Von der großen Mutter zum kleinen Krieger
Ein Versuch über die Frühgeschichte der abendländischen Kultur1)Erstveröffentlicht auf dem Blog Café Noir
Nach Hegels Kunstphilosophie ist als Höhepunkt der abendländischen Kunst, und damit der Kunst überhaupt, die klassische antike Statue zu betrachten. Er begründet das damit, dass in der antiken Statue das höchste Ideal seinen adäquaten sinnlichen Ausdruck findet: die menschliche Gestalt, der schöne Körper der Gottheit.
Doch wie kam es historisch zur Entwicklung dieser Kunstform? Einen exzellenten Überblick über die alte griechische Plastik bietet etwa das Archäologische Nationalmuseum in Athen mit seiner umfangreichen Sammlung, die sich von den frühesten steinzeitlichen Anfängen der griechischen Kultur bis in die Spätantike erstreckt.
Man kann Hegels Gedanken vielleicht ohne seine Metaphysik einzukaufen so reformulieren, dass die Menschen zu allen Zeiten das als bevorzugten Gegenstand ihrer künstlerischen Bemühungen wählten, was ihnen als höchster sinnlicher Ausdruck ihrer je eigenen Wahrheit erschien. Das kann auch ein abstraktes Symbol sein, Tiergestalten und dergleichen. Wie sie diesen Gegenstand formal gestalteten zeigt auf, in welchem Verhältnis zu ihm standen. Dies gilt umso mehr für Zeiten, in denen Kunst und Religion noch kaum geschieden, sondern eins waren. Das Kunstwerk soll bei den Griechen ja die Gottheit selbst darstellen und war als solches Gegenstand der kultischen Verehrung wie der ästhetischen Betrachtung gleichermaßen. Die Kunst wird so unmittelbar zum Schlüssel zum Verständnis einer gesamten Lebenswelt.
In den ältesten frühsteinzeitlichen Artefakten (ich setze hier voraus, dass die im Archäologischen Nationalmuseum gezeigten Funde in der Tat repräsentativ sind) fällt auf, dass bereits hier die Plastik offenbar eine führende Rolle spielte. Die meisten Steinfiguren zeigen dabei ein einziges Motiv: den weiblichen Körper und zwar mit überbetontem Bauch und überbetonten Brüsten. Nimmt man Hegels These ernst folgt daraus, dass die damaligen Menschen den mütterlichen, den gebärenden Körper als Ausdruck ihrer höchsten Wahrheit sahen.
Diese eigentümliche Fixierung auf den Körper der Mutter in späteren Perioden verschwindet, sei es in der in ihrer abstrakten Schönheit so unglaublich faszinierenden Kunst der Kykladen (die für viele Künstler der klassischen Moderne eine wichtige Inspirationsquelle war), sei es in der bronzezeitlichen Kunst der Mykener, und dann erst recht in der archaischen, klassischen und allen späteren Perioden völlig. Bereits auf der elementaren Ebene der Gegenstandswahl ist hier ein völliger einschneidender Paradigmenwechsel zu beobachten, der sich nur durch eine fundamentale Veränderung der Weltsicht erklären lässt.
Sowohl bei den Mykenern als auch bei den ihnen nachfolgenden „wirklichen“ Griechen ist der prädestinierte Gegenstand ebenso eindeutig der Körper des starken Mannes, der muskulöse Körper des Kriegers. Wenn Frauen dargestellt werden, dann nicht mehr als schwangere (nur in einigen wenigen Darstellungen von Göttinnen wird der Mütterlichkeitsaspekt noch durch einen leicht gewölbten Bauch hervorgehoben), sondern gesunde Begleiterinnen des starken Mannes, je nach Periode in züchtigem Gewand oder auch nackt (nackt natürlich insbesondere Aphrodite, die Liebesgöttin).
Während also in der Steinzeit nahezu ausschließlich der Körper der Mutter ästhetischer Darstellung und damit kultischer Verehrung war, ist es in der späteren Periode der Körper des Kriegers und der ihm ähnlichen und ihn begleitenden jungen Frau. Insbesondere im klassischen Athen fällt beides in der Figur der Athene zusammen: Der Tempel jungfräulichen Göttin ist das höchste Heiligtum der Stadt geweiht, sie ist ihre Namensgeberin und Schutzpatronin. (Dies übrigens nicht nur in Athen, sondern auch in vielen anderen griechischen Städten, man denke etwa an den bedeutenden Athene-Tempel auf der Akropolis von Lindos.) Sie ist Kriegerin und schöne Frau zugleich, alle Aspekte der Mütterlichkeit sind in ihr getilgt. (Weiterlesen)
Fußnoten
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