Die Linke neu erfinden
Ein E-Mail-Dialog mit Atta Boy über den progressiven Neoliberalismus, die Neue Rechte und genuin „links-linke“ Antworten auf beide von Aufstehen bis Zusammenkommen, die DDR u. v. m.
Lieber Atta, danke, dass Du Dir die Zeit nimmst, mit mir einen E-Mail-Dialog zu dem Essay Streitschrift für eine Politisch Unkorrekte Links-Linke zu führen, die in diesem Jahr [2018] bei Edition Tsveyfl in Bonn erschienen ist. Der Untertitel des knapp 50 Seiten dicken Heftes lautet „P.U.L.L. – Die Strömung zum Aufbau eines differenzsensiblen Proletariats“. Es geht Dir also um eine Neuerfindung der Linken angesichts des gravierenden Rechtsrucks, den wir fast überall in den letzten Jahren beobachten konnten. Deine Grundidee lautet, dass sich die Linke, ob willentlich oder unwillentlich, für den Neoliberalismus hat instrumentalisieren lassen und sich nur erneuern kann, wenn sie mit dieser Instrumentalisierung bricht. Ich denke auch, dass in den letzten Jahren eine gravierende Verschiebung des Begriffs „links“ stattgefunden hat – heutzutage gilt als „links“ oder „emanzipatorisch“, was früher noch als bürgerlich-liberal gegolten hätte. Man wird dann vor die Wahl gestellt, entweder auf der „progressiven“ (also neoliberalen) oder eben rechten und mithin faschistischen Seite zu stehen. Im Grunde wird so den Rechten ja nur in die Hände gespielt, weil sie sich als die einzige Alternative zum Neoliberalismus profilieren können. Meine Frage zum Einstieg: Muss man sich angesichts der herrschenden Machtverhältnisse nicht vielleicht mit dem progressiven Neoliberalismus versöhnen – weil er ja immerhin besser als sein autoritärer Widerpart ist?
Also erstmals Danke für das Angebot zum Gespräch und Dein Interesse! Und jetzt muss ich bezugnehmend auf Deine erste Frage gleich anfangs heftig widersprechen.
Erstens: Es gibt keinen „progressiven“ Neoliberalismus. Für Österreich würde wohl am ehesten der Industrielle Peter Haselsteiner unter diese Kategorie fallen, da er sowohl die (neo-)liberale Klein-Partei „Neos“ mit Geld unterstützt als auch massiv gegen den FPÖ Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer in den Bundespräsidentschaftswahlkampf (zweiter entscheidender Wahlgang am 4.12.2016) zugunsten des „überparteilichen“ Kandidaten der Grünen interveniert hatte. Dabei ging es ihm primär darum, Angst vor einem EU-Austritt zu schüren, der im Fall des Falles seine eigenen Handels- und Wirtschaftsinteressen in massive Turbulenzen bringen hätte können. Seine politischen Interventionen sind völlig abgeebbt, seitdem ÖVP-Kanzler Kurz der FPÖ als erstes ein Lippenbekenntnis zur EU-Mitgliedschaft abgerungen hatte. In Folge ist ihm auch die aktuelle Politik der Schwarz-Blauen Regierung mit ihren Beschlüssen, die Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden auszuweiten, kein Dorn im Auge, das Gegenteil ist der Fall. Wir sehen also, dass die „progressiven“ Kräfte des Neoliberalismus überhaupt kein Problem haben sich mit dem kommenden Rechten Anstand auszusöhnen, solange sie ihre Profitinteressen nicht gefährdet sehen. Dieses ökonomische Kalkül bestimmt freilich auch breite Teile jener liberalen Mittel- und Oberschicht, die sich zur Not schlicht ins Private zurückziehen können, um dort – finanziell abgesichert – ihre Freiräume immer noch weiter zu leben, während das gesamt-gesellschaftliche Klima insgesamt deutlich reaktionärer geworden ist. Logischerweise folgt auch die Kulturindustrie und die Marketing-Strateg_innen allein den Profitflüssen und rechtlichen Regulierungen und nicht irgendeinem global-liberalen Idealismus. Der kommende Rechte Anstand und sein Tugendterror ist eben nicht der Widerpart, sondern allein die lange Zeit unsichtbare Unterseite des tödlichen Eisberges der zeitgenössischen kapitalistischen und kulturellen Formen.
Zweitens: Hier sind wir an der wohl schmerzhaftesten Stelle, diese Konstellation bzw. diese äußerst intelligible Erzählung verweist auf die völlige Irrelevanz von linken Standpunkten. Spätestens mit dem Einknicken von Tsipras nach dem überwältigten OXI der griechischen Bevölkerung ist Tachers Ausspruch „there is no alternative“ erneut real-politisch extrem übermächtig geworden (Lesenswert dazu: https://mosaik-blog.at/drei-jahre-oxi-griechenland-hoffnung-europa-scheitern-bilanz/). Wir sind als Linke gegenwärtig schlicht nicht mehr greifbar als glaubwürdige und effektive Alternative. Seitdem Donald Trump die Präsidentschaftswahl (8. 11. 2016) für sich entschieden hatte, gibt es den Versuch eine Erzählung mittlerer Reichweite zu kreieren, die von wirtschafts- und gesellschaftsliberalen Kräften ins Spiel gebracht wurde und auf eine angebliche Frontstellung des globalen (Neo-)Liberalismus, der sogenannten offenen Gesellschaft (Karl Popper) mit lokal-nationalen reaktionären, protektionistische Kräften zielt. Tatsächlich war ein Gastbeitrag „Alles so schön hyper“ des deutschen Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz in der Zeit vom 15.6.2016 (https://www.zeit.de/2016/51/identitaet-diversitaet-kulturen-kampf) so etwas wie der Initialzünder für meine Streitschrift. Er beschreibt eine angebliche Frontstellung von globaler „Hyperkultur“ auf der einen Seite und lokalem „Kulturessenzialismus“ auf der anderen. Dabei würden Links- und Neoliberale näher zusammenrücken sowie all jene reaktionären Kräfte aller Couleur, die im Gegenzug eine „Dekadenz des Westens“ beklagen. Wenn wir uns aus (radikal)linker Perspektive damit zufrieden geben, haben wir bereits den Kopf in den Sand gesteckt. Auch das ist eine Möglichkeit, sich von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen. Das wäre allerdings kein Eingeständnis in die eigene Niederlage, sondern allein ihr Verdrängen.
Wir befinden uns heute in einer seltsamen historischen Situation, die einerseits durch die Übernahme von Elementen eines freiheitlichen Sozialismus der 68er auf lebensweltlicher Ebene gekennzeichnet ist, also sich auf eine enormes Individualisierungs- und Distinktionsbedürfnis stützt und in der andererseits der Slogan „Es gibt keine Gesellschaft, sondern nur Individuen“ massiv propagiert wird und die Prinzipien des kapitalistischen Konkurrenzkampfes nicht nur gesamtgesellschaftlich auf Makroebene arbeiten, sondern auch in die kleinsten Poren des Sozialen eingedrungen sind.
Mein Zugang war tatsächlich auch der genau umgekehrte als jener der sich in Deiner Frage ausdrückt: Nicht quasi instinktiv der liberalen Erzählung folgen, weil die des kommenden Rechten Anstandes dermaßen eklig ist, dass man damit erst gar nicht in Berührung kommen will. Sondern dem Erfolg der neuen Rechten erst einmal jene faktische Anerkennung zollen, die er auch verdient und sich vor allem ein Stück weit auf ihre Erzählungen einlassen. Denn wenn sie nicht an zumindest einen realen
Aspekt der gegenwärtigen politischen Konstellation anschließen könnte, wäre sie nicht derart erfolgreich. Volker Weiß hat in einem Vortrag zu seiner Analyse „Die autoritäre Revolte“ deutlich gemacht, dass die frühen Exponenten der sogenannten „Neuen Rechten“ als Ausgangspunkt ihrer ideologischen Erneuerung das Eingeständnis in ihre historische Niederlage gesetzt hatten. Das finde ich einen sehr spannenden Punkt. Die Niederlagen der Linken sind freilich nicht allein militärischer Natur gewesen, sondern deutlich komplizierter und ziehen sich über einen deutlich längeren Zeitraum. Einerseits wurden ihre Ideale, Begriffe und Praktiken spätestens durch den Stalinismus von innen ausgehöhlt und verloren dadurch massiv an Glaubwürdigkeit, andererseits war das Fortbestehen der realsozialistischen Länder bis zu den 1990er Jahren paradoxerweise ein Garant dafür, diesen Ideen in der kapitalistischen Welt mehr Durchsetzungskraft zu bieten und sie realpolitisch abzusichern. Was danach kam, wissen wir. Das Ende der Geschichte und der Triumph des liberal-demokratischen Machtblocks, der sich in den kapitalistischen Zentren ab den späten 1970er Jahren gegen den Keynesianismus durchgesetzt hatte. Die 68er-Bewegung wurde für diesen Prozess nachträglich zum kulturellen Katalysator, in dem die neue Linke dann ebenfalls scheitern musste.
Ich spreche in Bezug auf die heutige Situation aus linker Sicht von einem höchst ambivalenten Erbe bzw. plädiere ich dafür, diese Entwicklung als klare Niederlage zu deuten und nicht als langsamer Triumph von Gleichberechtigung und neuen Freiheitsgewinnen, die von linker Seite in die liberal-demokratischen Institutionen hineingetragen wurde. Ich plädiere dafür, an Walter Benjamins Geschichtsbegriff anzuknüpfen, der die Perspektive der Unterdrückten und der Hoffnungslosen einnimmt und orientiere mich an der Dialektik der Aufklärung, anhand der nachvollziehbar wird, wie potentielle Progressivität immer wieder einkassiert wird und in Herrschaft umschlägt.
Die Rechte hat ihre Niederlage und die der Linken deutlich früher erkannt (freilich durch ihre Phantasmagorien hindurch betrachtet) und ihre Taktik verändert, während die Linke in breiten Teilen bis heute nicht bereit ist, sich ihr historisches Versagen einzugestehen. Während wir also noch in der liberalen Endzeit der Geschichte festsitzen, hat die Rechte begonnen wieder Geschichte zu machen und ist momentan dabei eine reaktionäre Internationale aufzubauen. (Weiterlesen)