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Das „Selbstbestimmungsgesetz“ – Fortschritt oder Rückschritt?


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Das „Selbstbestimmungsgesetz“ – Fortschritt oder Rückschritt?

Versuch einer philosophischen Einordnung

Von Paul-Gerhardt Stephan

I. Eine umkämpfte Reform

Das im allgemeinen Diskurs oft einfach kurz als „Selbstbestimmungsgesetz“ bezeichnete „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften“ – im Folgenden als SBG bezeichnet1)Aus dem Selbstbestimmungsgesetz wird im Folgenden unter der Sigle „SBG“ zitiert. Bei Verweisen auf einzelne Paragraphen des eigentlichen Gesetzestexts wird nur die Paragraphennummer angegeben, bei solchen auf die Erläuterungen zum Gesetz auf die Seitenzahl des vom Kabinett beschlossenen Entwurfs. Bereits beschlossene Gesetze werden im Literaturverzeichnis nicht eigens nachgewiesen und unter Nennung des üblichen Kürzels und der entsprechenden Paragraphennummern zitiert. – wurde am 23. August 2023 vom Bundeskabinett beschlossen. Es soll, nachdem es den Bundestag passiert hat, zum 1. November 2024 in Kraft treten.2)Dieser Artikel wurde im November 2023 geschrieben und gibt den damaligen Stand des legislativen Prozesses wieder. (Es hat sich seitdem jedoch fast nichts getan.)

Fundstück im Leipziger Osten.

Diesem Gesetz ging eine jahrelange Debatte um das 1980 beschlossene und derzeit noch gültige, zuletzt 2017 aktualisierte, Transsexuellengesetz (TSG) voraus, das gewisse Bedingungen an eine Änderung des Geschlechtseintrags knüpft. Diese sind insbesondere die Zustimmung eines Gerichts, das seine Entscheidung auf der Grundlage von zwei voneinander unabhängigen Sachverständigengutachten zu treffen hat. Diese Gutachten müssen vor allem bestätigen, dass die antragstellende Person „sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet und seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben“  (TSG, § 1, Abs. 1) und dass  „mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“ (ebd.). An diesem Verfahren wird kritisiert, dass es zu umständlich sei – etwa dadurch, dass die Antragsteller3)Ich gebrauche in diesem Artikel bewusst das generische Maskulinum, da er sich (1) kritisch mit der der ‚Gendersprache‘ zugrundliegenden Ideologie auseinandersetzt und da es in ihm (2) ja wiederholt um Menschen geht, die sich als ‚nicht-binär‘ verorten und die durch traditionelle Ausdrucksweise eleganter mitadressiert werden als durch umständliche Wortunterbrechungen, die noch dazu im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs immer auch das Bekenntnis zu jener problematischen Ideologie mit einschließen. Zu guter Letzt möchte ich (3), dass dieser Artikel sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern des Gesetzes möglichst ohne unnötige Vorbehalte gelesen wird – die traditionelle Schreibweise erscheint mir in dieser Hinsicht gerade die ‚inklusivste‘ zu sein. die Verfahrenskosten i.d.R. selbst tragen müssen – und zu sehr in ihre Privatsphäre eingreife, da die Gutachter zu intimen Fragen der Sexualität und der Entwicklung der Wahrnehmung des eigenen Geschlechts Stellung nehmen müssten. Das SBG sieht nun so gut wie keine Hürden zur Änderung des Geschlechtseintrag mehr vor. Selbst in Deutschland lebende Staatsbürger anderer Länder mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus sollen, sofern sie volljährig und voll geschäftsfähig sind, einfach zum Standesamt gehen und den Geschlechtseintrag inklusive des Vornamens durch eine bloße Willenserklärung ändern lassen können. Man muss diesen Termin nur mindestens drei Monate vorher beim Standesamt anmelden und es gilt danach eine einjährige Sperrfrist, ehe man eine erneute Eintragsänderung vornehmen kann. Ebenso ist es laut Art. 1, § 2, Abs. 4 in bestimmten Fällen nicht möglich, den Geschlechtseintrag ändern zu lassen, wenn ein baldiges Erlöschen des Aufenthaltstitels bevorsteht, um es zu erschweren, dadurch eine drohende Abschiebung zu verhindern. Die einzige weitere signifikante Einschränkungen liegen Art. 1, § 9 zufolge „im Spannungs- und Verteidigungsfall“ vor. Unmittelbar davor und währenddessen muss man juristisch gesehen ein Mann bleiben, „soweit es den Dienst mit der Waffe auf Grundlage des Artikels 12a des Grundgesetzes und hierauf beruhender Gesetze betrifft“. Die Eltern können Art. 1, § 3, Abs. 2 zufolge ohne weitere Prüfung durch Dritte für ihr Kind einen neuen Geschlechtseintrag beantragen.

Die Debatte zu diesem Gesetz – und ähnlichen Bestrebungen in anderen Ländern – ist äußerst hitzig. Während die einen eine staatliche Anerkennung von Transgeschlechtlichkeit grundsätzlich ablehnen, halten andere selbst noch die Bestimmungen dieses Gesetzes für zu rigide und würden sich eine noch weitgehendere Liberalisierung wünschen. Dabei ist festzuhalten, dass die Kritiker solcher Gesetze sich nicht unbedingt als politisch rechts verorten. Im Gegenteil gibt es eine lautstarke linke Kritik – international prominent vertreten etwa von der Autorin Joanne K. Rowling und in Deutschland der Zeitschrift Emma –, die in ihnen eine Aushöhlung feministischer Errungenschaften betrachtet und insbesondere eine Gefährdung weiblicher Schutzräume. Selbst solche Kritiker werden von Befürwortern dieser Gesetze massiv angegriffen und als „transfeindlich“ bezeichnet. Rowling etwa gilt in manchen Kreisen als reaktionäre persona non grata. (Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 Aus dem Selbstbestimmungsgesetz wird im Folgenden unter der Sigle „SBG“ zitiert. Bei Verweisen auf einzelne Paragraphen des eigentlichen Gesetzestexts wird nur die Paragraphennummer angegeben, bei solchen auf die Erläuterungen zum Gesetz auf die Seitenzahl des vom Kabinett beschlossenen Entwurfs. Bereits beschlossene Gesetze werden im Literaturverzeichnis nicht eigens nachgewiesen und unter Nennung des üblichen Kürzels und der entsprechenden Paragraphennummern zitiert.
2 Dieser Artikel wurde im November 2023 geschrieben und gibt den damaligen Stand des legislativen Prozesses wieder. (Es hat sich seitdem jedoch fast nichts getan.)
3 Ich gebrauche in diesem Artikel bewusst das generische Maskulinum, da er sich (1) kritisch mit der der ‚Gendersprache‘ zugrundliegenden Ideologie auseinandersetzt und da es in ihm (2) ja wiederholt um Menschen geht, die sich als ‚nicht-binär‘ verorten und die durch traditionelle Ausdrucksweise eleganter mitadressiert werden als durch umständliche Wortunterbrechungen, die noch dazu im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs immer auch das Bekenntnis zu jener problematischen Ideologie mit einschließen. Zu guter Letzt möchte ich (3), dass dieser Artikel sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern des Gesetzes möglichst ohne unnötige Vorbehalte gelesen wird – die traditionelle Schreibweise erscheint mir in dieser Hinsicht gerade die ‚inklusivste‘ zu sein.

Spießer – Philister – Kleinbürger. Rezensionsnotiz zu „Das Spießerverdikt“ von Sonja Engel & Dominik Schrage


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Spießer – Philister – Kleinbürger

Rezensionsnotiz zu Das Spießerverdikt von Sonja Engel & Dominik Schrage

Der Inbegriff des Spießers: „Der Sonntagsspaziergang“ von Carl Spitzweg (1841).

 

Niemand möchte „spießig“ sein. Das Buch Das Spießerverdikt. Invektiven gegen die Mittelmäßigkeit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Bielefeld 2022), verfasst von Sonja Engel und Dominik Schrage, geht der Frage nach, woher dieser seltsame Begriff des „Spießer“ – und seine Verwandten wie derjenige der mittlerweile aus der Mode gekommene des „Philisters“ und derjenige des „Kleinbürgers“ – eigentlich kommt und welche Funktion er im Diskurs des 19. Jahrhunderts spielte. (Weiterlesen)


Auf dem D-Zug ins „Herz der Finsternis“ – Kleine Rezensionsnotiz zu „Einzeln Sein“ von Rüdiger Safranski


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Diese Besprechung bezieht sich auf die 2021 bei Hanser erschienene Erstauflage des Buches, das jüngst bei S. Fischer neu aufgelegt wurde.

Auf dem D-Zug ins „Herz der Finsternis“

Kleine Rezensionsnotiz zu Einzeln Sein von Rüdiger Safranski

 

Es zeugt von dem guten Gespür des Verfassers für die Tendenzen des Zeitgeistes, dass der Bestseller-Autor Rüdiger Safranski seine neue Monographie ausgerechnet jetzt veröffentlichte. Was es bedeutet, einzeln zu sein, erfuhren die meisten von uns in den letzten beiden Jahren notgedrungen. Safranski liefert uns in seinem Buch Anhaltspunkte, um dieses Schicksal ganz nietzscheanisch in etwas umzumünzen, dass wir nicht nur als äußere Notwendigkeit hinnehmen, sondern auch bejahen können.

Er unternimmt dies, indem er den Leser mit auf eine Zeitreise quer durch die Geschichte der Philosophie des Einzeln-Seins nimmt, die ihn von der Renaissance bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts führt. Weder eine „durchgehende Geschichte“ (S. 10) möchte Safranski, trotz der gewählten chronologischen Reihenfolge, dabei erzählen noch eine „umfassende Theorie über das Einzeln-Sein“ (ebd.) entwickeln, sondern schlaglichtartig „Einzelfälle, die jeweils zu denken geben“ (ebd.) beleuchten. (Weiterlesen)


Sprache des Krieges – Teil 2


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Sprache des Krieges

Teil II: Lexik

Link zu Teil 1.

„Am Anfang war das Wort; und das Wort war bei Gott; und Gott war das Wort.“ So rief der christliche Gott dazu auf, das Leben durch Liebe zu kennen – so begann die Konstruktivität. Die Destruktivität des Diabolischen drückt sich auch in Worten aus, in Worten menschlicher Lügen und Manipulationen. Die letzte dieser Äußerungen lautete: „Wir starten eine Spezialoperation zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine.“ Dieses Oppositionsmuster ist keineswegs ein Appell an die Gefühle von Gläubigen oder Atheisten, sondern eine gewisse Betonung dessen, wie die Bedeutungen von Wörtern, die auf Menschlichkeit und Konstruktivität abzielen, heute verdreht werden und etwas ganz anderes bedeuten können. Ukrainerinnen und Ukrainer erleben die Bedeutung dieser Worte heute. (Weiterlesen)


Sprache des Krieges


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Sprache des Krieges

Teil I: Phonetik

 

Ein Laut, ein Anlaut ist der Anfang der Sprache, ihre Grundlage und Verkörperung zugleich. Dies wird durch die Theorie der Linguistik bestimmt. Ein Anfang und eine Verkörperung der Phonetik des Krieges ist die Sirene. Der Krieg beginnt mit einem Sirenen-Anlaut und geht damit weiter. Die Sirene ist der Auftakt zum Konzert des Todes. Die Ukrainerinnen und Ukrainer erleben diese Tatsache gegenwärtig.

Der Krieg hat wohlgemerkt viele Stimmen: das Heulen von Militärflugzeugen, das Pfeifen von Raketen, das Dröhnen von Panzern. Schlimmer als dieses Trio ist nur das Timbre der Explosion: allumfassend, überwältigend, schicksalhaft. All dies sind Konsonanten der Sprache des Krieges. Noch beängstigender hingegen sind ihre Vokale: menschliches Weinen, Trauerschreie aus Verlust und die Unfähigkeit, sich zu wehren, aus Verzweiflung und Angst. Die Sirene, begleitet von einem Artillerieorchester oder anderen Konsonanten- und Vokalklängen, soll wie eine Pawlow-Glühbirne funktionieren: Es geht darum, einen Reflex von „Angst“ und „Gehorsam“ zu erzeugen. Auf diese Weise dämpft und erstickt die Stimme des Krieges häppchenweise die rationalen Fähigkeiten eines Menschen! (Weiterlesen)


Verteidigung der Romantik des Hoffens


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Ein Gastbeitrag des Leipziger Philosophen Jonas Pohler. Er hatte ihn zu unserem letzten Eos-Preis eingereicht, der der Frage galt „Was müssen wir hoffen?“. Da es sich jedoch um eine Aphorismensammlung und keinen regelrechten Essay handelt, haben wir uns dafür entschieden, diesen Text hier zu publizieren und nicht auszuzeichen. Wir wünschen unseren Lesern einen hoffnungsvollen Start ins neue Jahr und eine inspirierende Lektüre.

 

Verteidigung der Romantik des Hoffens

I

Als ich vor Kurzem auf einer Parkbank saß – es war ein Sommertag, der mehr einem Herbsttag glich – und darüber nachdachte, wie ich und die Menschen um mich herum sich in der Großstadt bewegen, kam mir eine merkwürdige Erkenntnis. Es ist eine nicht weiter überraschende und altbekannte: Nämlich, dass wir die Sklaven von Gewohnheiten sind. Dass ich und so viele andere immer dieselben Straßen entlang gehen, dieselben Orte besuchen, uns das Gleiche aussuchen, machen und planen. Auch wenn man mir wohl antworten wird: „Erzähl uns doch etwas Neues!“, so ist mir doch, dass wenn einer das Geheimnis der Gewohnheiten entlüften würde – und ich meine wirklich ihren Wahrheiten sich annähere, ihm würde vieles aufgehen: über den Menschen, über die Geschichte, vielleicht sogar über das Leben als solches.

Ich kam an diesem Nachmittag auf der Parkbank zu einem poetischen Schluss. Obwohl es immer die ungenausten und abstraktesten sind; sind es auch die wahrsten und menschlichsten:

Wir sind doch wie Pflanzen, auch wenn wir uns bewegen.

Wir wollen immer da sein – wie aus Gewohnheit und heimlichem Trieb –, wo Licht und frisches Wasser uns versprochen sind. Wie die Hand das Feuer fürchtet, ruht diese Hundeseele auf der Parkbank aus sich selbst, was heißt, Schmerz ist Schmerz und die Welt, die ist, ist gut. Ihr sind die Sinne untrüglich und unabscheulich – tut es weh, fährt sie zurück, muss sie fressen, frisst sie – das Träumen muss sie nicht erzwingen.

Dies Poetische träumt, das Selbst träumt. Es träumt unbeschreibliche Romane, deren Götter wir sind und Zeichner. Selbst Figuren, die noch gar nichts davon ahnen. Man lacht darüber. Man lässt es dabei bewenden. Es ist wie in eine Waschmaschine zu starren: einen sinnlosen Vortex, doch unheimlich befriedigend.

Danach hatte ich einen Termin bei meiner Therapeutin. Es gibt wohl nur ein zweites Geheimnis, das noch entscheidender ist: das Geheimnis der Angst.

***

Gefragt wurde aber: Was müssen wir hoffen? – Mir liegt nichts ferner, als auf eine solche Frage akademisch zu antworten, weil es in erste Linie keine akademische Frage ist. Auch deshalb ist sie so wichtig. An dieser Stelle gibt es kein ‚Wenn und Aber‘.

So viel sei gesagt: Die Lösung dieser Frage ist mit dem zweiten Geheimnis, dem der Angst, verbunden. Man muss erwähnen, wem das Geheimnis nicht selbst eines ist, dem sind viele Fragen zu stellen. Zuerst die, ob die Kategorie ‚Geheimnis‘ aus seinem Denken schon verbannt ist. Das ist nicht nur zu bemitleiden, sondern philisterhaft. Wer schon glaubt, dass es keine Geheimnisse gäbe, den darf die Realität Lügen strafen oder wie Dostojewski in »Schuld und Sühne« schreibt:

Die Natur wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur hat keinen Platz! […] Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozess, – sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, – sie ist dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht empören. […] Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik will drei Fälle voraussetzen und es gibt ihrer eine Million! Soll man die ganze Millionen Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die Hauptsache – man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis findet auf zwei Druckbogen Platz! 1)Aus dem Russ. übertr. v. M. Feofanoff. Frechen: Komet 2000. S. 212 (Weiterlesen)

Fußnoten

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1 Aus dem Russ. übertr. v. M. Feofanoff. Frechen: Komet 2000. S. 212

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Wir wünschen allen unseren Lesern eine besinnliche Festzeit.

Ihre Eisvögel

(Foto: Timo Klostermeier | CC-BY 2.0)

 


Im „Geisterkrieg“. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Weltgericht“ (Hegel)


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Im „Geisterkrieg“

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Weltgericht“ (Hegel)1)Dieser Artikel, der im März 2022 aus Anlass dieser Diskussionsrunde zum Thema entstand, ist angeregt von meinem intellektuellen Austausch mit meinem ukrainischen Kollegen Vitalii Mudrakov, mit dem zusammen ich kurz vor dem Krieg den Aufsatz Eine Revolution der Selbstüberwindung. Friedrich Nietzsche und die ukrainische Transformation verfasste, der in der kommenden Ausgabe der Nietzscheforschung erscheinen soll. In diesem Text argumentieren wir, dass es sich bei der in Deutschland nach wie vor, die Propaganda des Kremls aufgreifend, als „Putsch“ diffamierte „Orangene Revolution“ (2004/5) und den Maidan-Aufstand (2013/14) um echte revolutionäre Ereignisse handelte, die mit einer „Umwertung der Werte“ im Sinne Nietzsches führten: Weg von den Werten der „russischen Welt“, d. h. gelebter Korruption und Knechtschaft, hin zu gelebter Freiheit und Würde. Wie sich im Folgen zeigen wird, leugne ich nicht, dass es faschistische Tendenzen auch innerhalb der ukrainischen Bevölkerung gibt und dass dort der Westen oftmals sehr naiv betrachtet wird. Doch dies scheint mir nicht die herrschende Tendenz dieser Bewegung zu sein, die heute im Freiheitskampf gegen die russische Okkupation kulminiert.

 

I. Einleitende Gespensterkunde

Beim furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine, der sich zugleich immer mehr als rücksichtlos geführter Vernichtungskrieg gegen das ukrainische Volk entpuppt, haben wir es in einem doppelten Sinne mit einem „Geisterkrieg“2)Ich übernehme diese Metapher von Nietzsche, der in Ecce homo schreibt: „Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik“ (Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Studienausgabe Bd. 6. München 1999, S. 255–374; 366; Schicksal 1). zu tun. Zum einen bewahrheitet sich in ihm erneut Guy Debords These von der „Gesellschaft des Spektakels“ und Baudrillards vom „Simulacrum“. Ich möchte nicht behaupten, dass dieser Krieg nicht stattfinden würde und habe ja bereits eingangs deutlich gemacht, um was für einen Krieg es sich handelt. Dennoch kann der geradezu surreale Charakter dieses Krieges kaum geleugnet werden. Niemand sah ihn kommen, niemand weiß, was dort in der fernen Ukraine eigentlich gerade vor sich geht und niemand vermag zu prognostizieren, wie es jetzt weitergeht. Es ist ein Krieg der Propagandaagenturen, die alles versuchen, um den Gegner besonders monströs, die eigenen Opfer möglichst gering, die eigenen Siege möglichst großartig erscheinen zu lassen. Zwischen den Lügen und Desinformationen ist es unendlich schwer, glaubwürdige Fakten zu erkennen.

Doch selbst diese Fakten stehen nicht für sich, sondern werden sofort einsortiert in die Schemata ideologischer Interpretationen, Kriegsmaschinen des Geisterkrieges, die die wenigen verbürgten Tatsachen sofort in Geschosse der eigenen Sache verwandeln. Es sind drei hauptsächliche militärisch-ideologische Komplexe, die hier vor allem ihr Unwesen treiben. Der Krieg zeigt deutlich: Wir leben in gewisser Weise schon lange nicht mehr in einer gemeinsamen geteilten Welt. Wir haben es mit drei Welten zu tun, die jeweils von einer fundamental unterschiedenen Ontologie und normativen Ordnung getragen sind, die sich unvereinbar gegenüberstehen. Jede dieser Geisterwelten oder auch Weltgeister beansprucht absolute Gültigkeit und während in der banalen Realität die Soldaten und die Zivilisten kämpfen und sterben, erhebt sich darüber und darunter, ihr Treiben gleichsam spirituell umwehend, eine womöglich entscheidendere Schlacht, die das Schicksal der Menschheit für die kommenden Dekaden entscheiden wird. Wir sollten daher nichts unversucht lassen, um ein wenig Gespensterkunde zu betreiben: Mit welchen Weltgeistern haben wir es zu tun? Was sind die Formeln, mit denen sie sich beschwören oder auch austreiben lassen? Was sind die bösen Geister und was die guten?

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Fußnoten

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1 Dieser Artikel, der im März 2022 aus Anlass dieser Diskussionsrunde zum Thema entstand, ist angeregt von meinem intellektuellen Austausch mit meinem ukrainischen Kollegen Vitalii Mudrakov, mit dem zusammen ich kurz vor dem Krieg den Aufsatz Eine Revolution der Selbstüberwindung. Friedrich Nietzsche und die ukrainische Transformation verfasste, der in der kommenden Ausgabe der Nietzscheforschung erscheinen soll. In diesem Text argumentieren wir, dass es sich bei der in Deutschland nach wie vor, die Propaganda des Kremls aufgreifend, als „Putsch“ diffamierte „Orangene Revolution“ (2004/5) und den Maidan-Aufstand (2013/14) um echte revolutionäre Ereignisse handelte, die mit einer „Umwertung der Werte“ im Sinne Nietzsches führten: Weg von den Werten der „russischen Welt“, d. h. gelebter Korruption und Knechtschaft, hin zu gelebter Freiheit und Würde. Wie sich im Folgen zeigen wird, leugne ich nicht, dass es faschistische Tendenzen auch innerhalb der ukrainischen Bevölkerung gibt und dass dort der Westen oftmals sehr naiv betrachtet wird. Doch dies scheint mir nicht die herrschende Tendenz dieser Bewegung zu sein, die heute im Freiheitskampf gegen die russische Okkupation kulminiert.
2 Ich übernehme diese Metapher von Nietzsche, der in Ecce homo schreibt: „Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik“ (Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Studienausgabe Bd. 6. München 1999, S. 255–374; 366; Schicksal 1).

Die Ideologie der Nicht-Demokratie (zu Latour & Co.)


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Es handelt sich bei dem folgenden Text um das vollständige, etwas korrigierte und ergänzte, Vortragsskript meines Gastvortrags bei der Vorlesung von Hans-Martin Schönherr-Mann im SoSe 2022. Den Vortrag selbst und die darauffolgende Diskussion mit Alexander Görlitz kann man sich hier ansehen. Der Skriptform ist es geschuldet, das manche Thesen etwas ungenügend erläutert bzw. durch Zitate untermauert werden. Auf Nachfrage kann ich entsprechende Nachweise und Erläuterungen gerne noch anbringen.

Eine Zeichnung von Robert Linke, zu der ihn mein Vortrag inspirierte. Mit freundlicher Erlaubnis des Künstlers.

Die Ideologie der Nicht-Demokratie. Latours Konzepts eines „Parlaments der Dinge“ als philosophische Legitimation des (Post-)Corona-Regime / Für eine Ethik des kritischen Individualismus III

I. Einleitung

Nachdem ich in den vergangenen Wochen hier auf diesem Kanal zwei Vorträge hielt zu Denkern, die sich explizit als Individualisten verstanden und eine entsprechende Ethik vertraten1)Kierkegaard und Nietzsche., möchte ich mich in meinem dritten Vortrag „Für eine Ethik des kritischen Individualismus“ an einem Philosophen abarbeiten, der sich im Gegenteil als Kritiker dessen bezeichnet, was er den modernen Individualismus nennt: Bruno Latour.

Latour lebt noch und wurde 1947 in Frankreich geboren. Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern einer Denkschule, die oft als „Neuer Materialismus“ bezeichnet wird. Ich werde diesen Vortrag mit einigen Bemerkungen zum Stand des Individualismus heute beginnen, um dann kurz die Grundthesen dieser Geistesströmung anhand vor allem einiger ausgewählter Schriften Latours vorstellen. Bevor ich den „Neuen Materialismus“ dann kritisch würdigen werde, möchte ich noch, dem Thema dieser Vorlesung entsprechend, auf Latour Legitimation der Corona-Politik zu sprechen kommen.

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Fußnoten

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1 Kierkegaard und Nietzsche.

Bekenntnis einer demokratischen Drecksau


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Mein versprochenes Manifest aus meinem Vortrag Nietzsche – Für eine Ethik des kritischen Individualismus II (Link).

Bekenntnis einer demokratischen Drecksau

Oink, oink!

Seht her, ich bin kein Mensch,

Ich bin eine demokratische Drecksau.

Du, erhabener Edelmensch, hast nichts als Verachtung für mich übrig.

Ich bin hässlich, missraten und schwach.

Du hältst dich für frei, stark, souverän und nennst mich Canaille. Einen wutschnaubenden Fanatiker, attestiert mir einen krankhaften Geist.

Leicht könnte ich dir vorhalten, dass du dich selbst beschreibst, wenn du über mich wütest und das Rutenbündel brichst.

Aber das wäre einfach, allzu einfach.

Ich empfinde in Wahrheit weder Verachtung noch Wut, wenn ich dich betrachte, sondern etwas, was du dir eisern abgewöhnt hast, Mitleid.

Du bist nicht frei, du suchst nur nach der Freiheit.

Auch ich bin nicht frei, ich suche nach der Freiheit.

Doch anderswo als du.

Ich suhle mich bei meinen Mitschweinen im Dreck, ich liebe meine Borsten, ich wühle den Boden nach Eicheln.

Ich atme die Luft des Waldes und bin bei den Waldgeistern zu Haus.

Du fliegst eilig über uns hinweg und machst große, hastige Sprünge.

Etwas treibt dich, lässt dir keine Ruhe.

Ist es das, was man „Gewissen“ nennt und was du an dir verachtest und mit allem Peitschenknall nicht übertönen kannst?

Eine Mutter hat dich gesäugt, wie auch mich, und das wurmt dich.

Diese Gleichheit mit mir, die dich aus der erhabenen Stimmung der Einsamkeit reißt.

Sehen wir uns nicht zum Verwechseln ähnlich?

Zögest du einmal deine liebgewonnene Uniform aus, entledigtest du dich deines glitzernden Säbels, stutztest du deinen mächtigen Schnurrbart, der dich mit den Großen verbindet – wärst du ganz nackt, man könnte uns glatt für Brüder halten.

Aber du hast weder Mutter noch Bruder. Elternlos braust du, einer Wolke gleich über den Wald hinweg. Immer höher zu größerer Freiheit, immer weiter entfernt vom Moos und den Farnen.

Hier im Wald ist niemand Souverän, niemals, und deine Rute dient uns als nächtliches Feuer, in dessen Schein wir uns wärmen und berichten, was uns die Waldgeister sagten.

Hier im Wald bildet alles ein großes Geflecht und es gibt keine Herrschaft.

Die Bäume recken sich empor, morgen schon sind sie Nahrung für Pilze und Würmer.

Und alle ernährt die Sonne, der Wind, der Regen und die große Mutter, die Erde.

Oink, oink!

Ich suhle mich bei meinen Mitschweinen im Dreck, ich liebe meine Borsten, ich wühle den Boden nach Eicheln.

Gäbe es noch einen Gott, wünschte ich dir trotz allem einen Platz im Himmel.

Doch du hast ihn getötet, leer ist dein Auge seitdem.

Nackt sind wir hier alle, wenn der Regen auf uns herabfällt und der gesamte Wald atmet.

Dann wird es kalt und nass und wir verkriechen uns ins Gebüsch, sind ganz eng beieinander.

Kennst du das, diese Enge? Du fliehst sie, wo du nur kannst.

Dein Gott ist tot und mit ihm starb auch dein Nächster.

Ein Geist bist du selbst, schwarz und stolz, einer Krähe gleich.

Du denkst, du wärst frei, doch willst doch nur, dass wir Schweine uns über dich ärgern.

Manchmal klappt’s und wir tun dir den Gefallen.

Aber eigentlich bist du uns ziemlich egal, du armes Schwein.

Spotte nur über unsere Enge im Wald und unsere Vorliebe für die Eicheln – manchmal entdecken wir auch einen Trüffel.

Auch sind wir nicht ohne Träume.

Wir sammeln uns auf der Lichtung, wenn Fuchs und Hase sich grüßen, wir lauschen den Geistern des Waldes.

Sie schicken uns Bilder von kommenden Welten, für die du keinen Sinn hast. Bilder der Zärtlichkeit und des Friedens, des kommenden Glückes, eine Welt ohne Wölfe und Adler. Gleich Tautropfen in Spinnennetzen funkeln sie uns und geben uns Hoffnung, lassen auch unsere Äuglein strahlen.

Wir schützen uns vor den Wölfen und Adlern,

denen du Freund bist.

Wenn der Wald brennt, ist es für dich nur ein weiteres Schauspiel,

uns macht es Angst, weil wir wissen, was du nicht weißt:

Dass es uns in der Aschenwüste nicht gäbe.

Komm, Freund, gesell dich zu uns,

wenn dich deine wilden Hunde genug gehetzt haben.

Lausche den Geistern des Waldes,

hör auf die Tropfen des Regens,

sei ein Schwein unter Schweinen,

grunze mit uns im Chor,

suhl dich im Dreck,

suche die Eicheln,

finde die Trüffel,

lieb deine Borsten.

Oink!