Ein Gastbeitrag von Shahab Sanjari.
Schönheit zum Anfassen nah!
Schönheit und Kunstbegriff bei Schiller
Nackt ist die Schweizer Künstlerin Milo Moiré nicht, sie trägt anstatt eines Rockes eine Schachtel. Je nach Performance ist es manchmal auch ein ähnlich konstruiertes Oberteil. Die Schachtel ist undurchsichtig und außenseitig mit Spiegeln versehen; daher der Name der Performance: „Mirror Box“ . Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist eine Öffnung im Vorderbereich der Schachtel, aber selbst an dieser Stelle trennt ein kleiner schwarzer Vorhang die Außenwelt von dem Innenraum der Schachtel ab.
Die Künstlerin spaziert durch die Fußgängerzonen von Amsterdam, Düsseldorf oder London mit einer Stoppuhr und einem Desinfektionsspray. Sie oder ihr Assistent animieren mit einem Megafon Passanten dazu, durch die Öffnung im Vorderbereich der Schachtel zu greifen und ihren bloßen Schambereich zwölf Sekunden lang anzufassen, während in den Schachteln Videokameras den Vorgang aufnehmen.
Diejenigen, die sich animieren lassen, sind von verschiedenem Alter und Geschlecht. Sie befolgen ihre Anweisungen oft mit einem Lächeln oder einem vorsichtigen Blick. Moiré sorgt für viel Aufmerksamkeit: Menschen versammeln sich um sie herum, nehmen Fotos und Videos auf, um diese im Anschluss mit Freunden zu teilen. Manchmal filmt ein Assistent die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Diese Videos werden hinterher mit den Aufnahmen aus dem Innenraum der Schachtel (teilweise unkenntlich gemacht) zusammengeschnitten, sodass die Person und was ihre Hände in der Schachtel machen gleichzeitig zu sehen sind.
Nicht alle Passanten nehmen aktiv an dem Kunstwerk teil, viele beobachten nur. Manche verweilen länger und verarbeiten was sie sehen. Die Reaktionen variieren zwischen Respekt und Verachtung, Empörung und Indifferenz, Lust und Ekel. Manche beschäftigt die Frage nach der Moral und der Rechtmäßigkeit einer solchen Aktion und einige stoßen an die Grenzen ihrer eigenen sittlichen Akzeptanz. Moiré selbst sagt oft gar nichts, sie steht nur da, lächelt die Passanten an, dreht sich in einer langsamen, tanzähnlichen Art, nickt den Kopf einladend und wartet. Die Beobachterinnen und Beobachter verlassen die Szene teils mit Staunen, aber sicher mit dem Nachklang eines Eindrucks und einer Botschaft, die sich vielleicht erst später in ihren Gedanken herauskristallisieren wird.
Dass es sich hierbei um ein Kunstwerk handelt, will man kaum bezweifeln, aber zugegebenermaßen entspricht das Werk in seiner Gesamtheit und Zusammensetzung nicht unbedingt der traditionellen Vorstellung von einem solchen. Die Frage ist, was genau aus dieser Performance ein Kunstwerk macht?
Niemand geringeres als Friedrich Schiller hat eine Antwort darauf; der Großmeister der Lyrik und des Theaters, der sich vor zwei Jahrhunderten der Beschreibung der Schönheit, Ästhetik und Kunst und deren Einwirkungen auf die Erziehung, Politik und Gesellschaft gewidmet hat. Basierend auf dem Grundgedanken von Immanuel Kant ebnete er mit seinen Schriften den Weg für viele Philosoph/innen, die in den nachfolgenden Jahrzehnten auf dem Gebiet der Kunst und der ästhetischen Theorie arbeiteten. (Weiterlesen)