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K.’s Freispruch


von

Franz Kafka hätte, nicht zuletzt dank der aufopfernden Pflege Dora Diamants, die Tuberkulose gesund überstanden und gemeinsam mit ihr seinen Traum realisiert und sei nach Palästina ausgewandert. Dort leistete er dank der profunden Erfahrungen, die er während seiner Anstellung bei der „Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag“ gesammelt hatte, einen außerordentlichen Beitrag zum Aufbau einer Arbeiterunfallversicherung im jüdisch verwalteten Teil des Landes. Im Alter von 95 Jahren verstarb der hoch geehrte Greis lächelnd im Kreis seiner zahlreichen Töchter, Söhne, deren Ehepartnern, seiner Enkel und Urenkel, seiner Schwestern – die dank seines Engagements dem Naziterror heil entkommen konnten – und deren Männern und Kindern und deren Enkeln und Urenkeln. Er war für seine Ehrlichkeit, seine Zuverlässigkeit, seinen Fleiß, seine moralische Integrität, seinen Humor, seine Bildung und seine auf ihr gründende Lebensklugheit, ja: Weisheit, allgemein als Autorität, als Ratgeber in allen, selbst den heikelsten, Angelegenheit des Lebens, anerkannt. Sein Grab auf dem Friedhof von Tel Aviv wird heute noch gepflegt und in Ehre gehalten. Alle seine Manuskripte hatte er selbst vor seiner Abreise verbrannt und nichts davon übrig gelassen. Auf seine schriftstellerische Vergangenheit angesprochen, lächelte er nur stets und winkte ab: „Ach, ich habe in meinen jungen Jahren viel Unsinn gemacht.“ Und verliebt wie am ersten Tag richtete sich sein Blick auf Dora, die ihn um wenige Monate überlebte.


Nächtliches Lob der Vernunft


von

Ganze Systeme der höchsten, schärfsten, aufrichtigsten Vernunft aufwenden – nur um ein für alle Mal zu beweisen, dass die Vernunft trügt und alles Beweisen nichtig. Alle Philosophen eint eine ästhetische Vorliebe für das Geistige. Die „Irrationalisten“ sind wie Schneider, die die Schönheit des nackten Körpers als vollendete Form seiner Präsentation oder Lüstlinge, die die Askese verehren – als höchsten Gipfel der Erotik, ihre Werke nichts als dekadente Ausschweifungen, Ergüsse kranker, von Innen her an ihren Widersprüchen zu Grunde gehender Seelen. Doch gerade als Luxus und Perversion des Geistes sind sie der größte Triumph jenes Geistes, dem sie Leibesfeindlichkeit vorwerfen. Gegenüber den Traktaken der „rationalen“ Denker besitzen ihre Werke den Hautgout der Delikatesse, wirken jene fad und würzlos. Die geistigen Verächter des Geistes sind so seine wahren Märtyrer. Einmal mehr bestätigt sich, dass man den Geist bis zum Wahnsinn lieben muss, um ihn recht hassen zu können. Wie auch generell die tiefste und konsequenteste Form der Liebe der abgrundtiefe Hass ist. Gesundwerden heißt inkonsequent und langweilig werden – doch genauso inkonsequent und langweilig wären die Werke der „Irrationalisten“, wenn sie ihrer Lehre treu geblieben und dem Geist tatsächlich radikal jede Treue aufgekündigt hätten. Vielmehr: Sie wären gar nicht existent und ihre Autoren hätten womöglich ein furchtbar belangloses Leben geführt.


Zu Nietzsches reaktionären Stellen


von

Die Widersprüchlichkeit von Nietzsches Lob autoritärer Gesellschaften drückt sich nicht zuletzt in der simplen Tatsache aus, dass in solchen Gesellschaften den unterdrückten Klassen die Lektüre von Nietzsches Schriften strikt verboten sein müsste.


Ein frühes Fragment Nietzsches über das Gelehrtentum


von

Geschrieben 1873, als Nietzsche noch als Professor in Basel angestellt war.

Man könnte daraus einen Persönlichkeitstest für Akademiker und deren Nachwuchs machen: Welcher Typ von Gelehrte bist Du?

Allerdings würden die wenigsten das Ergebnis bei Facebook posten. (Das wären dann jedenfalls in Sachen Ehrlichkeit sehr konsequente Gelehrte, die Nietzsche wahrscheinlich schätzen würde.)

 

Der Gelehrte.

 

1. Eine gewisse Biederkeit, fast nur Ungelenkigkeit zur Verstellung, zu der einiger Witz gehört. Überall wo dialektische Advocatenmanier da ist, mag man auch in Betreff dieser Biederkeit Zweifel haben und auf seiner Hut sein. Es ist bequemer, in adiaphoris die Wahrheit zu sagen, es entspricht einer gewissen Trägheit. Gegen das copernikanische System z.B. machte gerade die Biederkeit Opposition, weil es dem Augenschein widersprach: Augenschein und Wahrheit fällt aber für die trägen Geister zusammen. Auch der Hass gegen die Philosophie bei den Gelehrten ist vor allem Hass gegen die langen Schlussketten und die Künstlichkeit der Beweise: die Bewunderung des Scharfsinns ist mit Furcht verbunden, und im Grunde hat jede Gelehrtengeneration ein Maass für den erlaubten Scharfsinn: was darüber hinaus ist, wird abgelehnt.

2. Scharfsichtigkeit in der Nähe mit grosser Myopie in die Ferne und in das Allgemeine. Das Gesichtsfeld sehr klein und die Augen werden sehr nahe heran gehalten. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem neuen, so rückt er den ganzen Sehapparat zu jenem Punkte: er zerlegt ein Bild, wie durch Anwendung eines Opernglases, in lauter Flecke. Sie alle sieht er nie verbunden, sondern berechnet nur ihren Zusammenhang: deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurtheilt z.B. eine Schrift, die er im Ganzen nicht zu überschauen vermag, nach einem Flecken aus dem Bereiche seiner Studien: er würde nach seiner Art zu sehen zuerst behaupten müssen, ein Oelgemälde sei ein wilder Haufen von Klexen.

3. Normalität seiner Motive, Nüchternheit, insofern zu allen Zeiten die gemeineren Naturen und somit die Masse von gleichen Motiven geleitet worden ist. Diese wittert er heraus. In einem Maulwurfsloch findet sich der Maulwurf am besten zurecht. Er ist behütet vor vielen künstlichen und abnormen Hypothesen und vor allem Ausschweifenden und gräbt, wenn er beharrlich ist, alle gemeinen Motive der Vergangenheit, durch seine eigne Gemeinheit, auf. Freilich ist er deshalb unfähig, das Seltne Grosse und Abnorme, d.h. das Wichtige und Wesentliche zu verstehen.

4. Gefühlsarmut befähigt sie selbst zu Vivisectionen. Er ahnt das Leiden nicht, das manche Erkenntniss mit sich führt und fürchtet sich deshalb nicht auf gefährlichstem Bereiche. Das Maulthier kennt den Schwindel nicht. Sie sind kalt und erscheinen deshalb leicht grausam, ohne es zu sein.

5. Geringe Selbstschätzung, ja Bescheidenheit. Sie fühlen, im dürftigsten Studienbezirk, nichts von Vergeudung, selbst nichts von Aufopferung, sie wissen es im tiefsten Grunde, dass sie kriechendes, nicht fliegendes Gethier sind. Darin sind sie oft rührend.

6. Treue gegen ihre Führer und Lehrer; diesen wollen sie helfen und sie wissen wohl, dass sie ihnen am besten mit der Wahrheit helfen. Gegen diese sind sie dankbar gestimmt, weil sie nur durch sie Einlass in die würdigen Hallen der Wissenschaft bekommen haben, in die sie, auf eignem Wege, nie hineingekommen wären. Wer in Deutschland ein Gebiet zu erschliessen weiss, auf dem die geringen Köpfe arbeiten können, ist ein berühmter Mann: so gross ist alsbald der Schwarm. Freilich ist Jedermann aus diesem Schwarm zugleich die Caricatur des Meisters, in irgend einem Sinne: selbst dessen Gebresten erscheinen karikirt, nämlich unmässig gross und übertrieben, an einem viel kleineren Individuum: während die Tugenden des Meisters an eben demselben Individuum proportional verkleinert erscheinen. In so fern ist es eine Missgestalt, und wirkt als solche, wenn sie es aus Treue ist, rührend-drollig.

7. Gewohnheitsmässiges Fortlaufen auf der Bahn, in die man ihn gestossen hat: Wahrheitssinn aus Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit in der einmal angenommenen Gewöhnung. Dies gilt besonders von dem Lernen, das Viele von ihrer Übung im Gymnasium her, wie im Bann einer unentrinnbaren Noth, betreiben. Solche Naturen sind Sammler, Commentatoren, Verfertiger von Indices, Herbarien etc. Der Fleiss derselben entsteht beinahe aus Trägheit, ihr Denken aus Gedankenlosigkeit.

8. Flucht vor der Langeweile. Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss. Seine Tröster sind die Bücher: d.h. er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art unterhalten und über den langen Tag hinweg — unterhalten. Besonders wählt er Bücher, bei denen sein Interesse, sein persönlicher Wille irgendwie aufgeregt wird, wo er ein wenig, durch Neigung oder Abneigung, in Affect gerathen kann: Schriften, wo er in Betracht kommt, oder sein Stand, seine politische oder ästhetische oder grammatische Meinung: hat er erst eine eigne Wissenschaft, so hat er auch ein Mittel, immer wieder interessirt zu werden.

9. Broderwerb. Der Wahrheit wird gedient, wenn sie im Stande ist, zu höheren Stellungen und Gehalten zu verhelfen, wenn durch sie Beförderung bei Höheren erreicht werden kann. Aber eben auch nur dieser Wahrheit wird gedient: weshalb sich eine Grenze für die erspriessliche Wahrheit und die unerspriessliche W<ahrheit> finden lässt. Letztere wirkt nicht zu Gunsten des Broderwerbs und, da sie Mühe und Zeit braucht und diese der ersteren wegnimmt, sogar gegen den Broderwerb. Ingenii largitor venter. Die „Borborygmen eines leidenden Magens“.

10. Achtung bei andern Gelehrten, Furcht vor ihrer Missachtung. Sie Alle überwachen sich eifersüchtig, damit die Wahrheit, an der so viel hängt, Ehre, Broderwerb, Beamtungen, wirklich auf den Namen des Erfinders lautet. Die Achtung vor der Wahrheit, die ein Andrer gefunden, wird gezollt, weil man sie wieder fordert, bei der, die man selbst findet. Die Unwahrheit wird schallend explodirt, damit sie nicht als Wahrheit gelte und Ehren und Titel an sich reisse, die nur der unwiderstehlichen Wahrheit gegönnt werden. Gelegentlich wird auch die wirkliche Wahrheit explodirt, damit wenigstens Platz für andre Wahrheiten, die Anerkennung wollen, geschafft werde. „Moralische Idiotismen, die man Schelmenstreiche nennt.“ „Ausnahmen vom allgemeinen Gewissen.“

11. Der Gelehrte aus Eitelkeit, schon eine seltnere Spielart. Er will etwas ganz für sich haben, wählt deshalb die Curiositäten als sein Forschungsfeld und freut sich, wenn er selbst als Curiosität neugierig betrachtet wird. Er begnügt sich meistens mit dieser Art Ehrbezeigung und gründet nicht seinen Lebensunterhalt auf einen solchen Wahrheitstrieb.

12. Der Gelehrte aus Spieltrieb. Seine Ergötzlichkeit ist, Knötchen zu suchen und sie zu lösen: wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, damit er das Gefühl des Spiels nicht verliert. Deshalb dringt er nicht gerade in die Tiefe, doch sieht er oft etwas, was der Brodgelehrte in seiner stumpfen und mühsam kriechenden Befangenheit des Auges nicht wahrnimmt: er hat doch wenigstens ein Vergnügen an der Wahrheit und ist Dilettant, bildet in sofern sogar den Gegensatz des unlustigen Brodgelehrten, der nur gezwungen und gleichsam unter dem Joche des bezahlten Berufs oder dem Peitschenschlag seiner Beförderungssucht seine Arbeit thut.

(Nachgelassene Fragmente 1873, 29, 13)


Zur aktuellen Relevanz einer der bekanntesten Thesen des Trierers Karl Marx


von

„Das haben schon andere vor uns gemacht und man sieht ja, was dabei heraus gekommen ist.“


Adornos schwarzer Koffer – Wie Adorno 1933/34 kurz vor dem Pakt mit dem Teufel stand


von

 

Der berüchtige schwarze Koffer, den Adorno Ute vor 50 Jahren anvertraute.

Der berüchtige schwarze Koffer, den Adorno Ute Bergenroth vor 50 Jahren anvertraute.

Die Entdeckung der „Schwarzen Hefte“ warf ein neues Licht auf die Debatte um Heideggers NS-Sympathien. Allerdings stand Heidegger seit jeher unter Verdacht, mehr als nur ein bloßer Mitläufer gewesen zu sein, der die letzten Jahres des „Tausendjährigen Reichs“ gar in inneren Emigration überwinterte. Eine weitaus größere Überraschung ist daher ein kürzlich aufgetauchter schwarzer Koffer, gefüllt mit verschiedensten Hinterlassenschaften Theodor W. Adornos, die eindeutig belegen, dass er nicht nur – wie bereits bekannt – 1933 plante, sich während der NS-Zeit in Deutschland einzuigeln und dafür bereit war, einige Zugeständnisse dem Regime gegenüber zu machen, sondern, dass er zu Beginn der Nazi-Herrschaft vorübergehend hellauf begeistert vom neuen Regime war und seine große Chance sah, ähnlich wie sein badischer Konkurrent seiner Karriere endlich entscheidenden Auftrieb zu verleihen.

 

(Weiterlesen)


„Leichte Sprache“ als effizienter Neusprech für den Hyperkapitalismus


von

„Fremd-wörter sind die Juden von der Sprache.“

„Es gab Leute.

Sie konnten nur falsche Sätze sagen.

Sie fanden jeden Satz von mir zu lang.

Sie schafften die deutsche Literatur ab.

Sie ersetzten die deutsche Literatur

durch die falsche Literatur von ihnen.“

 

(Theodor W. Adorno, Minima Moralia; meine Übersetzung)

 

Eine der interessantesten Randmeldungen des gestrigen Tages war, dass der Wahlzettel zur kommenden Bremer Bürgerschaftswahl in der „Leichten Sprache“ geschrieben ist. Es handelt sich um eine vereinfachte Variante des gewöhnlichen Deutschen, in der Nebensätze und Negationen vermieden werden, nach Möglichkeit kein Konjunktiv und kein Passiv verwendet wird, statt dem Genitiv „von“-Konstruktionen. Außerdem werden zusammengesetzte Substantive mit Bindestrich geschrieben und schwierige Begriffe, Ironie und Metaphern vermieden. Sinn der Sprache, die vom Netzwerk Leichte Sprache entwickelt wurde, ist die Inklusion von Lernbehinderten, Immigranten und Leuten, die einfach nicht gut lesen können. Ein wenig schockierend dabei der Hinweis, dass sogar letztere Gruppe die Hauptzielgruppe der Maßnahme ist: „40 Prozent der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland würden sich bei den Lese- und Rechtschreibkompetenzen auf Grundschulniveau bewegen.“ (Weserkurier)

Ironischerweise wird diese Maßnahme von genau dem deutschen Medium polemisch kritisiert, das die „Leichte Sprache“ schon seit Jahrzehnten umsetzt. Im Großen und Ganzen stieß sie jedoch auf eine große Zustimmung – kritisiert wurde ansonsten eigentlich nur, dass nicht noch viel mehr amtliche Schreiben in der „Leichten Sprache“ verfasst werden.

Das Interessante der Randmeldung bestand für mich vor allem darin, dass ich überhaupt auf die Entwicklung der „Leichten Sprache“ aufmerksam wurde. Über die Details dieser Entwicklung informieren zwei längere Artikel auf zeit.de von Burkhard Strassmann und Moritz Kohl (jeweils aus einer dem Projekt gegenüber sehr wohlwollenden Perspektive).

Auf faz.net findet sich wiederum ein längerer Essay von Konrad Paul Liessmann, der aus kulturkonservativer Richtung beklagt, dass der antiautoritäre Verzicht auf die zum Erlernen des Lesens und Schreiben nun einmal nötigen Disziplin zu einem allgemeinen Bildungs- und damit Kulturverfall führe. Die „Leichte Sprache“ dient dabei als Beispiel für diese Tendenz. Sein Fazit:

Dabei wäre alles ganz einfach: Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Dass der Erwerb dieser Techniken nicht jedem leichtfällt, ist kein Grund, das Betrachten von Bildern zu einem Akt des Lesens und das Ankreuzen von Wahlmöglichkeiten zu einem Akt des Schreibens hochzustilisieren. Besser wäre es, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen.

Das war auch mein erster Gedanke bei der Lektüre der Meldung: Mein Interesse weckte nicht so sehr die Existenz der „Leichten Sprache“ an sich, sondern der Umstand, dass es nach dieser wirklich einen breiten Bedarf gibt. Eigentlich sollte bei dieser Zahl ein Aufschrei durch das Land gehen: Etwa die Hälfte aller Erwachsenen sind überhaupt nicht in der Lage, angemessen an unserer Kultur zu partizipieren. Liessmann verweist zu Recht darauf, dass das Problem dabei erstmal nicht darin besteht, dass die deutsche Sprache zu kompliziert wäre, sondern dass diese offenbar zu schlecht vermittelt wird. So löblich die Bremer Maßnahme dabei sein mag, so sehr ist die doch ein Tropfen auf den heißen Stein und reine Symbolpolitik: Wer sich den neuen Wahlzettel einmal anschaut, sieht sofort, dass er nur minimale Unterschiede zum gewöhnlichen aufweist. Es mag sein, dass damit ein paar Leute mehr zum Wählengehen motiviert werden. Es stellt sich dann allerdings die Frage, auf welcher Grundlage sie ihre Wahlentscheidung dann treffen wollen, wenn sie nicht einmal die einfachsten Texte verstehen können. (Weiterlesen)


Offizieller Release des HARPblog


von

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Verehrtes Publikum!

Da es unserer Meinung nach noch lange nicht genügend Online-Magazine auf diesem Planeten gibt, haben wir von der HARP uns dazu entschlossen, zu dem allzu spärlichen Angebot eine weitere relevante Plattform hinzuzufügen. Oder, genauer gesagt: Eine Tiefform. Ihr Name ist schlicht „Blog der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie“, kurz: HARPblog. Ziel ist es, gemäß dem Programm der HARP Autor_innen verschiedenster Ausrichtung die Gelegenheit zu geben ihre Überlegungen zu Themen der Philosophie, Kunst und Gesellschaft der darauf begierig wartenden Weltöffentlichkeit kund zu tun. Die Textzentriertheit und Schlichtheit des Layouts ist dabei Programm: Im Zentrum soll ganz das geschriebene Wort stehen ohne alles Ornament. Allerdings konnten wir auch den Zeichner Zarathroxa gewinnen, (fast) täglich eine seiner Zeichnungen auf dem Blog zu publizieren, so dass die Seite auch grafische Erholung für all jene zu bieten hat, die die Gedankenfäden aus der Buchstabensuppe geduldig herausgefischt und lang genug durchgekaut haben gleich dem Eisvogel, der über die stürmische See des Nordens auf der Suche nach eiweißhaltiger Speise majestätisch-souverän dahingleitet wie ein großer Philosoph vom Schlage eines Thales über die Agora.

Das Halkyon als unser Wappentier hat denn auch, von demselben Zeichner (merci beaucoup), endlich bildliche Konkretisierung erfahren. Freilich kann er nicht allein existieren, sondern bedarf wie der Topf des Deckels (und vor allem: des köstlichen Inhalts!) der Begleitung: In unserem Falle eines schön fettigen Aals, der sich, anstatt – sicherlich zur Freude verwöhnter Gaumen – auf dem Teller zu landen, dem Halkyon buchstäblich um den Hals geworfen hat. Dies sollen künftig unsere Tiere sein.

Auch uns darf man sich gerne als Autor_in an den Hals werfen (wir nehmen Interessierte gerne in unseren erlauchten Kreis auf, solange sie nicht würgerisch werden wie die Troika in Griechenland) – oder uns auch verlinken und dafür seine_ihre Website, wenn erwünscht, mit unserem herrlichen Banner schmücken wie die Suppe mit dem Salz (oder vielleicht: den Fettaugen). Reicht dies nicht, stehen wir für einen Linktausch offen wie der Mund des_der staunenden Lesers_in, der_die Sie gleich sein werden, wenn Sie unseren Blog besuchen. Denn Staunen ist, wie man seit Alters her lehrt, der Beginn der Philosophie.

Eine Lektüre, die im Geiste nicht nur so wie ein fades Süppchen sättigt, sondern durchaus wie ein saftiger Aal oder ein Tofu-Burger wünscht,

die HARP

PS: Ein separates Banner haben wir auch für unsere Hauptwebsite erstellt. Auch dieses steht Ihnen gern zur Verlinkung zur Verfügung wie ein unanständiger Gedanke:

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Der Dorn Goethe


von

Der Dorn Goethe

 Johann oder der Versuch eines nicht-fragmentierten Lebens1)Erstveröffentlicht in der Winter-Ausgabe 2015 der AStA-Zeitung der Uni Frankfurt, S. 10 ff.

 

Überall regt sich Bildung und Streben, alles will sie mit Farben beleben.2)Die Zitate der Zwischenüberschriften entstammen Goethes Faust, sie sind teilweise in der Zeichensetzung und Orthografie leicht verändert.

Wem läuft es nicht kalt über den Rücken bei der Lektüre von Über allen Gipfeln …? Wer ist nicht ergriffen von dem Schicksal Gretchens und der Zerrissenheit Fausts? Wer fühlt nicht mit Werther? Wer empört sich nicht mit Prometheus? Das schönste Gedicht, das tiefste Drama, der beste Roman, die stärkste Ode. Goethe: everybody’s darling, Goethe: unbestritten ein ziemlich geiler Typ.

Wenn es ein verbindendes Element im deutschen Kulturleben der letzten 200 Jahre gibt, einen kleinsten gemeinsamer Nenner, der alle Strömungen von rechts bis links außen, von Marx bis Heidegger, von Hegel bis Nietzsche, von Honecker über Hitler bis Kohl vereint, dann ist es der Goethe-Kult. Wenn jemand „Ich bin Deutschland“ ohne zu lügen sagen dürfte, so meint man, dann müsste es der Weimarer Geheimrat sein. So nimmt es wenig Wunder, dass er von der Stadt Frankfurt lieber noch als der Kauz Schopenhauer, übrigens seinerseits mit Goethe befreundet, oder gar die Frankfurter Schule (außer denen und dem Struwwelpeter gibt es schließlich wenig, was Frankfurt an ‚großen Söhnen und Töchtern der Stadt‘ aufbieten könnte in kultureller Hinsicht; Hegel arbeitete hier immerhin einige Jahre als Hauslehrer – aber auch der war ja Goethe-Fan), gerne als großes kulturelles Aushängeschild herangezogen wird, die Universität sogar nach ihm benannte.

 

Lass mich nur schnell noch in den Spiegel schauen!

 

Doch es verhält sich hier so wie mit dem Joyce-Kult in Dublin und dem Dante-Kult in Florenz: So ganz will die Rechnung nicht aufgehen, schließlich verlebte Goethe doch gerade mal seine Jugend in der Stadt, die meisten seiner wichtigen Werke entstanden andernorts. Immerhin äußert er sich in seiner Autobiographie im Gegensatz zu erstgenannten recht versöhnlich über seine „Vaterstadt“.

Selbst wenn Goethe jedoch sein ganzes Leben in Frankfurt am Main verbracht hätte und sein Werk voller Lobeshymen auf die Stadt wäre: Es stellt sich auch inhaltlich die Frage nach der realen Bedeutung eines Goethe-Bezugs. Wieviel Goethe ist drin, wo Goethe drauf steht? Nimmt man Goethe einfach ganz opportunistisch als Emblem, weil alle Goethe irgendwie gut finden? Ist vielleicht Goethe gar selbst der Seichtigkeit und Unbestimmtheit zu verdächtigen? Oder bedient man sich Goethe zu Unrecht?

Ich will mich bei der Beantwortung dieser Frage auf unsere alma mater beschränken: Kann man, 100 Jahre nach ihrer Gründung, davon sprechen, dass sie dem Erbe des deutschen Klassikers gerecht wird? Schmückt sie sich mit falschen Federn oder sind es die echten Lorbeerzweige des Genius?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man offensichtlich zunächst die Frage klären: Wofür steht Goethe denn nun eigentlich außer für Deutschland? (Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 Erstveröffentlicht in der Winter-Ausgabe 2015 der AStA-Zeitung der Uni Frankfurt, S. 10 ff.
2 Die Zitate der Zwischenüberschriften entstammen Goethes Faust, sie sind teilweise in der Zeichensetzung und Orthografie leicht verändert.

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von

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