Im „Geisterkrieg“
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Weltgericht“ (Hegel)1)Dieser Artikel, der im März 2022 aus Anlass dieser Diskussionsrunde zum Thema entstand, ist angeregt von meinem intellektuellen Austausch mit meinem ukrainischen Kollegen Vitalii Mudrakov, mit dem zusammen ich kurz vor dem Krieg den Aufsatz Eine Revolution der Selbstüberwindung. Friedrich Nietzsche und die ukrainische Transformation verfasste, der in der kommenden Ausgabe der Nietzscheforschung erscheinen soll. In diesem Text argumentieren wir, dass es sich bei der in Deutschland nach wie vor, die Propaganda des Kremls aufgreifend, als „Putsch“ diffamierte „Orangene Revolution“ (2004/5) und den Maidan-Aufstand (2013/14) um echte revolutionäre Ereignisse handelte, die mit einer „Umwertung der Werte“ im Sinne Nietzsches führten: Weg von den Werten der „russischen Welt“, d. h. gelebter Korruption und Knechtschaft, hin zu gelebter Freiheit und Würde. Wie sich im Folgen zeigen wird, leugne ich nicht, dass es faschistische Tendenzen auch innerhalb der ukrainischen Bevölkerung gibt und dass dort der Westen oftmals sehr naiv betrachtet wird. Doch dies scheint mir nicht die herrschende Tendenz dieser Bewegung zu sein, die heute im Freiheitskampf gegen die russische Okkupation kulminiert.
I. Einleitende Gespensterkunde
Beim furchtbaren Angriffskrieg gegen die Ukraine, der sich zugleich immer mehr als rücksichtlos geführter Vernichtungskrieg gegen das ukrainische Volk entpuppt, haben wir es in einem doppelten Sinne mit einem „Geisterkrieg“2)Ich übernehme diese Metapher von Nietzsche, der in Ecce homo schreibt: „Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik“ (Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Studienausgabe Bd. 6. München 1999, S. 255–374; 366; Schicksal 1). zu tun. Zum einen bewahrheitet sich in ihm erneut Guy Debords These von der „Gesellschaft des Spektakels“ und Baudrillards vom „Simulacrum“. Ich möchte nicht behaupten, dass dieser Krieg nicht stattfinden würde und habe ja bereits eingangs deutlich gemacht, um was für einen Krieg es sich handelt. Dennoch kann der geradezu surreale Charakter dieses Krieges kaum geleugnet werden. Niemand sah ihn kommen, niemand weiß, was dort in der fernen Ukraine eigentlich gerade vor sich geht und niemand vermag zu prognostizieren, wie es jetzt weitergeht. Es ist ein Krieg der Propagandaagenturen, die alles versuchen, um den Gegner besonders monströs, die eigenen Opfer möglichst gering, die eigenen Siege möglichst großartig erscheinen zu lassen. Zwischen den Lügen und Desinformationen ist es unendlich schwer, glaubwürdige Fakten zu erkennen.
Doch selbst diese Fakten stehen nicht für sich, sondern werden sofort einsortiert in die Schemata ideologischer Interpretationen, Kriegsmaschinen des Geisterkrieges, die die wenigen verbürgten Tatsachen sofort in Geschosse der eigenen Sache verwandeln. Es sind drei hauptsächliche militärisch-ideologische Komplexe, die hier vor allem ihr Unwesen treiben. Der Krieg zeigt deutlich: Wir leben in gewisser Weise schon lange nicht mehr in einer gemeinsamen geteilten Welt. Wir haben es mit drei Welten zu tun, die jeweils von einer fundamental unterschiedenen Ontologie und normativen Ordnung getragen sind, die sich unvereinbar gegenüberstehen. Jede dieser Geisterwelten oder auch Weltgeister beansprucht absolute Gültigkeit und während in der banalen Realität die Soldaten und die Zivilisten kämpfen und sterben, erhebt sich darüber und darunter, ihr Treiben gleichsam spirituell umwehend, eine womöglich entscheidendere Schlacht, die das Schicksal der Menschheit für die kommenden Dekaden entscheiden wird. Wir sollten daher nichts unversucht lassen, um ein wenig Gespensterkunde zu betreiben: Mit welchen Weltgeistern haben wir es zu tun? Was sind die Formeln, mit denen sie sich beschwören oder auch austreiben lassen? Was sind die bösen Geister und was die guten?
Fußnoten
↑1 | Dieser Artikel, der im März 2022 aus Anlass dieser Diskussionsrunde zum Thema entstand, ist angeregt von meinem intellektuellen Austausch mit meinem ukrainischen Kollegen Vitalii Mudrakov, mit dem zusammen ich kurz vor dem Krieg den Aufsatz Eine Revolution der Selbstüberwindung. Friedrich Nietzsche und die ukrainische Transformation verfasste, der in der kommenden Ausgabe der Nietzscheforschung erscheinen soll. In diesem Text argumentieren wir, dass es sich bei der in Deutschland nach wie vor, die Propaganda des Kremls aufgreifend, als „Putsch“ diffamierte „Orangene Revolution“ (2004/5) und den Maidan-Aufstand (2013/14) um echte revolutionäre Ereignisse handelte, die mit einer „Umwertung der Werte“ im Sinne Nietzsches führten: Weg von den Werten der „russischen Welt“, d. h. gelebter Korruption und Knechtschaft, hin zu gelebter Freiheit und Würde. Wie sich im Folgen zeigen wird, leugne ich nicht, dass es faschistische Tendenzen auch innerhalb der ukrainischen Bevölkerung gibt und dass dort der Westen oftmals sehr naiv betrachtet wird. Doch dies scheint mir nicht die herrschende Tendenz dieser Bewegung zu sein, die heute im Freiheitskampf gegen die russische Okkupation kulminiert. |
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↑2 | Ich übernehme diese Metapher von Nietzsche, der in Ecce homo schreibt: „Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik“ (Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Studienausgabe Bd. 6. München 1999, S. 255–374; 366; Schicksal 1). |