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Von der garstigen Wissenschaft


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Wohin sind wir gekommen, wohin gedachten wir zu gehen? Man kann eine beurteilende Bestandsaufnahme der Philosophie, wie sie an den akademischen Institutionen unserer Zeit gelehrt wird, nur schwerlich zustande bringen, ohne den ursprünglichen Gedanken zu kennen, aus welchem heraus sie in ihrem Anfange geboren ward. Wohin also gedachten wir zu gehen? (Weiterlesen)


Anti-Bull


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A Comment on Malcom Bull’s Anti-Nietzsche (Verso Books, London / New York 2011)

 

Malcom Bull’s study Anti-Nietzsche is one of the most interesting and – as the title might suggest – provocative contemporary publications on Nietzsche I’ve come across. Reason enough to dedicate a little commentary to it.

Anti-Nietzsche is not just provocative because it’s directed against Nietzsche – but it is also directed against his prominent philosophical and unphilosophical critics of the 20th century and contemporary common sense in general. It begins by introducing the figure of the “philistine” which is presented as the worst enemy of art: A person who does not hate art (not even art in general) but who does not attribute any significance to it, who does not even comprehend the difference between art and non-art. It is common sense to polemise against him – not even the most radical critics of art would call themselves “philistines”, even the most radical (such as Dada or the Situationist Internationale) would criticise art in the name of “true art” or “true aesthetics”. Bull’s study now breaks that taboo and philosophises exactly from the point of view of the philistine.

Nietzsche is presented as the critique of philistinism par excellence. From The Birth of Tragedy to Ecce homo he wants to attack the unaesthetic (and thereby: anaesthetic) man, be it under the mask of Socrates, Plato, Jesus, the “last man”, the modern man, the slave, Kant, the nihilist, the scientist etc. pp. Modern civilisation is portrayed by Nietzsche as a culture of philistinism that supresses creativity and is therefore doomed to nihilism. Nietzsche wants to overcome that nihilism in order to establish a new culture of creativity.

Bull shows convincingly and in great detail that Nietzsche’s critique rests on a basic presupposition that is not very original: The said belief in art and its intrinsic non-moral value. It is not just not very original but is a mere judgement of taste. Bull demonstrates that all of Nietzsche’s culture criticism becomes unconvincing if you look at it from the point of view of a person that is an absolute “loser” according to its standards: A philistine that is not able to be creative in any way, that has absolutely no sense for “greatness”, no “taste”. Nietzsche’s critique only works if you follow Nietzsche’s rhetoric that suggests that by only reading Nietzsche you belong to a small cultural elite that differs from the masse of philistine rabble. Furthermore, Bull shows that all critics of Nietzsche (with Heidegger as the most prominent example) fall prey to this rhetoric at some point: They all accept the presupposition that nihilism is a great threat and we have to find a way out of it. They only criticise Nietzsche for not having articulated the right answer to this problem, they do accept it as a problem. Accordingly, they fall prey to the same kind of criticism that Bull directs against Nietzsche: At some point, in order to avoid nihilism, they have to refer to a certain non-rational standard of “taste”, certain aesthetical abilities, that form a certain community of “aesthetes” and exclude others. Even if they try, as in the case of Jean-Luc Nancy or Gilles Deleuze, to be as inclusive as possible, you can in any case construct a perspective of the excluded one, the “loser”, that lacks any sense of community, that is not able to undertake any kind of deterritorialisation, that is an animal, maybe even less than an animal, a mere subhuman. Bull accordingly calls his counter-perspective “subhumanism”.

There is now a little suspicion: Isn’t it possible to turn the same move against Bull himself? How does his criticism work from the point of view of someone who is simply not able to see himself as a “loser” (which is – as Bull admits – not very easy as it is a purely negative perspective)? Who can’t stop – despite every effort – to see himself as a “winner” (even if he may admit that there is a little “loser” also hidden within himself – but he does his best to defeat him)? Who is just too weak to be a “loser”? Who may at times feel like a “loser”, at other times as a “winner”? Isn’t Bull “reading for victory” (as he calls the perspective of normal, identifying readers of Nietzsche) too – for victory over Nietzsche and any sort of aesthetic cultural criticism? Does he – against his own assertions – really present a radical alternative to Nietzschean discourse or is he not just pushing it one step further while still remaining within it? (Possibly, because there is no way out?) (Weiterlesen)


Kulturkonservativismus 2.51


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Wie glücklich man sich schätzen kann, noch die goldenen Zeiten des Internets miterlebt zu haben. Als es noch so etwas gab wie Diskussionsforen, in denen tatsächlich produktiver Austausch möglich war ganz ohne Like- und Share-Buttons und Chats ohne dümmliche Dino-, Kätzchen- und Pokemon-Smileys, bei denen einem schon vom Hingucken schlecht wird. Als es noch Software gab, die ihre User als Erwachsene behandelte und nicht völlig infantilisierte und manipulierte. Als man nicht für völlig verrückt gehalten wurde, wenn man eine längere Email schrieb und eine adäquate Antwort darauf erhoffte. Als man noch nach Belieben Pseudonyme einrichten und damit allerlei Schabernack treiben konnte. Und ich breche die Liste ab, denn ich werde sonst nur sentimental.

Das Internet ist tot. Wir sind dereinst dorthin ausgewichen, um der miserablen Realität zu entkommen und uns in der Virtualität neue Wirklichkeiten zu erschließen. Es war der beste Ort, den es jemals auf Erden gegeben hat. Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt, überall lockten neue Informationen, neue Freunde, neue Vergnügungen. Man fühlte sich wie ein Kind, das nachts im Süßwarenladen eingesperrt worden ist. Durch unsere Dummheit und Bequemlichkeit haben wir es kommerzialisieren und reglementieren lassen – jetzt ist es tot, durch unsere Duldsamkeit haben wir es getötet. Wie trösten wir uns, wir Mörder aller Mörder?


– Zarathroxas Begegnung mit Bucephalus –


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Bucephalus

 

Und also zogen Jesus und der Esel hinaus in Richtung übermorgen. Zarathroxa aber folgte den beiden noch ein wenig, denn eines wusste Zarathroxa von Anfang an: die Karotte würde ihnen nicht den Weg zum übermorgen weisen, – – – und Zarathroxa wusste auch, dass es Jesus wusste, doch nicht wahrhaben wollte… – auch waren Zarathroxa Schritte um ein vielfaches langsamer als die des kleinen Esels, dessen kurze Beinchen der Karotte so zielstrebig entgegentrappelten, als handle es sich bei ihr um die erlösendste Erlösung aller erlösten Erlösungen.

Im Kopfe des reitenden Jesu aber zogen sich zähe Zweifel zusammen:

„Wenn der seine Karotte je erreichen würde…. Das will ich mir gar nicht erst vorstellen! … der Ärmste. Er liebt eben das, was er nicht kriegen kann, er sieht mehr in der Karotte, als sie ist und kommt damit gut über sein kleines Eseldasein hinweg. Liebe sieht eben mehr, als ist – aber…“

und wie ein Blitz machte sich mit einem Male eine große Enttäuschung in Jesus breit. Er dachte an einen Witz, der ihm einmal erzählt wurde. Der Witz war aufgebaut, wie Witze eben aufgebaut waren: ein Sachverhalt wurde erklärt, eine Person strebt nach einem Ziel – doch dann kam die Pointe, und eigentlich hatte die Person sich die ganze Zeit getäuscht. Alles war ganz anders. Es war Umsonst. Eigentlich war das die Pointe, die normalerweise das Lachen hervorrief, doch Jesus konnte nicht lachen. Stattdessen spürte er eine große Enttäuschung. Vielleicht war alles ganz anders. Vielleicht war diese Utopie der Liebe, die er gelebt hatte, tatsächlich nur eine Illusion. Vielleicht war es so, dass die Liebe tatsächlich immer mehr in das Gegenüber legt, als in Wirklichkeit existiert. Das wäre dann die Schöpfung der Liebe – die Kraft zur Illusion. Das Gegenüber zeigt gerade genug von sich, um anziehend zu bleiben… und so dachte Jesus über die Liebe nach und wurde trüber und trüber …. und mit einem Male schien das Geheimnis gelüftet – und die Enttäuschung groß — der Esel aber klapperte immer eifrig seiner Karotte hinterher und schrie dabei hin und wieder: > I – A! <

 

 

Zarathroxa aber schritt langsam hinterdrein und bemerkte die Veränderung im Wesen Jesu – doch Zarathroxa unterdrückte das Mitleid und musste beinahe lachen. Der wird sich schon noch Beine machen…

 

 

 

So liefen sie also weit und immer weiter und schließlich kamen sie in eine Wüste. Die Sonne ging unter und ein glitzernder Sternenhimmel breitete sich über dem Firmament aus. Noch immer war der seltsame Aufzug auf dem Wege – vornedrein der emsige Esel mit seiner Karotte, darauf sitzend der unlustige Jesus und hinterdrein Zarathroxa mit der schlafenden Schlange um den Hals. Doch selbst erlösungsbedürftige Esel werden irgendwann müde und erleichtert vernahm Jesus, wie die Schrittchen in Richtung Karotte immer langsamer und lahmer wurden. Es war kalt geworden und Niemand unter den Vieren führte ein wärmendes Licht mit sich. Die Nacht wurde schwärzer und unheimlicher; – und selbst für den Esel wurde die Schwärze so drückend, dass die lockende Wirkung der Karotte erblasste.

Und obwohl Zarathroxa nichts von der beklemmenden Wirkung der Nacht spürte und darselbst keine Müdigkeit verspürte, spähte Zarathroxa aus, ob sich nicht bald ein Ort für ein Nachtlager fände.

Und also spähte und spähte und spähte Zarathroxa und… und dort! – siehe – dort erspähte Zarathroxa am Fuße einer Düne ein fernes, kleines und helles Licht inmitten der samtschwarzen Wüste.

>Dort! <, sprach Zarathroxa also und wies mit ausgestreckter Hand in die Richtung.

>Dort lasst uns rasten. Dort kannst du und dein Esel eurer müden Seele Wunden warten – solcherlei Wunden, wie du nämlich hast, oh Jesus, heilen nur Träume; – und seien es auch die wildesten und gefährlichsten Träume. Immer wachst du als ein Anderer auf – das ist oft enttäuschend. Doch in jeder Enttäuschung steckt der Keim zur neuen, noch listigeren, noch bezaubernderen Täuschung. Eine enttäuschende “Wahrheit“ jenseits der Täuschung nämlich – die gibt es nicht.“

Doch auch Zarathroxa schien sich zu täuschen, denn kein wärmendes Feuer kam in Sicht. Vielmehr hoben sich die Konturen eines schweren eichernen Schreibtisches gegen den schwarzen Nachthimmel ab – – darauf langen Unmengen von Bücher, Zetteln und Dokumenten und dort – Wunder über Wunder…! – dort an dem Schreibtisch saß jemand…. Oder etwas? Es war kein Mensch sondern – sollte es denn möglich sein! – es war ein riesiges Ross, schwärzer als die Nacht, doch mit einem blütenweißen Hemd und einer Krawatte bekleidet! Auf dem Tische aber standen eine Tasse Kaffee und eine stille Lampe friedlich beieinander. Im Lichtschein ließ sich ein kleines Namensschild am Hemd des Ungetüms erkennen: DR. BUCEPHALUS.

Das schwarze Ross sah verwundert auf als es den seltsamen Aufzug naher kommen sah: – fasste sich aber sogleich wieder und fragte mit ernster Stimme: >Wer sind Sie? <

„Reisende, Suchende, Versuchende… und ab und an dem Leben Fluchende, so wie dieser hier.“ antwortete Zarathroxa und deutete auf Jesus hin; „Er und sein Esel sind müde, hungrig und suchen Schutz für diese Nacht. Der, welcher die Hungrigen speiset, erquickt seine eigene Seele: so spricht die Weisheit.“

„Schutz kann ich euch wohlweißlich gewähren. Ich nämlich, kenne die Rechtsordnung.“ antwortete das mächtige Ross mit bedächtiger aber nicht unfreundlicher Stimme.

Jesus aber, der Alledem stumm zuhörte war das Pferd nicht geheuer. Das pikfeine Hemd, die dämliche Krawatte (Phallussymbol!), die ganze bedrohliche Gestalt – das Vieh war mindestens fünfmal so groß wie der Esel! Und dann faselte es da noch etwas von „mit der Rechtsordnung vertraut“? War die Rechtsordnung nicht eben das, was die völlig katastrophalen Zustände in dieser von Grund aus falschen und beschissenen Welt zementiert hatte? Allein der Gedanke, dass sich dieses Tier auf die bestehende Ordnung bezog… sie anerkannte, mit ihr arbeitete… dieses Pferd machte mit! Es war Mitläufer! Mittäter! Wie konnte es nur so unkritisch sein! Jesus warf einen kritischen Blick auf die Bücher – das waren alles Gesetzesbücher! Keine Romane, keine Kinderbücher, keine Liedertexte, keine Gedichte… kein Sinn für Fantasie! Aber noch nicht mal Sachbücher, kein Marx, nichts Horizont-erweiterndes, keine Philosophie…nichts! nur staubige alte Gesetzestexte. Trockenes vergilbtes Zeug.

„Bist du ein Politiker? Oder ein Manager? Ein Steuerberater? Oder ein Richter?“ platze es aus Jesus heraus.

„Ich bin Bucephalus, ehemaliges Schlachtross Alexanders des Großen.“ sagte das Ungetüm langsam mit tiefer fester Stimme. „Nun aber bin ich Dr. Bucephalus. Ich wurde Advokat und studiere nun Gesetzestexte.“

>Aber schlafen sie denn nie? < fragte Zarathroxa

„Ha! Schlafen?! – Schlafen kann ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin! Vorläufig trinke ich schwarzen Kafee!“ antwortete Bucephalus und nahm einen kräftigen Schluck des pechschwarzen Heißgetränks.

„Wissen Sie, einst war ich das exekutive Organ Alexanders von Makedonien und führte auf seinen Befehl hin Eroberungsfeldzüge. Es waren blutige Schlachten. Mein Huf trampelte so manchen Soldaten tot – ich kenne das Gefühl, wenn Knochen und Schädel unter meinem Gewicht zerbersten – ich habe die Schreie und das knirschende Geräusch noch immer im Ohr. Und es waren viele Schlachten, es waren sehr viele Schlachten und ich tötete etliche Menschen. Etwas in mir schrie jedes Mal: Unrecht! Unrecht! Unrecht! Aber ich hatte das Recht auf meinem Rücken, denn Alexander gab mir die Sporen und ich zog immer wieder mit ihm und für seine Gesetze in den Krieg. Ich kannte diese Gesetze nicht, aber ich vertraute ihm – schließlich war Aristoteles sein Lehrer… aber um ehrlich zu sein, was der ihn gelehrt hatte, wusste ich damals auch nicht. Doch dann war es plötzlich aus. Alexander starb. Ich aber war noch da, ein Ross ohne Reiter, ein Soldat ohne Befehl, ein Exekutiv ohne Souverän. Aber Alexanders Gesetze, die waren auch noch da. Und mein Gefühl, ein Unrecht begangen zu haben, das war auch noch da. Nur Alexander war weg.

Da beschloss ich Advokat zu werden und es wieder gut zu machen. Denn, wissen Sie Herr von Nazareth, mit der Rechtsordnung ist es wie mit allen alten Texten: es bedarf der Exegese. Und so sitze ich denn hier friedlich, fernab vom Schlachtenlärm bei stiller Lampe an meinem Schreibtisch und wälz und wende Nacht für Nacht die alten Seiten der Gesetze.“

Jesus starrte Bucephalus mit großen Augen an. Das war also alles noch viel komplizierter als gedacht – in der Tat, da gab es Unterschiede zwischen Alexander, seinem Ross und seinen Gesetzen….. Scheiße!

„Und ich glaube, mittlerweile kenne ich die Gesetze so gut, dass ich selbst einen Lümmel wie Sie hätte raushauen können!“

„In allen Fällen?“ fragte Jesus

„In allen Fällen. Es hätte mir sogar Spaß gemacht, mit Pontius Pilatus zu streiten.“

„Sie streiten jetzt also für ganz normale Menschen wie mich, und nicht für irgendwelche übermenschlichen Arschgeigen wie Nestlé, Vattenfall, BP, Monsanto oder facebook?“, fragte Jesus.

„Sehr richtig. Ich bin der neue Advokat.“


Achim Szepanski: Kapitalisierung Bd. I & II


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Review on:

Kapitalisierung Bd. 1: Marx’ Non-Ökonomie

Kapitalisierung Bd. 2: Non-Ökonomie des gegenwärtigen Kapitalismus

Achim Szepanski

Hamburg: Laika, 2014 1)This article is a longer version of a review I wrote for Marx & Philosophy. Link: http://marxandphilosophy.org.uk/reviewofbooks/reviews/2015/2050

 

I. Beyond Marxology: Coming Out of the German Box

Achim Szepanki’s trilogy Kapitalisierung (Capitalisation) may be the most important publication on Marxist economy in the German-speaking world since Robert Kurz’ Schwarzbuch Kapitalismus) (The Black Book of Capitalism) (1999). To understand this claim one has to know that for the last decades German-speaking Marxist discourse has been more or less completely dominated by the ‘Neue Marx-Lektüre’ (New Marx-Reading), a school of Marxology that has been founded by Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt, Michael Heinrich, Robert Kurz, and others. 2)As the founding text of ‘Neue Marx-Lektüre’ one can count Reichelt’s dissertation Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx (On the Logical Structure of the Concept of Capital in Karl Marx) (2001) from 1968, first published in 1970. It has become the standard reading of Marx within leftist German-speaking academia since the late 90s, important protagonists being the group around the mentioned Robert Kurz and his journal Krisis and Michael Heinrich, whose introduction into the Capital, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung (Critique of Political Economy. An Introduction) (2005), first published in 2004, became the standard introduction to Marx’ Capital within few years. Under this label they have established a reading of Marx’ Capital which is strongly focused on the book’s first four chapters in which Marx is said to have developed a structural critique of the form of capitalist socialisation with the logically connected forms of value, money, commodity, and the fetishism of these forms as its structural core. The whole rest of the book is understood as a mere development of this fundamental structure, which many even see as a superfluous and nowadays irrelevant appendix. One is justified in suspecting that the ‘Neue Marx-Lektüre’ is, in its essence, more or less a renewal of the classical Western Marxist reading of Marx as introduced by György Lukács and developed further by the Frankfurt School.

This ‘Neue Marx-Lektüre’ marked a clear progress. It helped to immunise against personalising views on Capitalist societies that can easily lead to forms of anti-Semitism, and views that focus on class struggle while ignoring the economical laws that shape it. Moreover, Robert Kurz, Roswitha Scholz, Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, and other members of the journals Krisis 3)Cf. http://www.krisis.org/ (and, subsequently, EXIT! 4)Exit is a new journal founded mainly by Robert Kurz and Roswitha Scholz as a spin-off from Krisis in 2004 after internal disputes. Cf. http://www.exit-online.org ) have developed since the late 80s under the premises of ‘Neue Marx-Lektüre’ an important analysis of current capitalism. They see it as having reached its final structural crisis as the substance of value (and, thus, profit), human labour, becomes more and more obsolete with the ‘third technological revolution’, i.e. the massive introduction of microelectronic technologies since the 70s.

At the same time, it lead to an unproductive stagnation of Marxist German-speaking discourse. It became more or less cut off from international debates while having little influence on these debates itself. Marxist’ debates have become merely philological and self-referential. The rich analysis that Marx offers in the Capital has been reduced to a Neo-Hegelian cultural criticism, a purely negative critique that also lead to a political stagnation in large parts of the German-speaking radical Left. The probably most awkward manifestation of this is the ‘Antideutsche Bewegung’ (‘anti-German movement’) that abolished classical Communist policy at all in favour of aggressive Pro-Israel- and Anti-Islam-lobbying that corresponds well, all-too-well with the neoliberal economic policy (and its correlating cultural policy of diversity management and political correctness on the one hand, the ideological formation of a Western identity that defines itself against ‘terrorist’ or ‘fundamentalist’ forces on the other hand) of Gerhard Schröder and Angela Merkel. Leftist debates and politics have altogether become more or less completely culturalised and politicised and focused on issues such as queer feminism, anti-Fascism, anti-Racism, and anti-Islamism in the last two decades – a paradoxical, even absurd development if one bears in mind that at the same time the worst economic crisis in decades took place.

Achim Szepanski is – besides for example authors like Frank Engster (2014) and Harald Strauß (2013) – one of the few German-speaking authors who, frustrated by this dissatisfactory situation, have had the courage to come out of the German-speaking box in order to develop a (within a German context) completely new and even revolutionary reading of Marx and may in the long run lead to a re-economisation and re-radicalisation of German leftist politics. Possibly, the German radical left may be, after a long time of decline, a factor to be reckoned with again.

Moreover, the significance of Szepanki’s book does not exhaust itself within a mere German-speaking context. His book is of great importance for an international audience as well. Especially the politicisation and culturalisation under the influence of neoliberalism, i.e. the postmodernisation of the Left seem to be massive problem on a global scale.

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Fußnoten

Fußnoten
1 This article is a longer version of a review I wrote for Marx & Philosophy. Link: http://marxandphilosophy.org.uk/reviewofbooks/reviews/2015/2050
2 As the founding text of ‘Neue Marx-Lektüre’ one can count Reichelt’s dissertation Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx (On the Logical Structure of the Concept of Capital in Karl Marx) (2001) from 1968, first published in 1970. It has become the standard reading of Marx within leftist German-speaking academia since the late 90s, important protagonists being the group around the mentioned Robert Kurz and his journal Krisis and Michael Heinrich, whose introduction into the Capital, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung (Critique of Political Economy. An Introduction) (2005), first published in 2004, became the standard introduction to Marx’ Capital within few years.
3 Cf. http://www.krisis.org/
4 Exit is a new journal founded mainly by Robert Kurz and Roswitha Scholz as a spin-off from Krisis in 2004 after internal disputes. Cf. http://www.exit-online.org

Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels


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Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels

Über das Scheitern eines autonomen Tutoriums

 

Who the fuck is Guy Debord? – Eine kleine Einführung in den Situationismus

 

Wenn ich ein autonomes Tutorium anbiete, hat das in der Regel drei Hauptgründe (außer den offensichtlichen materiellen): Zum einen möchte ich mich mit den behandelten Theorien selbst vertieft auseinandersetzen und das Tutorium dafür als Anstoß nutzen, zweitens möchte ich mich mit Leuten austauschen, die diese Theorie auch spannend finden, zum dritten habe ich dazu noch eine politische Motivation, die darin besteht, die behandelte Theorie bekannt zu machen. Bei dem autonomen Tutorium, das ich im Wintersemester am Fachbereich 10 anbot, überwiegte jener politische Aspekt bei Weitem: Die Theorie Guy Debords ist selbst bei gesellschaftskritisch interessierten Kommiliton_innen kaum bekannt, obwohl sie meines Erachtens eine der wichtigsten kritischen Theorien des 20. Jahrhunderts darstellt. Daran wollte ich etwas ändern.

Guy Debord entwickelte seine Theorie im Rahmen der Arbeit der Gruppe der Situationistischen Internationalen (SI). Dies war ein Zusammenschluss aus politisch radikal revolutionär ausgerichteten Künstlern und Theoretikern 1)Man darf bei der SI wirklich einmal guten Gewissens die männliche Form verwenden – Frauen spielten in ihr nur eine untergeordnete Nebenrolle., der Ende der 50er Jahre aus der Lettristischen Internationale (LI) hervorging. Die LI zielte, im Anschluss an die Avantgarden vor dem 2. Weltkrieg (Expressionisten, Dadaisten, Surrealisten …), auf eine völlige Zerstörung der bürgerlichen Kunst ab und fiel durch provokante Störaktionen im arrivierten Kulturbetrieb auf. So verkleidete sich einer von ihnen bei der Ostermesse 1950 in Notre Dame de Paris als Mönch und verkündete den „Tod Gottes“ – er wäre von der erzürnten Menge um ein Haar gelyncht worden.

Gegenüber den eher kunst- und kulturimmanenten, stark von Friedrich Nietzsche und anderen existenzialistischen Denkern beeinflussten Lettristen hoben sich die Situationisten seit ihrer Gründung Ende der 50er Jahre davon ab, dass sie sich stark auf Karl Marx und den von Georg Lukács in seinem Frühwerk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) entwickelten westlichen Marxismus bezogen, der wiederum an die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels anknüpft. Kernthese dieses Marxismus ist, dass Kunst und Kultur nur eine sehr beschränkte Autonomie zukommt, sie vielmehr in ihrer Entwicklung von den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Gesellschaft bestimmt werden. Im Kapitalismus ist die entscheidende ökonomische Struktur, der sich alles gesellschaftliche Handeln und Denken unterwirft, die Warenform. Sobald ein Ding als Ware auf den Markt kommt, ist es nicht mehr nur dieses einzelne nützliche Ding, sondern es bekommt zusätzlich eine quasi-übersinnliche Qualität, die von seinen nützlichen Eigenschaften vollkommen abgekoppelt ist: Es hat einen bestimmten Preis. Im Kapitalismus ist dies jedoch seine entscheidende, seine ihn gerade definierende Eigenschaft. Im Preis drückt sich die Gesellschaftlichkeit eines Dinges aus: Dass es von Menschen in bestimmter Zeit produziert wurde, um die Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen. Doch diese Gesellschaftlichkeit setzt sich im Kapitalismus als Zwangsgesetz gegen die Menschen durch, sie können über sie nicht bewusst verfügen. Einfach deswegen, weil die Produktionsmittel den Kapitalisten gehören, mithin in privaten Händen zersplittert sind. Die Proletarier, die sie bedienen, haben über den Produktionsprozess überhaupt keine Kontrolle, und damit über die Produktion ihrer eigenen Lebensbedingungen. Sie führen somit ein völlig entfremdetes Dasein. Sie werden von den Produkten ihrer eigenen Arbeit beherrscht. Dies fasst der westliche Marxismus kritisch mit den Begriffen „Verdinglichung“ und „Fetischismus“. Eine Veränderung dieser widrigen Lage kann nur über einen kollektiven Umsturz der kapitalistischen Produktionsweise in globalem Maßstab, also eine kommunistische Weltrevolution, erfolgen. Es ist klar, dass unter diesem Einfluss die SI das nietzschianische, kulturrevolutionäre und kunstimmanente Konzept der Lettristen hinter sich lassen musste. Sie verstanden sich dezidiert als revolutionäre Organisation des Proletariats mit dem Ziel der Herbeiführung (oder wenigstens: Beförderung) eben jener Weltrevolution.

Allerdings warf die SI ihre künstlerisch-existenzialistischen Wurzeln nie gänzlich ab, sondern entwickelte eine spezifische Synthese von existenzialistischer Kultur- und marxistischer Gesellschaftskritik. Unter existenzialistische Kulturkritik verstehe ich hier eine Kritik an der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die sich vor allem an kulturellen Phänomenen festmacht und von einem eher subjektiven Standpunkt aus diese Phänomene im Namen von Konzepten wie Authentizität, dem Leben, der Freiheit des Individuums oder des Spiels kritisiert. 2)Im engeren Sinne bezeichnet Existenzialismus eine kulturelle und philosophische Strömung in Frankreich der 30er bis 60er Jahre, der u.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir angehörten. Diese Strömung sehe ich als wichtigen Teil des Existenzialismus im weiteren Sinne. Praktisch entwickelt sie auf der Ebene individueller Praxis wie in ästhetischen Experimenten konkrete Gegenmodelle, in denen ein nicht-entfremdetes Dasein aufscheinen soll. Wichtige Denker dieses so heterogenen Strangs sind u.a. (neben dem wohl wichtigsten: Nietzsche) Søren Kierkegaard, Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Henri Bergson, Georges Bataille und Antonin Artaud. Auch die erwähnten Avantgarden des 20. Jahrhunderts waren stark von existenzphilosophischen Ideen beeinflusst.

Theodor W. Adorno verweist in seinem Aufsatz Erpresste Versöhnung darauf, dass es – trotz aller Abgrenzungsbemühungen – einen engen inneren Zusammenhang zwischen existenzialistischer Kulturkritik und dem westlichen Marxismus gibt, insofern beide dieselbe Ausgangsintuition teilen: Dass die Moderne ein Zeitalter der absoluten Verdinglichung und Entfremdung ist, deren Überwindung einen grundsätzlichen Wandel erheischt. Für den Marxismus muss dieser Wandel auf gesellschaftlicher und kollektiver Ebene, für die existenzialistische Kulturkritik auf individueller und kultureller Ebene erfolgen. Ein wenig schematisch betrachtet lässt sich sagen, dass der Marxismus die Dinge von der objektiven, die existenzialistische Kulturkritik die Dinge von der subjektiven Seite her anpackt, also dasselbe aus unterschiedlicher Perspektive betrachten – woraus ersichtlich ist, dass eine Vermittlung beider Strömungen möglich sein sollte. Begriffe wie „Entfremdung“ oder „Verdinglichung“ spielen entsprechend in beiden Traditionen eine zentrale Rolle, jedoch mit unterschiedlicher Konnotation: Während sie im westlichen Marxismus einen objektiven ökonomischen Sachverhalt bezeichnen sollen (die Entfremdung der Arbeiter von den Produktionsmitteln und den Produkten selbst, die objektive Degradation der Menschen zu Dingen im Kapitalismus), beschreiben existentialistische Denker Entfremdung und Verdinglichung als subjektive Erfahrung (Entfremdung etwa als Sinnverlust; Verdinglichung als Erfahrung der Verdinglichung).

Die SI unternahm einen solchen Vermittlungsversuch von den späten 50ern bis zu ihrer Selbstauflösung in den frühen 70ern. Neben ästhetischen und individuellen Experimenten betrieben sie insbesondere politische Agitation und theoretische Arbeit. Zu erwähnen ist dabei etwa als einer ihrer größten Clous eine Broschüre mit dem Titel Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel diesen abzuhelfen, die sie mit Geldern der Studentengewerkschaft Straßburg 1966 veröffentlichte. Dieser noch heute sehr lesenswerte und einiges treffende Text ist eine umfassende Polemik gegen alles, was das studentische Leben ausmacht inklusive der Studentengewerkschaft selbst. Minutiös wird der Selbstbetrug der Studenten aufgezeigt, die sich in einem Lebensabschnitt der Freiheit und Selbstverwirklichung wähnen, während sie in Wahrheit am Zipfel von Familie und Uni bleiben und sich auf ihre künftige Rolle als Kader und Funktionäre vorbereiten. Kein Wunder, dass sich die SI mit diesem Text einige Feinde machte. Die unmittelbar verantwortlichen Straßburger Studenten wurden vom Direktor als psychisch krank bezeichnet und exmatrikuliert. Die Broschüre entfaltete jedoch – neben den anderen Texten der SI – einen erheblichen Einfluss auf Teile der Studentenbewegung, die im Generalstreik des Mai 68 kulminierte. Nach 68 verlor die SI jedoch an Schwung und löste sich 1972 auf – auch, um nicht zum Mythos zu erstarren.

Innerhalb der SI gab es stets den Widerspruch zwischen dem eher marxistisch und dem eher existenzialistischen Flügel. Guy Debords Hauptwerk Die Gesellschaft des Spektakels fasst die Theorie aus marxistischer Perspektive zusammen, Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen aus existenzialistischer. Beide erschienen 1967 und teilen dasselbe Ansinnen: Die gegenwärtige Gesellschaft wird als „Gesellschaft des Spektakels“ denunziert. Das „Spektakel“ stellt die höchste Form der kapitalistischen Verdinglichung dar: Die Warenform ergreift nun wirklich total alles Erleben der Menschen. An die Stelle des wirklich Erlebten tritt ein System von Bildern, das sich über das unmittelbar Erlebten als Pseudo-Erlebtes legt und es verdrängt. Dieses System ist eben das „Spektakel“. Die Theorie der SI weist dabei große Ähnlichkeiten der Kulturindustrie-Kritik Adornos und Horkheimers auf, nur betont sie radikaler, dass die Kulturindustrie kein Teil der Gesellschaft ist, sondern im modernen Kapitalismus die gesamte Gesellschaft kulturindustriell erfasst ist. Die Menschen sind keine wirklichen Individuen mehr, sondern all ihr Denken und Handeln orientiert sich bis in ihre Bedürfnisstruktur hinein an vom Spektakel vorgegebenen Stereotypen. Allerdings geht die SI von keiner wirklich totalen Erfassung der Menschen aus, sondern von einem Restbestand an authentischem Erleben und echten, radikalen Begierden, die eine wenigstens partielle innere Befreiung ermöglichen – und die Basis des Klassenkampfs bilden. (Weiterlesen)

Fußnoten

Fußnoten
1 Man darf bei der SI wirklich einmal guten Gewissens die männliche Form verwenden – Frauen spielten in ihr nur eine untergeordnete Nebenrolle.
2 Im engeren Sinne bezeichnet Existenzialismus eine kulturelle und philosophische Strömung in Frankreich der 30er bis 60er Jahre, der u.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir angehörten. Diese Strömung sehe ich als wichtigen Teil des Existenzialismus im weiteren Sinne.

Einige Anmerkungen über Rausch und Wahn bei Nietzsche – und das Eselsfest


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In seiner großen Studie Wahnsinn und Gesellschaft versucht der Sozialtheoretiker Michel Foucault zu zeigen, dass sich die abendländische Vernunft seit dem 18. Jahrhundert über eine Abspaltung des Irrationalen, insbesondere des Wahnsinns, aus sich selbst konstituiert hat. Dieser Prozess vollzieht sich materiell in den psychiatrischen Kliniken, die sich aus den Gefängnissen und Arbeiterslagern entwickeln, in denen in irgendeiner Hinsicht auffällige Individuen vom normalen Rest der Gesellschaft isoliert werden. Mit der Aufkunft dieser Institutionen wird der jahrtausendelange Dialog zwischen Wahnsinn und Vernunft, die Unsicherheit in der genauen Grenzziehung zwischen beiden, die sich insbesondere darin zeigte, dass sich die Vernunft nicht sicher war, ob sie nicht auch nur eine Form des Wahnsinns ist, beseitigt und durch eine neue Eindeutigkeit ersetzt. Der Wahnsinn wird zum Verstummen gebracht, das Reden der Wahnsinnigen als sinnloses Gebrabbel denunziert. Die Psychiatrie wird zugleich zum Ort der Gewaltsamkeit und der Folter, in der die Gesellschaft höchst inhumane Methoden an Einzelnen anwendet in der Gewissheit, damit der allgemeinen Humanität einen Dienst zu erweisen. Am Ende der Studie erwähnt Foucault unter den Autoren, die sich dieser gewaltsamen Trennung nicht fügen und versuchen, dem Wahnsinn eine Stimme zu geben, neben Schriftstellern wie dem Marquis de Sade und Friedrich Hölderlin auch den Philosophen Friedrich Nietzsche.

In der Tat hat sich wohl kein anderer Philosoph vor ihm so intensiv mit Phänomenen der Irrationalität wie Rausch und Wahn beschäftigt wie er. Und zwar in genau der Absicht die Grenzen zwischen Ratio und Irratio zu verwischen. „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe“, lässt er seinen Helden Zarathustra sagen. „Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn.“ Diese Liebe, und damit der Wahnsinn, ist es aber, der uns grundsätzlich überhaupt am Leben hält: „Es ist wahr: wir lieben das Leben, nicht, weil wir an’s Leben, sondern weil wir an’s Lieben gewöhnt sind.“ Die Lebensfeindlichkeit seiner Gegenwart bringt Nietzsche explizit in Verbindung mit der Entstehung der Psychiatrie:

Ich zeige euch den letzten Menschen.

„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ — so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.

„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die letzten Menschen und blinzeln.

Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.

Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!

Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.

Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.

Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.

Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.

„Ehemals war alle Welt irre“ — sagen die Feinsten und blinzeln.

Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald — sonst verdirbt es den Magen.

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

„Wir haben das Glück erfunden“ — sagen die letzten Menschen und blinzeln. —

Gegen diesen „letzten Menschen“, den Nihilisten, den Menschen der Gegenwart setzt Zarathustra alias Nietzsche den Menschen, der „noch Chaos in sich trägt“, aus dem er einen „tanzenden Stern“ zu gebären vermag. Als Heilmittel gegen die moderne Entfremdung vom Irrationalen dient ihm die Lehre vom „Übermenschen“: „Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet? Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“

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Solidarität 2015


von

Jeder spießige Streik, jede pubertäre Polizeiautoanzündelei, jedes versiffte Hausprojekt soll mit sorgfältig ausgefeilten Solidaritätskundgebungen, die ohne jahrelanges Studium gar nicht zu schreiben wären, unterstützt werden – aber wenn einmal ein prekärer Intellektueller wie jeder Prolet auf seinem Eigentumstitel pocht, dann ist von politischem Verrat die Rede.


Theodor-W.-Adorno-Universität


von

Es ist ein Sarkasmus der Geschichte, wenigstens aber eine Frechheit und ein (bei mir zum Glück nicht täglicher, sondern aufgrund meines Hasses auf dieses Gebäude und mangelnde Notwendigkeit schlechtestenfalls monatlicher) Schlag ins Gesicht eines jeden, der sich irgendwie als „kritischer Intellektueller“ in Adornos Nachfolge versteht, dass das Gebäude, das nun seit dem großartigen Engagement der hiesigen Unilinken am Theodor-W.-Adorno-Platz liegt, über eine der abscheulichsten und gesundheitsgefährdensten Drehtüren der ganzen Welt, die der Philosoph bekanntlich verachtete und als Hauptsymptom der verdinglichten Welt betrachtete, verfügt. Eine schallende Ohrfeige, die immerhin mit der Realität jenseits des akademischen Schneckenhauses konfrontiert und nicht vergessen lässt, warum man so denkt, wie man denkt. Man muss dem Präsidium daher doch dankbar sein dafür, dass es die zu fruchtbarer kritischer Theorie stets erforderliche Wut zu wecken vermag. Der höhnische Sarkasmus könnte sich so rückblickend als förderliche Ironie herausgestellt haben werden. Es ist allerdings eher davon auszugehen, dass die alltägliche Konfrontation mit diesem widerwärtigen Ärgernis nur zu einer schädlichen Gewöhnung an das allgemeine Übel führt. Wer nicht mehr wütend ist, vermag nicht zu denken. Das Ziel des täglichen Spießrutenlaufs wäre dann erreicht.


Ungezügelte Gedanken zum JPMorganlauf und zur Galopprennbahn


von

Jedes Jahr findet in Frankfurt am Main ein Ärgernis, eine Dummheit, ein Triumph der Neo-Barbarei und des Neo-Faschismus statt. Im „teamwork“ läuft man für „charity“. Optimierung des Körpers harmoniert Selbst harmoniert mit Optimierung des Teams, der Firma, ja, dem gesellschaftlichen Ganzen. Alles wird immer besser.
Ich wüsste gern, wie viele Millionen Steuergelder jedes Jahr für diese lästige Idiotie verschwendet werden, wie viele Menschen aktiv und passiv belästigt werden, wie viele ehrliche Pendler und Studenten deshalb in ihren alltäglichen Bemühungen gestört werden im Sinne eines idiotischen Partikularinteresses, das sich zum unhinterfragbaren Universalen aufspreizt.
Konkreter ausgedrückt: Es müsste ein Bürgerentscheid gegen den JPMorganlauf und ähnliche Abscheulichkeiten und Entwürdigungen her. Doch dieser Bürgerentscheid wäre wohl der unpopulärste aller Zeiten, nur Verrückte und Ewiggestrige, solche, die die Zeiten der Zeit nicht erkannt haben oder gar gar nicht zu erkennen wünschen, wenn sie da mit tosenden Signalen am versammelten Volk vorbeitost wie ein ICE, würden ihn unterstützen und davon gibt es leider (noch?) nicht genug.
Ein anderer Bürgerentscheid findet dieses Wochenende statt. Meine Solidarität gehört den armen Pferden und den armen JPMorganläufern. Sie leiden unter ein- und derselben Krankheit. Man lässt sie schwitzen und leiden, man richtet sie ab zu niedrigen, inhumanen und sogar erst recht inanimalen Zwecken. Das freie Pferd ist ein wunderschönes Geschöpf, ein Sinnbild der Freiheit und des erhobenen Hauptes. Umso niedriger ist das Vergnügen an der Ausnutzung genau dieser stolzen Freiheit. Auch wenn selbst der freieste Mensch in ästhetischer Hinsicht dem unfreiesten freien Pferd bei weitem unterlegen ist – und darin liegt die Uranmaßung des Menschen: zu verhässlichen, was von Natur aus schöner und edler ist als er; der Mensch veredelt die Natur nicht zu sich hinauf, er zieht sie immer nur zu sich hinab (Ausnahmen bestätigen leider die Regel) –, muss man doch mit derselben Geste, mit der man das geschundene Tier betrauert den geschundenen Menschen betrauern, der hier lächerlich zu völlig nichtigen Zwecken verausgabt und vergewaltigt wird. Ja, es gibt einen „hohen“ Unterschied: Der Mensch verhässlicht sich selbst, er zieht sich – paradox genug – selbst zu sich hinab, obwohl er doch gerade das Wesen sein könnte, dass sich über sich hinaus wirft. Im JPMorganlauf kehrt dieser menschliche Drang zur Selbstüberwindung wieder als Karikatur sowie auch das Pferd in der Rennbahn oder vor der Kutsche noch entfernt seinen stolzen Großvätern aus den Weiten der Steppe gleicht. Allerdings bin ich mir, wenn ich mir die keuchenden Deppen ansehe, nicht sicher, ob sie diesem Begriff von Humanität gerecht werden und man ihnen wirklich mehr Verantwortung für ihre Lage zusprechen soll als dem Pferd in der Galopprennbahn. Das ist ja ihre – ganz moralisch gesprochen – schuld, dass sie die Verantwortung besitzen doch unverantwortlich verfallen lassen aus reiner Dummheit und – bestenfalls – reinem Opportunismus. Sicher werden auch ihnen die Scheuklappen aufgezwungen, doch … Gut, lassen wir das „doch“: Wir sprechen ihnen einen Rest Menschlichkeit nur aus Höflichkeit zu und gehen zum nächsten Fall über.
Da will man also die Galopprennbahn abreißen und – anstatt den JPMorganlauf zu sabotieren – wollen selbst linksradikale Freunde von mir sich diesem Vorhaben anschließen. 80 % von ihnen sind Vegetarier oder gar Veganer, das sei hier nur notiert. „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie Du den Schmerz.“ Das ist mir von Kindheit an eingebläut worden und man tadelte mich, als ich in kindlicher Grausamkeit eine Schnecke mit Salz bestreute um zu sehen, was passiert und lobte mich, als ich mich um einen kranken Vogel kümmerte. Aus diesem Geist heraus bin ich Vegetarier geworden. Und aus diesem Geist heraus sehe ich klar, dass dort in der Galopprennbahn Tiere aus demselben kindischen Bedürfnis, aus dem ich die arme Schnecke mit Salz bestreute, malträtiert werden – Tiere gar von weitaus größerer Schönheit und zweifellos weitaus tieferem Schmerzempfinden –, dass es im Verhältnis dazu noch moralisch besser ist, wenn man ein Schwein kurz und schmerzlos schlachtet aus dem Bedürfnis nach Nahrung heraus. Wenn man Vegetarier nicht nur aus derselben Dummheit und demselben Konformismus wie die JPMorgan-Läufer, die man sonst verachtet, heraus ist, dann könnte man schon allein deswegen unmöglich für den Erhalt der Galopprennbahn stimmen.
Der Reitsport wird bis heute dominiert von Reichen, von „Bonzen“. Es ist eine andere Art von „Bonzen“ wie die, die hinter dem JPMorgan-Lauf stehen, doch es sind und bleiben „Bonzen“. Mit primitiven demagogischen Parolen und Halbwahrheiten versuchen sie, die unzufriedenen und zukurzgekommenen dieser Stadt auf ihre Seite zu ziehen. Sicher auch viele derjenigen, die den JPMorgan-Lauf und die Lebensunart, die er repräsentiert, zum Würgen finden.
Für diese Lebensunart steht auch das neue DFB-Zentrum. Ich gebe es zu: Ich hasse den DFB inbrünstig und auch im Namen des Fußballsports erfreut man sich an der Qual und Abrichtung von Menschen, an denselben Werten, für die der JPMorganlauf steht. Doch beim Profifußball kommen immerhin keine unbeteiligten Zivilisten zu schaden und ich finde es bigott, sich jedes Wochenende begeistert die „Eintracht“ zu geben und dann gegen das neue DFB-Sportzentrum zu stimmen.
Man verstehe mich nicht falsch: Ich hasse den DFB wirklich zu sehr, um für ich zu stimmen oder gar zu seiner Unterstützung aufzurufen. Ich bin in der Hinsicht konsequent, da mich Fußball auch schlicht ebenso wenig wie der Reitsport interessiert. Ich werde daher diesen Sonntag einfach nicht zur Wahl gehen. Ich wäre dafür, dass man das Areal in einen schönen großen Park für Arbeiterfamilien, biertrinkende Hartzer und Rentner, händchenhaltende Liebende, Hundebesitzer, nachdenkliche Spaziergänger und von mir aus sogar Jogger umfunktioniert. Von mir aus sogar welche, die für den JPMorganlauf (den ich zu akzeptieren bereit bin so wie ich AIDS und Darmkrebs akzeptiere als Geiseln der Menschheit). Man könnte die armen alten Reitpferde hier aussetzen und ihnen eine letzte Heimat geben, die wenigstens ein Weniges an die große Freiheit der Steppe erinnert. Die Kinder würde es freuen und die Menschen könnten so auch selbst etwas von ihrer Urfreiheit, um die sie betrogen wurden, wiederentdecken. (Es gibt keinen erhabeneren Anblick als den eines freien Pferdes – doch um die zu sehen, darf man gerade nicht in die Galopprennbahn gehen.)
Aber diese Option steht nicht zur Wahl. Wieso schafft man sie nicht, indem man das Areal besetzt anstatt sich zu nützlichen Idioten der Tierquälermillionäre von der Galopprennbahn zu machen?
Der DFB will anscheinend wenigstens einen Teil des Areals in diesem Sinne der Öffentlichkeit freihalten, daher finde ich seinen Plan sympathischer als die Galopprennbahn. Doch auch damit werden mich diese Idioten nicht ködern genauso wenig, wie mich die Idioten von der Galopprennbahn ködern werden.
Es muss immer einen dritten Weg geben zwischen alter Barbarei und Neo-Barbarei und aus dem Ekel vor der Neo-Barbarei darf nicht automatisch die Verteidigung der alten gefolgert werden.