I. Gehasst, gehypt, ignoriert: Der schwere Stand von Kunst in der Gegenwart
Die Freiheit der Kunst ist ein Thema, das von größerer Aktualität kaum sein könnte. Es sind drei Verhaltensweisen, die sich derzeit mit Bezug auf den Kunstbetrieb – womit ich hier dasjenige, was gemeinhin als ‚Hochkultur‘ firmiert, meine – diagnostizieren lassen: 1) Kunst wird geradezu gehasst. Insbesondere von islamistischer Seite werden Kunstwerke wiederholt als Bedrohung der eigenen Identität angesehen und sie selbst oder gar ihre Urheber/innen physisch vernichtet. Aber auch bspw. bei den Protesten der französischen Gelbwesten oder von „Black Lives Matter“ wurden Kunstwerke wiederholt zum Objekt der Empörung und ihr Abriss gefordert oder sogar eigenmächtig vollzogen, Künstler/innen wird aus linker Perspektive oft moralische Verfehlung vorgeworfen und der Kunst generell unterstellt, ein von weißen Männern dominiertes Elitenprojekt zu sein. 2) Dagegen wird die Kunst und ihre Freiheit von ihren Verteidiger/innen geradezu zum Selbstzweck erklärt, zu einem der höchsten Werte einer freiheitlichen Gesellschaft, der durch jedwede politische Intervention verletzt würde. 3) Die allermeisten dürften der Kunst freilich mehr oder weniger gleichgültig gegenüberstehen, jedenfalls der Hochkultur. Es ist davon auszugehen, dass selbst leidenschaftlich geführte Debatten wie etwa diejenige um die Entfernung des Gedichts Avenidas von Eugen Gomringer von der Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule im Jahr 2018, kaum mehr als 5 % der Bevölkerung wirklich interessieren. Kunst ist heute mehr denn je ein reines Elitenphänomen, eine Obsession kleiner abgeschotteter Zirkel. Und ist es vielleicht gerade ein Ausdruck der tiefgreifenden Krise der Kunst, dass man sich nicht einmal mehr darüber echauffiert, dass die, polemisch ausgedrückt, Selbstbespaßung von einigen wenigen Insider/innen alljährlich mit Millionen von Steuergeldern finanziert wird, sondern es schlicht gleichgültig-achselzuckend zur Kenntnis nimmt?
Im Folgenden möchte ich zwei jüngere Publikationen vorstellen, die jeweils einen äußerst entgegengesetzten Standpunkt einnehmen in dieser komplexen Gemengelage: In der Studie Kunst im Kreuzfeuer. documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und PopulisteLibern (Franz Steiner: Stuttgart 2020) nimmt der Kunsthistoriker Christian Saehrendt die zweite der hier genannten Perspektiven ein und plädiert für eine umfassende Freiheit der Kunst. Der Philosoph Lukas Meisner und der Künstler Eef Veldkamp polemisieren dagegen in ihrem gemeinsam verfassten Buch Capitalist Nihilism and the Murder of Art (Arnhem 2020) gegen den gegenwärtigen Kunstbetrieb und stehen damit eher der erstgenannten Perspektive nahe – wenn sie auch vollkommen andere Argumente anführen als die erwähnten Stimmen. Aus der Konfrontation von Saehrendts radikalliberaler und Meisner und Veldkamps neomarxistischer Perspektive möchte ich schlussendlich einige eigene Gedanken über die Krise der Kunst in der Gegenwart folgern. Saehrendts radikalliberaler Standpunkt scheint mir zwar einige reale Probleme rechter und identitätslinker1)Ich übernehme diesen Begriff von Saehrendt (s. u.). Kunstkritik zu benennen, doch letztendlich keine gute positive Alternative zu ihnen zu bieten – Veldkamp und Meisner unterziehen den gegenwärtigen Kunstbetrieb dagegen einer überzeugenderen Fundamentalkritik, die zeigt, dass wir eine radikale Rückbesinnung auf die soziale Funktion von Kunst brauchen und eine ihr entsprechende Kulturpolitik. Es braucht einen konkreten Begriff von ästhetischer Freiheit, der auch über die von identitätslinker Seite vorgebrachten Forderungen nach diversity und political correctness weit hinausgeht. (Weiterlesen)
Fußnoten
↑1 | Ich übernehme diesen Begriff von Saehrendt (s. u.). |
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