-mobilitaet-philosophie?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.ecosia.org%2F

Rassisten und andere Menschenfeinde – eine Marginalie


von

Was sind das für zornige Zeiten? Der Sturm auf das Kapitol ist sicher noch nicht der Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung, bei der sich in den westlichen Demokratien mehr und mehr das Gefühl eingeschlichen hat, dass den berechtigten und unberechtigten Forderungen der Bevölkerung nichts weiter entgegengesetzt wird als eine professionelle, besonnene und unverlässliche Kommunikation der Mächtigen, die weder etwas sagt, noch zugehört hat. Streit wurde allzu lange vernünftig weggelächelt und das Gespräch vermieden. Doch wenn das Gespräch versagt, wird Gewalt zum Bedürfnis.

Jetzt machen die Bilder sprachlos. Ein selbsternannter Schamane mit einer Mütze aus Bisonhörnern und Kojotenfell steht mit einer Lanze gröhlend im Parlament der dienstältesten Demokratie. Auf seiner entblößten Brust sind die Symbole von Valknut, Yggdrasil und Mjölnir eintätowiert, die altgermanischen Embleme für Wotan, die Weltesche und den Kriegshammer Thors. Die Karriere dieses Mannes bestand aus Gelegenheitsschauspielerei und verworrenen Büchern und Videos, die klar zeigen, wie tief dieser Mensch an rechtsextreme Ideologien glaubt. Einen solchen Menschen wie Jake Angeli darf man sicher einen Rassisten und Rechtsextremen nennen. Ein solcher Begriff bestimmt ihn in seinem Wesen und Charakter. Solche Menschen sind eine Gefahr für die amerikanische Demokratie und machen sich eines Verbrechens schuldig.

Der Rassismus wird unscharf

Nun ist aber nicht zu übersehen, dass weder in den USA noch hierzulande der Vorwurf des Rassismus auf solche Menschen wie Jake Angeli beschränkt bleibt. In jüngster Zeit sahen sich diesem Vorwurf selbst Dieter Nuhr, Lisa Eckhart und Martin Sonneborn ausgesetzt, also Komiker, zu deren Handwerk es gehört, so kräftig von allen Klischees und Vorurteilen Gebrauch zu machen, wie es keine ernste Schmerzgrenze erlauben darf.

Wie alle guten Dinge verliert auch der Vorwurf des Rassismus an Qualität, je mehr er in Massen produziert und reproduziert wird. Gerade unter dem Vorwurf des „strukturellen“ Rassismus sollen alle möglichen Reden und Verhaltensweisen aus der Welt geschafft werden, die sich angeblich schuldig gemacht haben. Das Verbindende des strukturellen Rassismus ist aber nicht irgendeine Struktur – das Verbindende ist, dass es dabei um Handlungen geht, die jenseits einer Straftat liegen. Ein struktureller Rassist kann nicht festgenommen werden, wie Jake Angeli. Ein solcher angeblicher Rassist hat sich nämlich nur moralisch schuldig gemacht, soll sich für sein Fehlverhalten entschuldigen und bleibt als gesellschaftliche verfehmte und geächtete Person zurück.

Die Beschuldigten reagieren auf solche Anschuldigungen mit Wut und Zorn – durchaus nicht zu Unrecht. Wut und Zorn sind der Preis für eine Enge, die sich weiter zuschnürt. Der Meinungskorridor des noch Sagbaren, des vermeintlich Kritischen, das sich nicht weiter rechtfertigen muss, wird nämlich immer enger und moralischer, wie es Bernhard Schlink schon 2019 treffend analysiert hatte. Das Moralisierende des Meinungskorridors zeigt sich einfach daran, dass alles, was außerhalb dieser schmalen Bahn liegt, als möglicherweise berechtigte Meinung gar nicht mehr ernst genommen wird.

Rassismus als Beleidigung

An die Stelle einer Auseinandersetzung tritt eine Beleidigung. Solche Diffamierungen sorgen nicht nur für einen Zorn der Gegenseite – sie stärken sie auch wider Willen. Hierzu muss man eigentlich nur Eines verstehen: Der Vorwurf „Das ist ein Rassist!“ ist mittlerweile in den meisten Fällen kein Satz mehr, der versucht, sich einem Begriff von der angesprochenen Person zu machen. Es ist in den meisten Fällen heiße Luft, beleidigend in der Intention und strukturell ein argumentum ad personam.

Die Rhetorik und Dialektik haben immer zwischen sachdienlichen Argumenten (ad rem) unterschieden und solchen, die nicht der Sache dienen. Die sachlich untauglichen Argumente gehen auf die Person (ad personam), die sich zu einem Thema geäußert hat. Sie stärken oder schwächen deren Ruf, deren Ansehen und Glaubwürdigkeit. Bei Lob oder Diffamierung geht es um die gesellschaftliche Verwertung des Menschen im Ganzen.

Seit der Vorwurf des Rassismus seine analytische Schärfe verloren hat und nicht mehr nur jene verbrecherischen Machenschaften eine Jake Angeli unter sich fasst, dient dieser Vorwurf nicht mehr zu einer sachdienlichen Auseinandersetzung mit einer anderen Meinung. Er dient bloß zur Diffamierung, will die andere Person ins gesellschaftliche Abseits drängen und entspringt der Denkfaulheit.

Ist dieser Versuch erfolgreich, wird aus der diffamierten Person ein Ausgeschlossener, dem im schlechtesten Fall Erfolg trotz Können versagt bleibt. Aus der Absage an die Person folgen reale Absagen, die eine Wirkungsmöglichkeit der verfehmten Person versagen. Es geht bei solchen Vorwürfen nie um eine sachliche Auseinandersetzung – es geht immer um die Zerstörung der Person und ihres Rufes.

Eigentlich sollte man deswegen mit solchen Vorwürfen, die behaupten, jemand habe sich gegen die Menschlichkeit vergangen, besonders vorsichtig sein. Das Gegenteil wird mehr und mehr der Fall.

Der Umgang mit reflektierten Beleidigungen

Wie kann man geschickt damit umgehen? Erstens: Streiten Sie die Zuschreibung ab und kehren Sie die Beweislast um! Gespielt oder echt – ein wenig Empörung über eine solche gezielte Unverschämtheit darf mit dabei sein. Zwingen Sie den Anderen außerdem zu begründen, warum er Sie für einen Rassisten hält. Dann kommt schon heraus, wie schmalbrüstig die meisten Rufmörder eigentlich sein müssen, damit sie im Meinungskorridor vorwärts kommen können. Sie sind gewohnt, sich nicht rechtfertigen zu müssen.

Wenn die sachliche Haltlosigkeit des Vorwurfs klar geworden ist, kann man in einem zweiten Schritt den Spieß umdrehen und dem Gegner die bösartigen Unterstellungen vorhalten, die Unsachlichkeit und Unbedachtheit. Das ist natürlich eristische Rhetorik (die Kunst, Recht zu behalten), aber politische Korrektheit, also die Konformierung in den Meinungskorridor des noch Sagbaren, arbeitet selbst mit solchen Mitteln, ohne es zu merken.

Hinter der angeblichen Elite urbaner Milieus, die regelmäßig die Rechten in Wut und Zorn versetzen, stecken auch die unfairen Strategien einer eristischen Überredungskunst, die sich ausgiebig der Argumente ad personam bedient oder das Gesagte als Hass diffamiert. Durch den eigentlich ethisch neutralen Raum der Dissidenz, den jede Demokratie fördern sollte, fegen Stürme aus verbalen Exkrementen, die um einen Hashtag kreisen.

Die Gefahr der Rassismus-Beleidigung

Generell gilt: Die Diffamierung mit Begriffen, die nicht zutreffen, ist verlogen und zudem noch hinterhältig. Es ist völlig gleichgültig, ob sich das vermeintliche Opfer verletzt fühlt oder nicht. Auch jedes gekränkte Opfer hat eine Beweispflicht und muss begründen, warum ein angeblicher Täter ein tatsächlicher Täter sein soll. Keine Minderheit darf von sich aus bestimmen, dass sie unterdrückt wird und wer es ist, der sie unterdrückt. Mitleid oder falsche Toleranz sind hier ein schlechter Ratgeber. Sonst können solche Mechanismen der Diffamierung ungehindert wirken, sowohl aus berechtigten als auch aus ungerechten Motiven.

Beiläufig gesagt, haben gerade die deutschen Gerichte eine bemerkenswerte Indolenz gegen die Ausbrüche von Wut und Zorn in Hassreden gezeigt. Das Meiste muss als Teil des politischen Kampfes um Macht ertragen werden. Vom zulässigen Vorwurf zu einer wirklichen Untat, die bestraft werden muss, ist es eben noch ein weiter Weg.

Eine unsachliche und diffamierende Eristik macht Stress und überzeugt nicht. Wenn zudem die Stressmacher in den gesellschaftlichen Spitzenpositionen sitzen und (wie Nico Semsrott) glauben, sie würden ihre Haltung dadurch beweisen, dass sie nicht bloß Privilegierte sind, sondern Privilegierte, die über sich selbst reflektieren können, wird der unreflektierte Pöbel mit zielsicherer Urteilskraft die Diffamierung umkehren und das unsachlich behandelte oder unwichtige Problem ebenso unsachlich als ein urbanes Elitenproblem oder einfach als Verlogenheit abtun. Damit steigt die Indolenz der Masse gegen den vielleicht auch mal berechtigen Vorwurf des Rassismus.

Dieser Mangel an Wahrhaftigkeit treibt die Radikalisierung voran und macht aus Mäusen Elefanten, aus Schamanen Vandalen und aus Komikern Rassisten.


Die Idee einer Nihilodizee


von

Als Leibniz in den Prinzipien der Natur und der Gnade die Frage stellte, warum es eher Etwas als Nichts gebe (Nr. 7: Pourquoi il y a plustôt quelque chose que rien?), war seine Verteidigung des Seins von dem Wunsch beseelt, einen letzten Grund für alles Seiende zu finden. Diesen letzten Grund nannte er Gott und dachte ihn als ein Wesen von höchster Vollkommenheit, höchster Macht, höchstem Wissen und höchstem Willen. Leider konnte es dieses Wesen trotz seiner Allmacht nicht verhindern, das es mittlerweile im Sterben liegt. Diese Vorstellung und Erfindung der Menschen verliert an Macht und Leben, je weniger Menschen an diese Vorstellung glauben. Das Etwas, das Gott einmal war, in all seiner Herrlichkeit und Schrecklichkeit, in all seiner Überlegenheit und in all seiner Forderung, sich fortwährend selbst zu überwinden, verwandelte sich in ein Nichts und eine Nichtigkeit, für dessen Existenz nur noch wenige Gründe sprechen.

Und so ist es heute kaum noch genießbar zu lesen, mit welchem Eifer sich Leibniz in der Theodizee redlich darum bemühte, die Frage zu beantworten, wieso ein solch perfektes Wesen, wie es Gott ist, die Übel und das Böse in der Welt zulassen kann. Wenn es Gott nicht mehr gibt, wenn der letzte Grund für alles Seiende wegfällt, wenn alles Seiende aus Nichts kommt und für Nichts geschaffen ist, verwandelt sich die Theodizee in eine Nihilodizee: Wie kann es sein, dass weder das Gute noch das Böse für Etwas taugen? Wie kann das nichtige Nichts das Gute zulassen?

Der Nihilismus und die Nihilodizee

Die Frage nach der höheren Gerechtigkeit des Nichts fällt zusammen mit der Heraufkunft des europäischen Nihilismus. Die Entbergung des Nichts als letzten Grund aller Dinge stößt sie in den Abgrund ihrer Sinnlosigkeit. Wenn das Sein entgleitet, entstehen Angst, Unbehagen und das Unheimliche. Das drohende Nichts und der machtlose Gott sind die Grundprinzipien einer jeden Form des Nihilismus, wie auch immer sie in einer Philosophie auftauchen mögen.

Bei einer solchen nihilistischen Grundstellung bleibt – der Theodizee nicht unähnlich – als Aufgabe der Philosophie eine Therapie der Seele, die Trost spenden kann, möglich und übrig. Doch das Verhältnis von Erkenntnis und Verzweiflung macht eine Kehrtwende und dreht sich ins Gegenteil.

Bei Leibniz ist die Erkenntnis das Tröstende selbst: Die Welt kann nicht – auch nicht bei einem allmächtigen Gott – die beste aller denkbaren Welten sein. Sie muss die beste aller real möglichen Welten sein. Und weil alle Wesen außer Gott nicht perfekt und nicht notwendig gut sein können, muss ihre Existenz kontingent und sie selbst möglicherweise böse sein. Von Gottes Allgüte bleibt in der bestmöglichen Welt nur eine Tendenz zum Guten übrig, eine Harmonie und ein Drang zur Perfektion. Mit dieser Erkenntnis ist eine Versöhnung mit dem Bösen möglich.

Im Nihilismus stößt die Erkenntnis der Wahrheit die Erkennenden dagegen in die Verzweiflung. Das Nichts als Ungrund raubt dem Dasein jeden Wert und jede Möglichkeit, das Bessere oder Schlechtere abzuwägen und zu erkennen. Wenn das Dasein tatsächlich nichts weiter bedeutet, als eine bloße Hineingehaltenheit in das Nichts (vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?), verwandelt sich jedes Miteinandersein in einen Kampf um Macht, bei dem keine prästabilierte Harmonie die übelste aller denkbaren Möglichkeiten verhindern könnte. Ein Prinzip des unzureichenden Grundes macht jede Existenz von sich aus kontingent und imperfekt. Das Chaos ist möglich, das Gegenteil des Soseins notwendigerweise latent vorhanden, sonst wäre das Nicht des Nichts nicht möglich. Alles vergeht und jede Art der Ordnung selbst, des Wesens überhaupt, wird fraglich, wenn es eher Nichts als Sein gibt.

Eine Lösung erkennt das Nichts an

In einer nihilistischen Nihilodizee wäre der Umgang mit der Welt nichts weiter als ein großes Als-Ob. Die Menschen würden sich selbst belügen, wenn sie an ein Wesen glauben, oder es an Ernst und Strenge fehlen lassen, wenn sie grundlos das Als-Ob mitspielen, obwohl sie Einsicht in den nichtigen Abgrund allen Seins gewonnen haben. Dumm ist nur, wer glaubt, die Macht aus dem Nichts, die seinsvernichtend waltet, durch Ethik und Moral zügeln zu können.

Es gibt viele Namen in der neueren Philosophie, die Einsicht in die nihilistische Wahrheit des Waltens der Welt erlangten und sich danach auf die Seite des Seins schlugen, als Seinshirten und Fürbitter des Noch-nicht-Seins. Deren pastorales Programm braucht hier nicht im Detail besprochen zu werden, klar ist nur: Sie wollen festhalten an der Entscheidung, ob es eher Sein oder eher Nichts gibt. In dieser Abwägung, in dem Ausschluss des Einen gegen das Andere liegt das eigentliche Problem, das verhindert, in den Fragen der Theodizee oder Nihilodizee weiter voranzukommen. Sein und Nichts als gleichwertige Teile der Welt zu denken, hat seit Leibniz allein Hegel versucht. Er behandelte sie, wenn auch mit vielen Fehlern, als die Wahrheit, die allem Werden zugrundeliegt, insofern es Bewegung ist (Enzyklopädie § 88).

Dass der Ausschluss und die Verrechnung des Seins gegen das Nichts keinesfalls zwingend ist, merkt man schon an der seltsamen Begründung, die Leibniz für einen Vorrang des Seins anführt. Es gebe eher Sein als Nichtsein, weil das Nichts leichter und einfacher ist als das Sein (Prinzipien der Natur und der Gnade Nr. 7). Er nimmt das Grundlose nicht schwer, er nimmt es leicht, wiegt es und befindet es sogar als zu leicht, um philosophisch etwas zu taugen.

Der Gebrauch und die Leichtigkeit des Nichts

Tatsächlich hat niemand seither versucht, dieses Leichte und Einfache, das Leibniz dem Nichts zuschreibt, näher zu erkunden. Die Einfachheit besteht wohl kaum in einer vermeintlich simpleren Lösung bloß für die Erkenntnis der Welt, weil eine völlige Wertfreiheit des Daseins nicht zu weniger ethischen und ontologischen Schwierigkeiten führt als eine Parteinahme für das Sein. Die Leichtigkeit muss vielmehr selbst eine Wirkung des Nichts sein.

Einen Hinweis auf dieses Einfache, das wir suchen müssen, gibt eine alte chinesische Weisheit: Sein macht Habe, Nichts macht Gebrauch (Laozi Nr. 11). Das Nichts macht leichter und einfacher, weil es den Gebrauch ermöglicht. Nehmen wir als Beispiel einen Krug oder ein Rad: Gerade dasjenige, das durch diese Dinge mit entsteht und noch unbestimmt bleibt, nämlich die Leere der Nabe und das Fassende des Gefäßes, erlauben erst den Gebrauch dieser Dinge. Dank dieses bestimmten Nichts wird die Welt zu einem Zuhandenen mit ihren verschiedenen Gebrauchsweisen in ihrer jeweiligen Dienlichkeit.

Verallgemeinert man diese Weisheit auf das Sein und das Nichts überhaupt, so müsste das Nichts sogar den Vorrang haben, weil es der Gebrauch ist, der allgemein den Vorrang hat. Die Welt gibt sich in der Weise, dass sich in ihr Wesen selbst und andere gebrauchen. Der Gebrauch von sich führt zu einer Aneignung von Sein, denn die Aneignung macht sich Formen des Gebrauchs zum eigenen Besitz. Ein Klavierspieler hat das Sein als Klavierspielender erworben, wenn er die wohlklingenden und missratenen Gebrauchsweisen des Klaviers zu seiner Habe zählt, von der er wiederholend Gebrauch machen kann (vgl. Agamben: Der Gebrauch der Körper, 6.3). Der Wohlklang, den er erzeugt, wird nur unzureichend durch ihn selbst bestimmt. Der Gebrauch seines Körpers bedient sich des Wesens des Klangs, das eigene Gesetze für den Gebrauch der Harmonien kennt. Der Gebrauch in der Tat bestimmt sich immer doppelt, aus dem Zeug und dem Zeugenden, der das Zeug benutzt. Gebrauch ist wesentlich Zeugnis.

Nihilistische Technik ist unerträgliche Leichtigkeit

Die moderne Wissenschaft und Technik versichern sich der Welt nicht mehr im Sinn des zeugenden Gebrauchs. Bei ihnen bedeutet Wissen die Fähigkeit, etwas machen zu können. Höchste Technik heißt höchste Herstellung. Die Verfügungsgewalt solcher Machenschaften reicht weit über den gewöhnlichen Gebrauch von Werkzeugen hinaus. Was sie kennzeichnet, ist die Erschaffung eines mächtigen Systems. Ein System ist ein Gestell, in dem das Gebrauchende und das Gebrauchte so miteinander verbaut werden, dass sie ein Werk und eine Arbeit werden.

Etwas herstellen oder etwas machen bedeutet die Erschaffung von Etwas aus dem Nichts. Das Hergestellte war vorher nicht da und ist ins Dasein gebracht worden. Diese Herkunft aus dem Nichts bereitet Unbehagen, wenn sie zu Systemen führt mit dem Anspruch, beliebig die gebrauchten Wesen so ineinander zu verbauen, dass sie nach dem Willen des Systemarchitekten wirken und nur auf diesem Willen zur Wirkung beruhen. Eine solche Technik ist wesenlos in dem Maß, wie sie dem Zeug, das sie verwendet, kein Eigenes als Habe zugesteht. Diese Art der neuzeitlichen Technik und die Metaphysik, die sie begleitet und ermöglicht, sind die tätige Avantgarde des Nihilismus. Sie erleichtern das Dasein trügerisch, weil sie die Menschen an eine wesenlose Gebrauchsweise des Nichts gewöhnen.

Eine Lösung der Nihilodizee muss den Umgang mit der Welt umstellen von einer wesenlosen Herstellung und nichtigen Verwertung zu einer wesentlichen Gebrauch und einem unwesentlich Missbrauch. Dann erst ist das neuzeitliche Subjekt überwunden und ein leichtes Selbst gewonnen.


Die Zügel der Verantwortung


von

Kalt und ohne Gefühl haben mich immer die Reden von Politikern gelassen, wenn sie mit einer Miene von Wichtigkeit und Gravität verkündeten, es sei jetzt und besonders in diesen Zeiten angebracht, dass jeder von uns Verantwortung übernehme, diese Verantwortung, die von uns abverlangt werde, von uns allen, warum auch immer.

Der Grund schien tatsächlich beliebig zu sein. Mir war es immer ein Rätsel, wie so vieles zur Verantwortung fähig sein sollte, das nichts miteinander zu tun hatte. Mal waren mit der Verantwortung die Pflichten gemeint, die ein Amt mit sich bringt; mal das Eingeständnis der Schuld für eine Untat, die man selbst begangen hatte; mal eine schuldähnliche Verpflichtung für die Verbrechen der Urgroßväter und Urgroßmütter; mal die Fürsorgepflicht für die Kinder und schließlich sogar eine Rechtfertigung für eine Politik der Aufrüstung und Angriffe gegen fremde Staaten. Man sprach damals von der Verantwortung Deutschlands in der Welt.

Ich wollte diese Reden verstehen, dieses häufige Duett aus Werten und Verantwortung, denen sich diese Politiker verpflichtet fühlen, aber ich schien zu dumm, zu grob, zu sehr geprägt zu sein von der schlichten Ehrlichkeit der unteren Schichten. Ich hatte nur einen Verdacht: Wer Verantwortung sagt, will etwas verbergen und ist nicht aufrichtig.

Glücklicherweise gibt es ein Buch, das Abhilfe verschaffen kann: Hans Jonas Das Prinzip Verantwortung. Dieses Werk wurde in diesem Jahr neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Robert Habeck. Der Einband ist in den Farben von Bündnis 90/Die Grünen gestaltet, als ob der parteieigene Verlag seinen Parteiphilosophen veröffentlicht hätte.

Hans Jonas gehört zu den mächtigen Philosophen, den populären Mahnern und Warnern. Das Prinzip Verantwortung bedeutet den Abschied von der Utopie, den Abschied vom Prinzip der Hoffnung. Es ist ein bewusstes Gegenbuch zu Ernst Blochs Hauptwerk. Hans Jonas verkörpert damit wie kaum ein anderer die Geisteshaltung, die heute als links-grüner Mainstream immer mehr in die Kritik gerät: eine Haltung, die sich von den Utopien einer besseren Gesellschaft verabschiedet hat, jetzt aber mit dem moralischen Zeigefinger auf alle möglichen Missstände deutet.

Dieser Zeigefinger ist der erhobene Zeigefinger der Verantwortung. Hinter dieser Geste der Verantwortung verbirgt sich eine gefährliche Rückkehr der Moral in die Politik.

Philosophisch ist der Begriff der Verantwortung jung und hat kaum eine Geschichte. Er entstammt der Rechtsterminologie und bezeichnete die Verteidigung eines Angeklagten vor Gericht. Erst im 20. Jahrhundert machte er in der Morallehre eine steile Karriere. Max Weber sprach von einer Verantwortungsethik, die einen Politiker dazu bewegen sollte, in der Durchsetzung seiner Gesinnung Vorsicht und Rücksicht walten zu lassen, weil er sich für die Folgen seiner Taten schuldig macht. Die Verantwortung von Hans Jonas geht aber darüber weit hinaus: Diese Verantwortung macht schuldig für etwas, das man nicht getan hat.

Diese Ethik antwortet auf ein Problem, das erst im zwanzigsten Jahrhundert deutlich geworden ist: Die moderne Technik erlaubt ein ungeheures Maß an Macht, also an der Fähigkeit, anderen Wesen das Dasein zu rauben. Das Prinzip Verantwortung soll derart Übermächtigen „freiwillige Zügel“ auferlegen (ebd. S. 9). Die Politik soll gehemmt, an die Kandare genommen, klein und ungefährlich gemacht werden.

Die Ethik der Verantwortung züchtet das Schlechteste in den Menschen hervor: ihren Kleinmut. Dieser Kleinmut ist so alltäglich geworden, dass er ins Unbewusste, Gewohnte und Gewöhnliche übergegangen ist. Solche latenten Prägungen kann jeder einzelne Mensch nur in den Griff zu bekommen, wenn er sie sich bewusst macht und zum Besseren verändert. Bei ihrer Erkenntnis kann ich helfen.

Der Kleinmut der Verantwortung greift auf sieben Gebote zurück, vergleichbar mit den sieben Todsünden gegen das freie Denken:

1. Bediene Dich einer „Heuristik der Furcht“! Nur wer ständig Angst hat vor den möglichen Folgen seines Handelns, kann es einmal dazu bringen, nichts mehr zu tun. Nachdem der drohende Eigentod nicht mehr reicht, um die Menschen für eine Ökologie vernünftig zu machen (wie bei Hobbes), male das Schreckensbild einer weltweiten Apokalypse in naher Zukunft und belege diese Apokalypse durch wissenschaftliche Modelle. Ob Klima oder Viren – die rationale Furcht wirkt und macht die Menschen folgsam.

2. Mache die Welt und die Natur zum Treugut der Menschheit! Ein wenig Überschätzung hat noch niemandem geschadet – deswegen lass Dich nie auf die Wette Mephistos ein, die Welt erst einmal zu zerstören, um zu sehen, wer zuerst stirbt: der Mensch oder die Natur? Wer überlebt, ist der Überlegene.

3. Mach die Zukunft zum Gegenstand der Verantwortung! Es ist viel zu langweilig, nur nach direkten Schuldbeziehungen zu fahnden, wie es die Juristen tun. Erst wenn du dich vom Vorsatz befreist, kannst du die Vorgänger für alles mögliche anklagen, das akzidentiell auch in ihrer Macht stand. Sie sind dann verantwortlich für die unbeabsichtigten Nebenwirkungen, bloß weil sie gehandelt haben und nicht das Handeln unterließen.

4. Setze die Ehrfurcht an die Stelle der Klugheit! Schon die alten Religionen wussten, dass nichts die Gläubigen besser von den Heiligtümern fernhalten konnte als die Ehrfurcht. In der Furcht vor der höheren Ehre, vor der Würde des Heiligen wird das Brauchbare unantastbar. Mit diesem Trick der Religion werden die Klimasünderinnen und Klimasünder geboren. Sünder sagt man – nota bene!

5. Befreie die Verantwortung von der Idee der Gegenseitigkeit! Die selbstlose Hingabe der Eltern scheint ein viel besseres Bild für die politische Übernahme von Verantwortung zu sein als die Idee, sich seine guten Ratschläge durch Anerkennung und dem wohligen Gefühl der eigenen Macht bezahlen zu lassen.

6. Fördere die Selbstlosigkeit durch eine unsinnige Pflichten-Ethik! Die Pflicht zum Dasein, weil das Dasein unter allen Umständen besser sei als das Nichtsein, gehört zu den wirksamsten Erfindungen von Hans Jonas. Sein kategorischer Imperativ lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“. Zeuge also Kinder und bringe Dich um!

7. Schaffe ein Gewissen der Macht im Schuldgefühl! Weil die trockenen Pflichten so schlecht begeistern können, schafft erst die Leidenschaft für die Apokalypse eine gelebte Solidarität.

Ethik, Ethik, Ethik – Hans Jonas‘ ontologische Grundlegung der Ökologie ist der vielleicht erfolgreichste Versuch, jede Art der moralischen Indifferenz aus der Welt zu schaffen. Das Dasein selbst wird ein Wert und ist nicht mehr bloß die Bedingung, um Werte zu erlangen. Deswegen kann auch die Technik, die ein Können ins Dasein und zur Wirklichkeit bringt, nicht mehr ethisch neutral sein.

Die Rede von der Verantwortung verschweigt diese Verwertung allen Daseins in eine verrechenbare Vernunft. Sie überwindet die Technik nicht in ihrer wohlbegründeten Zügelung der Macht, sondern ist selbst technisch in ihrem Streben nach Macht über die Machtvollen. Sie erreicht diese Macht nur über Selbstverneinung, Selbstleugnung und Selbstbeschneidung des findigen Tieres ‚Mensch‘. Sie überredet das autonome Subjekt durch eine freiheitliche Wahl auf die eigene Freiheit zu verzichten.

Seine echte Freiheit erfährt der Mensch erst in der Befreiung, wenn er sich unabhängig macht von den Verlockungen der verantwortlichen Verwertung und einen Imperativ findet, der sich in eine Umwelt einlässt, die dem Gesetz des eigenen Selbst nicht den Gehorsam verweigert.


Psychedelische Depression


von

Irgendwie winde ich mich ja immer um dieses Thema herum, will dazu etwas sagen und weiß doch nicht so recht was.

Zunächst mal stellt sich doch die Frage, wieso der Staat überhaupt irgendwie mehr das Recht darauf hat, mir zu verbieten, Pilze zu essen oder Keta zu ziehen, als wie er das Recht darauf hat, mir schwulen oder analen Sex zu verbieten oder Frauen die Abtreibung. Mein Körper, meine Regeln, nicht wahr?

Dann ist da aber noch dieser andere Aspekt. Progressive Kreise haben ja entdeckt, dass LSD, Ketamin und Co. bessere Antidepressiva sind als all die sich langsam zu einem Spiegel aufbauenden Pharma-Horror-Chemikalien, die wohl zurecht bald auf dem Müllhaufen der Geschichte landen werden.

(Weiterlesen)


Die Freiheit der Kunst im Kreuzfeuer. Zwei gegenläufige Perspektiven


von

I. Gehasst, gehypt, ignoriert: Der schwere Stand von Kunst in der Gegenwart

Die Freiheit der Kunst ist ein Thema, das von größerer Aktualität kaum sein könnte. Es sind drei Verhaltensweisen, die sich derzeit mit Bezug auf den Kunstbetrieb – womit ich hier dasjenige, was gemeinhin als ‚Hochkultur‘ firmiert, meine – diagnostizieren lassen: 1) Kunst wird geradezu gehasst. Insbesondere von islamistischer Seite werden Kunstwerke wiederholt als Bedrohung der eigenen Identität angesehen und sie selbst oder gar ihre Urheber/innen physisch vernichtet. Aber auch bspw. bei den Protesten der französischen Gelbwesten oder von „Black Lives Matter“ wurden Kunstwerke wiederholt zum Objekt der Empörung und ihr Abriss gefordert oder sogar eigenmächtig vollzogen, Künstler/innen wird aus linker Perspektive oft moralische Verfehlung vorgeworfen und der Kunst generell unterstellt, ein von weißen Männern dominiertes Elitenprojekt zu sein. 2) Dagegen wird die Kunst und ihre Freiheit von ihren Verteidiger/innen geradezu zum Selbstzweck erklärt, zu einem der höchsten Werte einer freiheitlichen Gesellschaft, der durch jedwede politische Intervention verletzt würde. 3) Die allermeisten dürften der Kunst freilich mehr oder weniger gleichgültig gegenüberstehen, jedenfalls der Hochkultur. Es ist davon auszugehen, dass selbst leidenschaftlich geführte Debatten wie etwa diejenige um die Entfernung des Gedichts Avenidas von Eugen Gomringer von der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule im Jahr 2018, kaum mehr als 5 % der Bevölkerung wirklich interessieren. Kunst ist heute mehr denn je ein reines Elitenphänomen, eine Obsession kleiner abgeschotteter Zirkel. Und ist es vielleicht gerade ein Ausdruck der tiefgreifenden Krise der Kunst, dass man sich nicht einmal mehr darüber echauffiert, dass die, polemisch ausgedrückt, Selbstbespaßung von einigen wenigen Insider/innen alljährlich mit Millionen von Steuergeldern finanziert wird, sondern es schlicht gleichgültig-achselzuckend zur Kenntnis nimmt?

Im Folgenden möchte ich zwei jüngere Publikationen vorstellen, die jeweils einen äußerst entgegengesetzten Standpunkt einnehmen in dieser komplexen Gemengelage: In der Studie Kunst im Kreuzfeuer. documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und Populisten (Franz Steiner: Stuttgart 2020) nimmt der Kunsthistoriker Christian Saehrendt die zweite der hier genannten Perspektiven ein und plädiert für eine umfassende Freiheit der Kunst. Der Philosoph Lukas Meisner und der Künstler Eef Veldkamp polemisieren dagegen in ihrem gemeinsam verfassten Buch Capitalist Nihilism and the Murder of Art (Arnhem 2020) gegen den gegenwärtigen Kunstbetrieb und stehen damit eher der erstgenannten Perspektive nahe – wenn sie auch vollkommen andere Argumente anführen als die erwähnten Stimmen. Aus der Konfrontation von Saehrendts radikalliberaler und Meisner und Veldkamps neomarxistischer Perspektive möchte ich schlussendlich einige eigene Gedanken über die Krise der Kunst in der Gegenwart folgern. Saehrendts radikalliberaler Standpunkt scheint mir zwar einige reale Probleme rechter und identitätslinker1)Ich übernehme diesen Begriff von Saehrendt (s. u.). Kunstkritik zu benennen, doch letztendlich keine gute positive Alternative zu ihnen zu bieten – Veldkamp und Meisner unterziehen den gegenwärtigen Kunstbetrieb dagegen einer überzeugenderen Fundamentalkritik, die zeigt, dass wir eine radikale Rückbesinnung auf die soziale Funktion von Kunst brauchen und eine ihr entsprechende Kulturpolitik. Es braucht einen konkreten Begriff von ästhetischer Freiheit, der auch über die von identitätslinker Seite vorgebrachten Forderungen nach diversity und political correctness weit hinausgeht. (Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 Ich übernehme diesen Begriff von Saehrendt (s. u.).

Spendenkampagne der HARP zum Jahresabschlussfest


von

Zum „Jahresabschlussfest“, wie es – wenn auch nur kurzzeitig – im DDR-Sprech hieß, wenden wir Eisvögel uns mit einer wichtigen Bitte an unsere geschätzte Leserschaft: Unterstützt unsere zu 100 % ehrenamtliche Arbeit mit einer kleinen Spende. Auch der Betrieb dieses Blogs ist beispielsweise nicht kostenlos, sondern wir müssen für die Domain harp.tf und den Webspace jährlich zahlen. Jeder Euro hilft uns, weiterhin unabhängig zu bleiben und uns auch zu brisanten Themen wie beispielsweise der aktuellen Corona-Politik in polemischer Weise äußern zu können.

Den vollständigen Spendenaufruf mit allen Detailinformationen findet ihr hier.

Wir bedanken uns schon jetzt und wünschen einen halkyonischen Jahresausklang!


Ça suffit!


von

In ganz Europa rebellieren die Menschen gegen die schon längst als unverhältnismäßig erwiesenen Corona-Maßnahmen, allein in Leipzig versammelten sich etwa am vergangenen Samstag 45.000. Keineswegs rechte Krawallmacher, wie in den Leitmedien kolportiert, sondern zum Großteil ganz „normale“ Bürger, die sich um ihre Freiheit und ihre materielle Existenz sorgen – und das zu Recht.

Das Establishment verfällt derweil zunehmend in den Panikmodus. Klar: Wenn auch in Deutschland die Arbeitslosenzahlen steigen werden, wenn, wie befürchtet, mindestens ein Drittel aller Gastronomiebetriebe schließen muss, wenn dem Steuerzahler am Ende die Rechnung präsentiert werden wird für all die in Impfstoffe und die Rettungsmaßnahmen investierten Gelder, wenn zugleich immer klarer wird, dass es einige wenige Multimilliardäre gibt, die von der Corona-Krise massiv profitiert haben, während sie die Existenz von Millionen Menschen ruiniert hat – dann dürfte das den sozialen Frieden gravierend gefährden und dann dürften auch viele Menschen bereit sein, rechte Parteien zu wählen, wenn die die einzigen sind, die für eine klare Opposition zu dieser Politik stehen.

Die jüngste Verzweiflungstat: Ausgerechnet der Geburtstag des deutschen Nationalhelden Schiller wird genutzt, um Christian Drosten – gerade so, als würde es dem an Aufmerksamkeit mangeln – etwa eine halbe Stunde zu geben, um eine Art „Rede an die Nation“ zu halten. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man einem Mediziner diese Ehre zu Teil werden lässt. Offen gesagt würden mir auch wenige Germanisten einfallen, die auch nur in der Lage wären, eine inspirierende und interessante Rede zu Schiller zu halten. Von diesem von Philologismus und Postmodernismus verheerten Fach ist schon seit Jahren nichts Relevantes mehr zu erwarten – und die Unterwerfung unter den jeweiligen Zeitgeist hat zumal in der deutschen Germanistik ja ohnehin eine „gute“ Tradition.

Erwähnt werden muss zumal, dass Schiller in der Germanistik wie in der Geisteswissenschaft allgemein eigentlich kaum mehr beachtet wird. Dem reaktionären Zeitgeist entspricht mehr die Deutsche Romantik und auch Goethe erscheint anschlussfähiger als der wesentlich politischere „Moral-Trompeter von Säckingen“, wie Nietzsche ihn einmal spöttisch nannnte. Mir würde jedenfalls kein einziger regelrechter „Schiller-Forscher“ einfallen von größerer Prominenz – bin freilich auch meinerseits mitnichten ein Schiller-Experte, auch wenn ich dem Klassiker ein Kapitel in meinem Buch Bedeutende Bärte widme.

Wie dem auch sei: Das Literaturarchiv in Marbach jedenfalls ist verzweifelt genug und hat selbst ein so geringes Vertrauen in die eigene Disziplin und die Geisteswissenschaft, dass es es für eine gute Idee hielt, einen bislang weder durch eine besonders poetische Sprache noch sonst irgendeine Kompetenz in literarisch-philosophischen Angelegenheiten aufgefallenen Virologen eine halbe Stunde über einen der bedeutendensten deutschen Dichter und Denker faseln zu lassen. Und das deutsche Feuilleton bejubelt die erwartungsgemäß vorgetragenen Plattitüden, diese platte Propaganda für die aktuelle Regierungslinie, wie zu erwarten war, pflichtschuldig. – Man kann auch sagen: Die Gleichschaltung von guten Teilen des deutschen Kulturbetriebs ist damit endgültig vollzogen. (Weiterlesen)